sturze?«
»Ja - ungefahr.«
»Du wurdest das tun, wenn du an meiner Stelle warest. Aber ich gehore nicht zu jenen, die einen Genu? darin finden, in einem Lande hin und her zu rasen, um eine Nadel in einem Heuschober zu suchen, wie ihr Englander sagt. Nein - la? Mademoiselle Bella Duveen nur laufen. Wenn es an der Zeit ist, werde ich wahrscheinlich imstande sein, sie zu finden. Bis dahin begnuge ich mich zu warten.«
Ich starrte ihn zweifelnd an. Versuchte er mich irrezufuhren? Ich hatte das irritierende Gefuhl, da? er sogar jetzt Herr der Situation sei. Mein Gefuhl der Uberlegenheit schwand zusehends. Ich hatte die Flucht des Madchens ermoglicht und einen glanzvollen Plan ausgearbeitet, um die Folgen ihrer ubereilten Tat von ihr abzuwenden - aber ich konnte meiner Gedanken nicht froh werden. Poirots vollkommene Ruhe erweckte tausenderlei Befurchtungen.
»Poirot, ich vermute«, sagte ich ein wenig schuchtern, »da? ich nach deinen weiteren Planen nicht fragen darf? Ich habe mir dieses Recht verscherzt.«
»Aber durchaus nicht. Sie sind kein Geheimnis. Wir kehren unverzuglich nach Frankreich zuruck.«
»Wir?«
»Ganz richtig - ,wir'! Du wei?t ganz gut, da? du es dir nicht erlauben kannst, Papa Poirot aus den Augen zu verlieren. Nun? Oder nicht, mein Freund? Aber bitte, bleibe selbstverstandlich in England, wenn du willst -«
Ich schuttelte den Kopf. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Obwohl ich nicht erwarten konnte, nach allem, was vorgefallen war, weiter sein Vertrauter zu bleiben, war es mir doch moglich, seine Handlungen zu uberwachen. Die einzige Gefahr fur Bella war er. Giraud und der franzosischen Polizei war ihr Vorhandensein gleichgultig. Ich mu?te mich daher um jeden Preis an Poirots Fersen heften.
Wahrend mir diese Uberlegungen durch den Kopf gingen, betrachtete Poirot mich aufmerksam und nickte dann zufrieden.
»Ich habe also recht, nicht wahr? Und da du imstande warest, den Versuch zu machen, mir in irgendeiner albernen Verkleidung zu folgen - mit einem falschen Bart zum Beispiel, den jeder naturlich bemerken wurde - ziehe ich es vor, da? wir gemeinsam reisen. Es wurde mich sehr argern, wenn irgend jemand sich uber dich lustig machte.«
»Sehr gut also. Aber ich will dich warnen -«
»Ich wei? - ich wei? alles. Du bist mein Feind! Sei denn mein Feind! Das regt mich nicht auf.«
»Solange es fair und offen und ehrlich ist -meinetwegen.«
»Du besitzest die englische Eigenschaft des fair play' zur Genuge! Nun, da deine Bedenken beschwichtigt sind, reisen wir unverzuglich. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Unser Aufenthalt in England war kurz, hat aber genugt. Ich wei? -was ich wissen wollte.«
Der Ton war leicht, aber fur mich drang verschleierte Drohung aus seinen Worten.
»Doch -« begann ich und stockte.
»Doch - wie du sagst! Dich befriedigt offenbar die Rolle, die du spielst. Ich - ich beschaftige mich mit Jack Renauld.«
Jack Renauld! Ich fuhr auf! Ich hatte den Stand der Dinge vollkommen vergessen. Jack Renauld im Gefangnis, und uber ihm der drohende Schatten der Anklage. Ich sah nun die Rolle, die ich spielte, in dusterem Licht. Ich konnte Bella retten, ja -aber ich lief dabei Gefahr, einen Unschuldigen dem Tode auszuliefern.
Voll Abscheu wies ich den Gedanken von mir. Das konnte nicht sein. Er wurde freigesprochen werden. Man wurde ihn sicher freisprechen. Aber wieder beschlich mich kalte Angst. Angenommen, er wurde nicht freigesprochen? Was dann? Konnte ich das auf mein Gewissen nehmen - welch furchtbarer Gedanke! Wurde es schlie?lich so enden? Eine Entscheidung! Bella oder Jack Renauld? Das schnelle Pochen meines Herzens sagte, ich musse das Madchen, das ich liebe, retten, was immer es mich kosten moge. Aber durch ein Menschenopfer? Das anderte die Sache.
