Der Unfall

»... Und ich sage Ihnen, es ist dieselbe Frau! Gar kein Zweifel.«

Kapitan Haydock blickte in das lebhaft interessierte Gesicht seines Freundes und seufzte. Er wunschte, Evans ware mit seinen Urteilen nicht immer so schnell bei der Hand. Wahrend seiner vielen Jahre auf See hatte der alte Kapitan gelernt, die Dinge, die ihn nichts angingen, ruhen zu lassen.

Sein Freund Evans, ehemaliger Kriminalinspektor, hatte eine andere Philosophie. »Nach erhaltenen Informationen handeln«, das war sein Motto in fruheren Tagen gewesen. Und er hatte es jetzt derart ausgebaut, da? er sich die Informationen selbst beschaffte. Evans war ein tuchtiger Beamter gewesen, und er war auch dementsprechend befordert worden. Sogar jetzt, da er pensioniert war und sich in einem Landhaus zur Ruhe gesetzt hatte, war er der alte geblieben.

»Ich vergesse nicht leicht ein Gesicht«, wiederholte er immer wieder selbstzufrieden. »Mrs. Anthony, ja, es ist ganz sicher Mrs. Anthony. Als Sie sagten Mrs. Merrowdene, erkannte ich sie sofort.«

Kapitan Haydock rutschte unbehaglich hin und her. Die Merrowdenes waren, von Evans abgesehen, seine nachsten Nachbarn. Und die Identifizierung von Mrs. Merrowdene als Hauptperson eines fruheren Sensationsprozesses war ihm unangenehm.

»Es ist schon lange her«, sagte er etwas lahm.

»Neun Jahre«, entgegnete Evans, akkurat wie immer, »neun Jahre und drei Monate. Erinnern Sie sich an den Fall?«

»Ziemlich genau.«

»Es stellte sich heraus, da? Mr. Anthony ofters kleinere Mengen Arsen zu sich nahm«, erinnerte ihn Evans. »Deshalb hat man sie freigesprochen.«

»Warum hatte man es auch nicht tun sollen?«

»Es war das einzige Urteil, das man auf Grund des Beweismaterials fallen konnte. Durchaus korrekt.«

»Dann ist es ja in Ordnung«, sagte Haydock. »Und ich sehe nicht ein, weshalb wir uns noch damit herumqualen.«

»Wer qualt sich denn?«

»Ich dachte, Sie.«

»Aber keine Spur«, meinte Evans heiter.

»Die Geschichte ist vorbei und zu Ende«, fa?te Kapitan Haydock zusammen. »Wenn Mrs. Merrowdene in ihrem Leben einmal das Ungluck hatte, wegen Mordes vor Gericht gestellt und freigesprochen zu werden -«

»Normalerweise betrachtet man es nicht als Ungluck, wenn man freigesprochen wird«, unterbrach Evans.

»Sie verstehen schon, wie ich es meine«, entgegnete Haydock unwillig. »Wenn die arme Frau eine so schreckliche Geschichte durchmachen mu?te, kommt es uns nicht zu, sie wieder aufzurollen, nicht wahr?«

Evans schwieg.

»Aber Evans, die Frau war unschuldig. Sie haben es eben selbst gesagt.«

»Ich sagte nicht, sie war unschuldig. Ich sagte, sie wurde freigesprochen.«

»Das ist doch dasselbe.«

»Nicht immer.«

Haydock hatte gerade begonnen, seine Pfeife am Stuhl auszuklopfen. Er unterbrach seine Tatigkeit und setzte sich

5 mit einem Ruck auf.

»Hallo, hallo«, rief er. »Also daher weht der Wind. Sie glauben, da? sie nicht unschuldig war?«

»Das mochte ich nicht sagen. Ich ... nun, ich wei? es nicht. Anthony hatte die Gewohnheit, Arsen zu nehmen. Seine Frau besorgte es fur ihn. Eines Tages, durch ein Versehen, nahm er zuviel. War es sein Fehler oder der seiner Frau? Niemand konnte es sagen, und die Geschworenen entschieden zu ihren Gunsten. Das ist vollig richtig, und ich finde keinen Fehler darin. Trotz alledem - ich wurde es gern genau wissen.«

Kapitan Haydock beschaftigte sich wieder mit seiner Pfeife. »Nun«, meinte er behaglich, »das geht uns nichts an.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Aber gewi? -«

»Horen Sie mir einen Augenblick zu«, bat Evans. »Sie erinnern sich, wie Mr. Merrowdene neulich abends in seinem Laboratorium herumexperimentierte -«

»Ja. Er erwahnte den Marshschen Test fur Arsen. Er sagte, Sie wu?ten alles daruber, es lage auf Ihrer Linie - und kicherte dabei. Er wurde das nicht gesagt haben, wenn er auch nur einen Augenblick vermutet hatte -« Evans unterbrach ihn.

