Vorteil zu schopfen. Er ist ihr hilflos in die Hand gegeben. Sie nutzt die Situation nach Kraften aus. Und dann erfolgt das Unabwendbare. Jack Renauld verliebt sich in das schone Madchen, das er fast taglich sieht, und will es heiraten. Dies regt seinen Vater auf. Um jeden Preis will er die Verbindung seines Sohnes mit der Tochter jenes schlechten Weibes verhuten. Jack Renauld kennt die Vergangenheit seines Vaters nicht, doch Madame Renauld wei? alles. Sie ist eine Frau von besonderer Charakterstarke und ihrem Gatten leidenschaftlich zugetan. Sie beraten miteinander. Renauld sieht nur einen Ausweg - den Tod. Er mu? scheinbar sterben, in Wirklichkeit aber in ein fernes Land fluchten, wo er nochmals unter anderem Namen von neuem beginnen will, wohin Madame Renauld ihm folgen soll, nachdem sie eine Zeitlang die Witwenrolle gespielt hat. Es ist sehr wesentlich, da? sie uber das Geld zu verfugen hat, daher andert er sein Testament. Wie sie sich ursprunglich mit dem Leichnam aus der Affare ziehen wollten, wei? ich nicht - vielleicht mit Hilfe eines medizinischen Skelettes und eines Feuers - oder sonst irgendwie, aber lange, ehe ihre Plane gereift waren, ereignete sich ein Zwischenfall, der ihnen in die Hande arbeitet. Zufallig gerat ein Landstreicher, ein gewalttatiger Raufbold, in den Garten. Es kommt zu einem Kampf, Renauld bemuht sich, ihn zu verjagen, und plotzlich sinkt der Landstreicher zu Boden, von epileptischem Krampf befallen. Und stirbt. Renauld ruft seine Frau herbei. Gemeinsam schleppen sie den Toten in den Schuppen - wie wir wissen, hatte sich der Vorfall im Freien abgespielt - und sie merken, welch wunderbar gunstige Gelegenheit sich ihnen bietet. Der Mann sieht Renauld durchaus nicht ahnlich, aber er ist in mittleren Jahren, ein alltaglicher franzosischer Typ. Das genugt.
Ich stelle mir etwa vor, da? sie auf jener Bank dort sa?en, au?erhalb der Horweite des Hauses, und die Angelegenheit besprachen. Ihr Plan war bald gefa?t. Die Identifizierung mu?te sich allein auf Madame Renaulds Zeugnis stutzen. Jack Renauld und der Chauffeur, der seit zwei Jahren in Renaulds Diensten stand, mu?ten entfernt werden. Es war unwahrscheinlich, da? die weibliche Dienerschaft in die Nahe der Leiche ging, und fur jeden Fall beabsichtigte Renauld, Ma?nahmen zu treffen, um jene hinters Licht zu fuhren, die keinen guten Blick fur Einzelheiten haben. Masters wurde weggeschickt, ein Telegramm an Jack abgesandt, Buenos Aires gewahlt, um der Geschichte, fur die Renauld sich entschlossen hatte, Glaubwurdigkeit zu verleihen. Da er von mir als einem ziemlich bekannten Detektiv gehort hatte, richtete er diesen Hilferuf an mich; er war sich wohl bewu?t, da? bei meiner Ankunft die Vorweisung des Briefes einen tiefen Eindruck auf den Untersuchungsrichter machen wurde - was auch zutraf.
