»Ah, Sapristi! Du verlangst ja Wunder von mir! Nein -kein Wort weiter. Sehen wir lieber nach, was da drin steht.«
Er zog den Brief aus der Brusttasche.
Wahrend des Lesens verzog er das Gesicht, dann reichte er mir das dunne Briefblatt.
»Auch andere Frauen leiden, Hastings!«
Die Schriftzuge waren verschwommen, und der Brief schien in gro?er Erregung zu Papier gebracht.
»Lieber M. Poirot!
Ich bitte Sie, mir nach Erhalt dieses Briefes zu Hilfe zu kommen. Ich wei? niemanden, an den ich mich wenden konnte, und Jack mu? gerettet werden, koste es, was es wolle. Ich flehe auf meinen Knien, bitte, helfen Sie uns.
Marthe Daubreuil.«
Geruhrt gab ich den Brief zuruck.
»Wirst du hingehen?«
»Sofort. Wir nehmen ein Auto.«
Eine halbe Stunde spater betraten wir die Villa Marguerite. Marthe empfing uns an der Tur und geleitete Poirot ins Haus, wobei sie eine seiner Hande mit ihren beiden umklammert hielt.
»Oh, Sie sind gekommen - wie lieb von Ihnen! Ich war der Verzweiflung nahe, da ich nicht wu?te, was zu tun sei. Man will mir nicht einmal erlauben, ihn im Gefangnis zu besuchen. Ich leide furchterlich, ich bin fast toll. Ist das richtig, was sie sagen, da? er seine Schuld gar nicht leugne? Das ist ja Wahnsinn. Es ist ganz ausgeschlossen, da? er es tat! Nicht einen Augenblick glaube ich daran.«
»Auch ich glaube nicht daran, Mademoiselle«, sagte Poirot ernst.
»Aber warum spricht er dann nicht? Ich kann es nicht begreifen.«
»Vielleicht will er jemand schutzen«, deutete Poirot an, indem er sie beobachtete.
Marthe blickte finster drein.
»Jemanden schutzen? Meinen Sie seine Mutter? Ah, ich verdachtigte sie von Anfang an. Wer erbt das ganze, gro?e Vermogen? Sie. Witwenkleider anlegen und Trauer heucheln ist nicht schwer. Und man sagt, als er verhaftet wurde, sei sie so hingefallen!« Sie machte eine dramatische Bewegung. »Und Monsieur Stonor, der Sekretar, war ihr ganz sicher behilflich. Sie haben es dick hinter den Ohren, die beiden. Zwar ist sie alter als er - aber was fragt ein Mann danach -wenn die Frau reich ist.« Bitterkeit klang aus ihrer Stimme.
»Stonor war in England«, warf ich ein.
»So sagt er - aber wer wei? es?«
»Mademoiselle«, sagte Poirot ruhig, »wenn wir gemeinsam vorgehen sollen, Sie und ich, mu? vollige Klarheit zwischen uns sein. Vor allem mu? ich eine Frage an Sie richten.«
»Bitte, Monsieur.«
»Ist Ihnen der wirkliche Name Ihrer Mutter bekannt?«
Marthe starrte ihn einen Augenblick an, dann barg sie den Kopf in den Handen und brach in Tranen aus.
»Na, na«, sagte Poirot und klopfte ihr auf die Schulter. »Beruhigen Sie sich, Kleine, ich sehe, da? Sie es wissen. Nun eine zweite Frage: Wu?ten Sie, wer Monsieur Renauld war?«
»Monsieur Renauld?« Sie blickte Poirot verwundert an.
»Ah, ich sehe, das wissen Sie nicht. Nun horen Sie mir aufmerksam zu.«
Schritt fur Schritt ging er den Fall durch, so wie er es mir gegenuber am Tag unserer Abreise nach England getan hatte. Marthe lauschte wie gebannt. Als er geendet hatte, atmete sie schwer.
»Sie sind ja wundervoll - bewundernswert! Sie sind der gro?te Detektiv der Welt.«
Schnell schlupfte sie von ihrem Stuhl und kniete mit echt franzosischem Uberschwang vor ihm nieder.