»Sie meinen, er hatte es nicht gesagt, wenn er etwas wu?te. Wie lange sind doch die beiden jetzt verheiratet, sagen Sie? Sechs Jahre? Ich gehe jede Wette ein, da? er keine Ahnung hat, da? seine Frau einst die beruchtigte Mrs. Anthony war.«

»Und er wird es von mir gewi? nicht erfahren«, sagte Haydock mit Nachdruck.

Evans kummerte sich nicht um ihn, sondern fuhr fort: »Sie haben mich gerade unterbrochen. Im Anschlu? an den Marshschen Test erhitzte Merrowdene eine Substanz in einem Reagenzglas, den metallischen Ruckstand loste er in

Wasser und prazipitierte ihn durch Beifugung von Silbernitrat. Das war eine Probe auf Chlorate. Ein kleiner, bescheidener, hubscher Test. Aber ich konnte zufallig die Worte in einem Buch lesen, das offen auf dem Tisch lag: >H2SO4 zersetzt Chlorate durch Entwicklung von Cl4O2. Erhitzt man es, entstehen starke Explosionen. Die Mixtur sollte daher kuhl gehalten und nur in kleinsten Mengen verwendet werden.««

Haydock starrte seinen Freund verstandnislos an.

»Ja, und?«

»Nichts weiter. In meinem Beruf macht man auch Tests. Tests fur Morde. Man zahlt die Tatsachen zusammen, wagt sie ab, zerlegt den Rest, nachdem man Voreingenommenheit und durchschnittliche Ungenauigkeit von Zeugen berucksichtigt hat. Aber es gibt einen anderen Test fur Mord, einen, der ziemlich genau ist, aber auch ziemlich gefahrlich. Ein Morder gibt sich selten mit einem Verbrechen zufrieden. La?t man ihm Zeit, und fuhlt er sich unbeobachtet, wird er einen neuen veruben. Man fangt einen Mann, den man des Mordes an seiner Frau verdachtigt. Vielleicht sahe der Fall gar nicht so schwarz fur ihn aus. Dann schaut man sich seine Vergangenheit an. Findet man heraus, da? er schon ofter verheiratet war und da? alle seine Frauen starben, dann sagt man sich, recht eigenartig, nicht wahr? Dann wei? man es. Nicht juristisch, verstehen Sie? Ich spreche von einer inneren Gewi?heit. Wenn man die hat, kann man anfangen, nach Beweisen zu suchen.«

»Und?«

»Ich komme schon zu dem entscheidenden Punkt. Es geht in dieser Form naturlich nur, wenn es eine Vergangenheit gibt, in der man wuhlen kann. Aber angenommen, Sie fangen Ihren Morder bei seinem ersten Verbrechen? Dann ware dieser Test sinnlos. Der Gefangene wird freigesprochen. Er fangt das Leben mit einem anderen Namen neu an. Wird der Morder das Verbrechen wiederholen, ja oder nein?«

»Das ist eine schreckliche Idee!«

»Sagen Sie immer noch, es ginge uns nichts an?«

»Jawohl, das sage ich. Sie haben keinen Grund, Mrs. Merrowdene zu verdachtigen.«

Der Ex-Inspektor schwieg einen Moment. Dann sagte er:

»Ich erzahle Ihnen, da? wir uns mit ihrer Vergangenheit beschaftigten und nichts fanden. Das ist nicht ganz richtig. Sie hatte einen Stiefvater. Als Madchen von achtzehn Jahren liebte sie einen jungen Mann, mit dem der Stiefvater nicht einverstanden war. Eines Tages ging sie mit ihrem Stiefvater an einem recht gefahrlichen Teil der Klippen spazieren. Da passierte ein Unfall, Der Stiefvater ging zu nahe an den Rand, der brockelte ab, und der Mann fiel hinunter und war tot.«

»Sie glauben doch nicht etwa .«

»Es war ein Unfall! Anthonys Uberdosis von Arsen war auch ein Unfall. Sie ware

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