»Ausgezeichnet, Mr. Aaron, ich suche namlich ein Madchen namens Bella Duveen.«
»Bella Duveen. Ich kenne den Namen, ich wei? ihn nur augenblicklich nicht unterzubringen. Was ist ihr Fach?«
»Das wei? ich nicht - doch hier ist ihre Fotografie.«
Mr. Aaron betrachtete sie eine Weile, dann hellte sein Gesicht sich auf.
»Hab's schon.« Er schlug sich auf die Schenkel. »Die Duleibella Kids, bei Gott!«
»Die Duleibella Kids?«
»So ist es. Es sind Schwestern. Akrobatinnen, Tanzerinnen und Sangerinnen. Nette kleine Varietenummer. Ich glaube, sie durften jetzt irgendwo in der Provinz sein -wenn sie nicht gerade Erholungsurlaub nahmen. Die letzten zwei, drei Wochen waren sie in Paris.«
»Konnen Sie mir ganz genau ausfindig machen, wo sie sind?«
»Nichts leichter als das. Gehen Sie jetzt nach Hause, und morgen fruh horen Sie von mir.«
Nach diesem Versprechen verabschiedeten wir uns. Man konnte sich auf sein Wort verlassen. Am nachsten Tage gegen elf Uhr erhielten wir ein gekritzeltes Billett.
»Die Schwestern Duleibella spielen im ,Palace' in Coventry. Gluckauf!«
Ohne weiteren Verzug begaben wir uns nach Coventry. Poirot erkundigte sich nicht erst im Theater, sondern loste Sperrsitze fur die Abendvorstellung des Varietes.
Die Vorfuhrungen waren uber alle Ma?en langweilig -oder vielleicht lie? meine Stimmung sie nur so scheinen. Japanische Familien balancierten die verschiedensten Dinge mit verbluffender Sicherheit, elegantseinsollende Manner, in grunlichen Abendanzugen und mit vorzuglich geglattetem Haar, stampften moderne Tanze in prachtvoller Vollendung. Umfangreiche Primadonnen sangen bis in die hochsten Hohen menschlicher Register, und ein Komiker bemuhte sich mit wechselndem Erfolg.
Endlich wurde die Nummer aufgezogen, welche die Duleibella Kids ankundigte. Mein Herz schlug zum Zerspringen. Da war sie - oder eigentlich, da waren beide, ein Geschwisterpaar, die eine flachshaarig, die andere dunkel, gleich gro?, mit kurzen duftigen Rockchen und riesenhaften braunen Schleifen. Sie sahen wie zwei sehr pikante Kinder aus. Sie begannen zu singen. Ihre Stimmen klangen frisch und echt, etwas dunn und varietema?ig zwar, aber sympathisch.
Es war eine recht hubsche kleine Abwechslung. Sie tanzten niedlich und vollfuhrten einige geschickte, kleine Akrobatenkunststucke. Die Texte ihrer Lieder waren frisch und gefallig. Als der Vorhang fiel, klang lauter Beifall. Die Duleibella Sisters waren offenbar ein Erfolg.
Plotzlich war mir, als konne ich nicht langer bleiben. Ich mu?te an die Luft hinaus. Ich schlug Poirot vor, den Saal zu verlassen.
»Aber selbstverstandlich, mon ami. Ich unterhalte mich und mochte bis zum Schlu? bleiben. Ich folge dir spater.«
Vom Theater bis zum Hotel waren nur wenige Schritte. Ich ging in die Halle, bestellte Soda mit Whisky und starrte nachdenklich in den leeren Kamin, wahrend ich das Getrank schlurfte. Ich horte, da? die Tur geoffnet wurde, und wandte den Kopf, in der Meinung, es sei Poirot. Dann sprang ich auf. Auf der Schwelle stand Cinderella.
»Ich sah Sie ganz vorn sitzen. Sie und Ihren Freund. Als Sie aufstanden, um fortzugehen, wartete ich drau?en und folgte Ihnen. Weshalb kamen Sie nach Coventry? Was suchten Sie heute abend hier? War jener Mann neben Ihnen der Detektiv?«
Sie stand dort, und der Mantel, den sie uber ihr Buhnenkostum geworfen hatte, glitt von ihren Schultern. Ich sah die Blasse ihrer Wangen unter der Schminke und horte die Angst aus ihrer Stimme. Und in diesem Augenblick verstand ich alles - verstand, weshalb Poirot sie suchte, verstand, was sie befurchtete, und verstand endlich auch mein eigenes Herz
»Ja«, sagte ich freundlich.
»Sucht er - nach mir?« fragte sie flusternd.
Dann, als ich nicht sofort antwortete, glitt sie an dem gro?en Fauteuil nieder und brach in heftiges, bitterliches Schluchzen aus.