Sie kleideten den toten Landstreicher in einen Anzug Renaulds und lie?en seine zerlumpten Kleidungsstucke bei der Tur des Schuppens zuruck, da sie es nicht wagten, sie mit sich ins Haus zu nehmen. Und dann, um der Erzahlung, die Madame Renauld vorzubringen hatte, Glaubwurdigkeit zu verleihen, stie?en sie ihm noch den Dolch ins Herz. In der folgenden Nacht wollte Renauld erst seine Frau fesseln und knebeln und dann mit einem Spaten ein Grab in jenem besonderen Teil des Grundes graben, wo, wie er wu?te, ein -wie nennt ihr es doch? - Bunker gemacht werden sollte. Es war von gro?er Wichtigkeit, da? die Leiche gefunden wurde -Madame Daubreuil durfte keinen Verdacht schopfen. Andererseits verringerte sich die Gefahr bei der Identifizierung, wenn unterdessen einige Zeit verstrichen war. Dann wollte Renauld die Lumpen des Landstreichers anlegen, zum Bahnhof eilen und mit dem Zug um 12.10 Uhr unbemerkt entkommen. Da angenommen werden sollte, da? das Verbrechen zwei Stunden spater stattfand, konnte keinerlei Verdacht auf ihn fallen.
Du siehst nun, wie sehr ihn der ungelegene Besuch jener Bell beunruhigte. Jeder Augenblick Verzogerung konnte seinen Planen verhangnisvoll werden. Doch er entledigte sich ihrer so bald als moglich. Und dann ans Werk! Er la?t den Haupteingang halb offen, um den Eindruck zu erwecken, da? die Morder auf diesem Wege das Haus verlie?en. Er fesselt und knebelt Madame Renauld, verbessert aber den vor zwanzig Jahren begangenen Fehler, wo die zu locker gebundenen Stricke den Verdacht der Mittaterschaft erregt hatten, instruiert sie im wesentlichen mit der gleichen Erzahlung, die er damals erfunden hatte, wodurch er unbewu?t mangelhafte Originalitat beweist. Die Nacht ist kalt, und er zieht einen Mantel uber seine Unterkleider, in der Absicht, ihn zu dem Toten in das Grab zu legen. Er verla?t das Haus durch das Fenster und glattet sorgfaltig das Blumenbeet, wodurch er den sichersten Beweis gegen sich erbringt. Er begibt sich zu den einsamen Golfplatzen und grabt - und dann -«
»Nun?«
»Und dann«, sagte Poirot ernst, »erreichte ihn die Gerechtigkeit, der er so lange entgangen war. Eine unbekannte Hand sticht ihn in den Rucken ... Nun, Hastings, verstehst du, was ich meinte, als ich von zwei Verbrechen sprach. Das erste Verbrechen, jenes Verbrechen, das Monsieur Giraud in seinem Hochmut uns zu untersuchen uberlie? (ah, welch grenzenlosen Irrtum beging er da! Wie verkannte er Hercule Poirot!), dies Verbrechen ist aufgedeckt. Aber dahinter liegt ein tieferes Ratsel. Und es wird schwer sein, es zu losen - da der Verbrecher in seiner Klugheit sich darauf beschrankte, die Plane M. Renaulds zu verwenden. Es galt, ein ganz verbluffendes, verwirrendes Geheimnis zu losen. Ein junger Mann wie Giraud, der in Psychologie kein Vertrauen setzt, mu?te fast sicher unterliegen.«
»Du bist gro?artig, Poirot«, sagte ich voll Bewunderung.
»Herrlich wie kein Zweiter! Auf der ganzen Welt hattest nur du das zustande gebracht!«
Ich glaube, mein Lob freute ihn. Denn zum erstenmal im Leben schien er verlegen.
»Du verachtest also nicht langer mehr den armen, alten Papa Poirot? Du kundigst dem menschlichen Spurhund die Treue?«
Diese Bezeichnung fur Giraud entlockte mir immer ein Lacheln.