Was wurde sie dazu sagen? Ich erinnere mich, da? kein Wort uber Jack Renaulds Verhaftung uber meine Lippen gekommen war. Bis jetzt befand sie sich in volliger Unkenntnis des Umstandes, da? ihr ehemaliger Freund unter Verdacht des scheu?lichen Verbrechens, das er nicht begangen hatte, verhaftet worden war. Wenn sie es erfuhr, wie wurde sie sich dazu stellen? Wurde sie ihr Leben auf Kosten des seinen retten wollen? Selbstverstandlich durfte sie nichts Ubereiltes tun. Jack konnte und wurde wahrscheinlich ohne ihr Dazwischentreten freigesprochen werden. Wenn dies der Fall war, war ja alles gut. Aber wenn nicht? Das war das schreckliche, das unlosbare Problem. Ich nahm an, da? sie nicht die strengste Strafe zu gewartigen hatte. Die Umstande des Verbrechens lagen ja in ihrem Falle ganz anders. Sie konnte Eifersucht und au?erste Herausforderung vorbringen, und ihre Jugend und Schonheit wurden das ubrige tun. Die Tatsache, da? infolge eines tragischen Irrtums M. Renauld statt seines Sohnes die Zeche bezahlt hatte, wurde an dem Motiv nichts andern. Aber fur jeden Fall mu?te das Urteil eine lange Kerkerstrafe bedeuten.
Nein, Bella mu?te beschutzt werden. Und gleichzeitig mu?te man Jack Renauld retten. Wie dies zu machen war, sah ich noch nicht klar. Aber ich baute auf Poirot. Er mu?te helfen! Komme, was da wolle, er wurde es fertigbringen, einen Unschuldigen zu retten. Er mu?te einen anderen als den wirklichen Vorwand finden. Es mochte schwer sein, aber er wurde es schon irgendwie fertigbringen. Und wenn dann Bella nicht verdachtigt und Jack Renauld freigesprochen wurde, dann war alles zu einem guten Ende gekommen.
So sagte ich mir immer wieder, aber in der Tiefe meines Herzens lauerte es wie kalte Angst.
24
Wir kreuzten am Abend mit dem Schiff von England hinuber und trafen des Morgens in St. Omer ein, wohin Jack Renauld gebracht worden war. Poirot begab sich unverzuglich zu M. Hautet. Da er keinen Einspruch dagegen erhob, da? ich ihn begleitete, blieb ich bei ihm.
Nach Formalitaten und Verhandlungen verschiedenster Art wurden wir in das Zimmer des Untersuchungsrichters gefuhrt. Er begru?te uns herzlich.
»Ich horte, Sie seien nach England zuruckgekehrt, Monsieur Poirot. Ich freue mich, da? das Gerucht sich nicht bestatigt.«
»Es ist richtig, da? ich hinuberfuhr, Monsieur, aber nur zu einem fluchtigen Besuch. Eine Nebenfrage, die aber, wie mir schien, von gro?er Wichtigkeit fur die Untersuchungen sein konnte.«
»Und war sie es -?«
Poirot zuckte die Achseln. M. Hautet nickte und seufzte. »Ich furchte, wir werden uns bescheiden mussen. Giraud hat wohl furchtbare Manieren, aber er ist gewi? begabt! Wenig Aussicht, da? er sich irren konnte!«
»Sie glauben nicht?«
Nun war es an dem Untersuchungsrichter, mit den Achseln zu zucken.
»Also, ehrlich gesprochen - und streng vertraulich selbstverstandlich -, konnen Sie zu einem anderen Schlu? gelangen?«
»Ehrlich gesprochen scheint es mir, da? es noch viele dunkle Punkte gibt.«
»Und die sind ... ?«
Doch Poirot lie? sich nicht ausholen.
»Ich habe sie noch nicht zusammengestellt«, bemerkte er. »Es war nur eine allgemeine Bemerkung. Ich mochte den jungen Mann gut leiden und wurde tief bedauern, ihn eines so abscheulichen Verbrechens schuldig finden zu mussen. Wie verteidigt er sich ubrigens?«
Der Richter runzelte die Stirn.
»Ich kann ihn nicht begreifen. Er scheint unfahig zu sein, sich irgendeine Verteidigung zurechtzulegen. Es war sehr schwer, ihn zur Beantwortung der Fragen zu bewegen. Er beschrankt sich auf beharrliches Leugnen, und daruber hinaus verschanzt er sich hinter hartnackigstem Schweigen. Ich werde ihn morgen nochmals vernehmen. Vielleicht ware es Ihnen angenehm, dabei zu sein?«
Wir nahmen die Einladung gerne an.
»Ein verzweifelter Fall!« sagte der Richter seufzend. »Ich habe tiefstes Mitgefuhl mit Madame Renauld.«