Ich kniete neben ihr, nahm sie in die Arme und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Weinen Sie nicht, Kind, weinen Sie nicht, um Gottes willen. Hier sind Sie sicher. Ich will Sie schutzen. Weinen Sie nicht, Liebling. Weinen Sie nicht. Ich wei? - ich wei? alles.«
»O nein, sicher nicht!«
»Ich glaube doch.«
Und einen Augenblick spater, als ihr Schluchzen nachlie?, fragte ich: »Sie nahmen doch den Dolch, nicht wahr? Und deshalb verlangten Sie von mir, herumgefuhrt zu werden? Und deshalb gaben Sie vor, in Ohnmacht zu fallen?«
Wieder nickte sie. Welch sonderbarer Einfall, damals zu mir zu kommen. Wie tapfer hatte sie an jenem Tage ihre Rolle durchgefuhrt, wo sie doch innerlich bebend Folterqualen litt. Armes kleines Herz, das nun die Last einer im Impuls begangenen Tat zu tragen hatte.
»Weshalb nahmen Sie den Dolch?« fragte ich jetzt.
Sie antwortete einfach, wie ein Kind: »Ich furchtete, es konnten Fingerabdrucke darauf gefunden werden.«
»Erinnerten Sie sich denn nicht mehr, da? Sie Handschuhe trugen?«
Sie schuttelte verblufft den Kopf und sagte langsam: »Werden Sie mich der Polizei angeben?«
»Gutiger Gott, nein!«
Ihre Augen suchten die meinen und blickten mich lange und ernsthaft an, dann fragte sie mit leiser schuchterner Stimme, als hatte sie Angst vor sich selbst: »Warum nicht?«
Es war wohl nicht der Ort und nicht die Zeit fur eine Liebeserklarung - und Gott wei?, mein Leben lang hatte ich mir nicht vorgestellt, da? die Liebe in dieser Art uber mich kommen werde.
Aber nun antwortete ich schlicht: »Weil ich Sie liebe, Cinderella.«
Sie neigte wie verschamt den Kopf und flusterte beinahe tonlos: »Das konnen Sie nicht - nein, das konnen Sie nicht -wenn Sie wissen -« Und dann, als ob sie sich gefa?t hatte, trat sie mir trotzig entgegen und fragte: »- Was wissen Sie denn uberhaupt?«
»Ich wei?, da? Sie Monsieur Renauld aufgesucht haben. Er bot Ihnen einen Scheck, den Sie entrustet in Stucke rissen. Dann verlie?en Sie das Haus -« Ich hielt inne.
»Weiter - was dann?«
»Ich wei? nicht, ob Ihnen bekannt war, da? Jack Renauld in jener Nacht kommen wurde, oder ob Sie auf gut Gluck auf die Gelegenheit warteten, ihn zu sehen - aber jedenfalls warteten Sie. Vielleicht fuhlten Sie sich gerade recht unglucklich und gingen planlos hin und her - jedenfalls waren Sie vor zwolf Uhr noch in nachster Nahe und erblickten einen Mann auf dem Golfplatz -«
Wieder hielt ich inne. Ich hatte die Wahrheit blitzartig erfa?t, als sie ins Zimmer getreten war. Hier nun nahm das Bild immer deutlichere Formen an. Ich sah das eigenartige Muster des Mantels vor mir, mit dem der Leichnam Monsieur Renaulds bekleidet war, und mir fiel die verbluffende Ahnlichkeit ein, die, als der Sohn in unsere Versammlung im Salon einbrach, mich erschreckte, weil ich einen Augenblick lang dachte, der Ermordete sei von den Toten auferstanden.
»Weiter«, drangte das junge Madchen.
»Ich stelle mir vor, sein Rucken war Ihnen zugewandt und Sie erkannten ihn - oder glaubten ihn zu erkennen. Sein Gang war Ihnen vertraut, ebenso das Muster seines Mantels.« Ich hielt inne. »Sie erzahlten mir auf unserer gemeinsamen Fahrt von Paris, da? Sie italienisches Blut in den Adern hatten, wodurch Ihnen schon einmal beinahe gro?e Unannehmlichkeiten erwachsen waren. Sie drohten Jack Renauld in einem Ihrer Briefe. Als Sie ihn dort erblickten, steigerte sich Ihre Wut und Eifersucht zum Wahnsinn - und Sie stie?en zu. Ich glaube keinen Augenblick, da? es Ihre Absicht war, ihn zu toten. Aber Sie toteten ihn, Cinderella.«
Sie bedeckte ihr Antlitz mit den Handen und sagte mit erstickter Stimme: »Sie haben recht ... Sie haben recht ... Ich sehe es vor mir, wie Sie es erzahlen.« Und beinahe wild fuhr sie fort. »Und Sie lieben mich? Trotz allem lieben Sie mich?«
»Ich wei? nicht«, sagte ich ein wenig unsicher. »Ich denke, die Liebe ist nun einmal so - ein Ding, wogegen es keine Hilfe gibt. Ich versuchte, dagegen anzukampfen vom Tage unserer ersten Begegnung an. Aber die Liebe war starker als ich.«