»Eigentlich ja. Du hast ihn restlos besiegt.«
»Der arme Giraud«, sagte Poirot und versuchte erfolglos bescheiden dreinzuschauen, »daran ist nur seine Dummheit schuld. Er hatte ein- oder zweimal Pech. Zum Beispiel das dunkle Haar, das um den Dolch geschlungen war. Das wenigste, was man daruber sagen kann, ist, da? es irrefuhrte.«
»Um die Wahrheit zu gestehen, Poirot«, sagte ich langsam, »ich wei? noch immer nicht, wessen Haar es war?«
»Naturlich von Madame Renauld. Daher kam das Pech. Ihr ursprunglich dunkles Haar ist schon fast vollig silbergrau. Ebensogut hatte ein graues Haar gefunden werden konnen -und dann ware es Giraud trotz der denkbar gro?ten Muhe nicht moglich gewesen, sich einzureden, da? dies Haar vom Kopfe Jack Renaulds komme! Aber es ist immer das gleiche. Immer werden Tatsachen verzerrt, um sie der Theorie anzupassen. Fand Giraud nicht zweierlei Fu?spuren in der Hutte, die Spuren eines Mannes und einer Frau? Und wie pa?t das in seine Rekonstruktion des Falles? Ich will es dir sagen. Es pa?t nicht hinein, daher werden wir nichts mehr davon horen! Ich frage dich, nennt man das systematisch arbeiten? Der gro?e Giraud! Der gro?e Giraud ist nichts anderes als ein Luftballon, von seiner eigenen Wichtigkeit geschwellt. Aber ich, Hercule Poirot, den er verachtet, werde die kleine Nadel sein, die den gro?en Ballon durchsticht ... so!« Und er machte die begleitende Geste dazu.
Dann fuhr er ruhiger fort: »Madame Renauld wird gewi? sprechen, wenn sie sich erholt hat. Die Moglichkeit, da? ihr Sohn des Mordes bezichtigt werden konnte, kam ihr niemals in den Sinn. Wie hatte das ihr auch einfallen sollen, da sie ihn sicher auf See, an Bord der ,Anzona' wahnte. Ah, welch eine Frau ist das, Hastings! Welche Kraft, welche Selbstbeherrschung! Nur einmal beging sie einen Fehler. Bei seiner unverhofften Ruckkehr: Jetzt - ist es alles eins.' Und niemandem fiel die Bedeutung dieser Worte auf. Welche schreckliche Rolle war ihr zugefallen, der armen Frau. Stelle dir ihr Entsetzen vor, als sie ging, den Leichnam zu identifizieren, und statt des erwarteten untergeschobenen den wirklich entseelten Korper ihres Gatten vor sich sah, des Gatten, den sie schon meilenweit fern glaubte. Kein Wunder, da? sie ohnmachtig wurde! Aber seither ... wie fest entschlossen spielte sie trotz ihres Schmerzes und ihrer Verzweiflung ihre Rolle weiter, und welche Qualen mu? sie getragen haben! Sie kann kein Wort sagen, um uns auf die Spur der wirklichen Morder zu weisen. Um ihres Sohnes willen darf niemand wissen, da? Paul Renauld kein anderer war als Georges Conneau, der Verbrecher. Schlie?lich, und als bittersten Schlag, gab sie offentlich zu, Madame Daubreuil ware ihres Gatten Geliebte gewesen - denn eine Anspielung auf Erpressung hatte ihrem Geheimnis verhangnisvoll werden konnen. Wie klug wu?te sie dem Untersuchungsrichter zu begegnen, als er sie fragte, ob es in dem Leben ihres Mannes kein Geheimnis gegeben habe.
»Nichts so Romantisches, denke ich, Monsieur.« Vollendet waren ihr nachsichtiger Tonfall, der Anflug trauriger Ironie. Sogleich kam sich Hautet lacherlich melodramatisch vor. Ja, sie ist eine bedeutende Frau! Wenn sie einen Verbrecher liebte, so liebte sie ihn, als ware sie eine Konigin!«
Poirot verlor sich in Betrachtungen.
»Noch etwas, Poirot, was hat es fur ein Bewandtnis mit dem Stuckchen Bleirohr?«
»Siehst du das nicht? Um das Gesicht des Opfers so zu verunstalten, da? es unkenntlich wurde. Das zuerst wies mich auf die richtige Spur. Und Giraud, dieser Dummkopf, der daruber hinwegschwarmte, um nach angebrannten Zundholzenden zu suchen! Sagte ich dir nicht, da? ein zwei Fu? langer Schlussel ebensoviel wert