»Retten Sie ihn Monsieur«, rief sie. »Ich liebe ihn so sehr. Oh, retten Sie ihn - retten Sie ihn - retten Sie ihn!«
25
Am nachsten Vormittag wohnten wir dem Verhor Jack Renaulds bei. Ich war erschuttert uber die Veranderung, die in der kurzen Zeit mit dem Gefangenen vor sich gegangen war. Seine Wangen waren eingefallen, tief umrandert seine Augen, und er blickte verstort und wirr, wie einer, der viele Nachte den Schlaf vergebens suchte. Er zeigte keinerlei Gemutsbewegung, als er uns erblickte.
Der Gefangene und sein Rechtsbeistand, Maitre Grosier, hatten auf Sesseln Platz genommen. Ein riesengro?er Wachtposten mit glanzendem Sabel stand vor dem Eingang. Der geduldige Gerichtsschreiber sa? an seinem Pult. Das Verhor begann.
»Renauld«, sagte der Richter, »leugnen Sie, in der Nacht des Verbrechens in Merlinville gewesen zu sein?«
Jack antwortete nicht sofort, dann erwiderte er mit einer Unschlussigkeit, die Mitleid weckte: »Ich - ich - sagte Ihnen schon, da? ich in Cherbourg war.«
Maitre Grosier runzelte die Stirn und seufzte. Ich merkte sogleich, da? Jack Renauld zur Verzweiflung seines Rechtsanwaltes halsstarrig daran festhielt, seine Sache nach eigenem Gutdunken zu fuhren.
Der Richter befahl streng: »Lassen Sie die Zeugen, vom Bahnhof eintreten.«
Eine Minute spater wurde die Tur geoffnet, um einen Mann einzulassen, den ich als den Beamten der Station Merlinville wiedererkannte.
»Hatten Sie in der Nacht des 7. Juni Dienst?«
»Ja, Monsieur.«
»Waren Sie zugegen, als der Zug um 11 Uhr 40 einfuhr?«
»Ja, Monsieur.«
»Betrachten Sie den Gefangenen. Erkennen Sie ihn als einen der aussteigenden Passagiere?«
»Ja, Monsieur.«
»Ist ein Irrtum ausgeschlossen?«
»Ja, Monsieur. Ich kenne Monsieur Jack Renauld genau.«
»Aber vielleicht besteht ein Irrtum wegen des Datums?«
»Nein, Monsieur. Denn am folgenden Morgen, am 8. Juni, horten wir von dem Mord.«
Noch ein anderer Bahnbediensteter wurde vorgefuhrt, der die Aussage des ersten bestatigte. Der Richter wandte sich an Jack Renauld: »Diese Leute haben Sie bestimmt erkannt. Was haben Sie darauf zu sagen?«
Jack zuckte die Achseln: »Nichts.«
M. Hautet wechselte einen Blick mit dem Gerichtsschreiber, als dessen kratzende Feder die Antwort protokollierte.
»Renauld«, fuhr der Richter fort, »erkennen Sie dies hier?« Er nahm etwas von einem seitlich stehenden Tisch und hielt es dem Gefangenen hin. Mir schauderte, als ich den Dolch erkannte.
»Pardon«, rief Maitre Grosier. »Ich bitte um die Erlaubnis, mit meinem Klienten sprechen zu durfen, ehe er diese Frage beantwortet.«
Aber Jack Renault nahm keine Rucksicht auf die Gefuhle des unglucklichen Grosier.
Er winkte ihm ab und antwortete ruhig: »Gewi? kenne ich es. Es ist ein Geschenk, das ich meiner Mutter gab, ein Erinnerungszeichen an den Krieg.«
»Wissen Sie, ob noch gleiche Dolche existieren?«
Wieder wollte Maitre Grosier einspringen, wieder uberging ihn Jack: »Nicht, da? ich wu?te. Er wurde nach meinen Angaben angefertigt.«
Sogar dem Richter stockte beinahe der Atem. Es hatte den Anschein, als sturze sich Renauld mit Absicht in sein Verderben.
Naturlich erkannte ich die zwingende Notwendigkeit, die ihn um Bellas willen bestimmte, das Vorhandensein eines zweiten Dolches abzuleugnen. Denn solange angenommen wurde, da? nur eine Waffe existierte, war t? unwahrscheinlich, da? Verdacht auf Bella fiel, die das zweite Papiermesser besa?. Tapfer schutzte er die Frau, die er einst geliebt hatte -aber um welchen Preis! Ich begann, die Gro?e der Aufgabe, zu erfassen, die ich Poirot