Sohnes zwischen den beiden Dienern des Gesetzes machte sie stutzig.
»Jack!« stammelte sie. »Jack, was ist das?«
Gefa?t blickte er sie an: »Sie haben mich verhaftet, Mutter.«
»Was?«
Sie stie? einen durchdringenden Schrei aus, und ehe man ihr zu Hilfe kommen konnte, schwankte sie und fiel schwer zu Boden. Wir liefen beide hin, um sie aufzuheben. Einen Augenblick spater richtete sich Poirot wieder auf.
»Sie hat sich den Kopf an einer Treppenkante schwer verletzt. Ich furchte, eine leichte Gehirnerschutterung. Wenn Giraud eine Aussage von ihr braucht, wird er sich gedulden mussen. Sie wird wahrscheinlich wenigstens eine Woche bewu?tlos sein.«
Denise und Francoise waren zu ihrer Herrin geeilt, und nachdem Poirot sie ihrer Fursorge ubergeben hatte, verlie? er das Haus. Er schritt mit gesenktem Haupt gedankenvoll dahin.
Eine Zeitlang blieb ich stumm, endlich aber wagte ich eine Frage: »Glaubst du also, allem belastenden Material zum Trotz, an die Unschuld Jack Renaulds?«
Poirot antwortete nicht sofort, erst nach einer Pause sagte er ernst: »Ich wei? nicht, Hastings. Es gibt noch eine Moglichkeit. Naturlich hat Giraud unrecht - vom Anfang bis zum Ende. Wenn Jack Renauld wirklich schuldig sein sollte ... « Er zuckte mit den Achseln. »Und dabei ist die schwerste Anklage gegen ihn nur mir bekannt.«
»Und die ware?« fragte ich.
»Wenn du von deinen grauen Zellen Gebrauch machtest und den Fall so klar wie ich sahest, hattest auch du es bemerkt, mein Freund.«
Dies war, was ich eine von Poirots aufreizenden Antworten nannte. Ohne eine Entgegnung abzuwarten, fuhr er fort: »Schlagen wir diesen Weg ein - zum Meer hin. Wir wollen uns auf jener kleinen Anhohe niederlassen, die uber den Strand hinausragt, und den Fall durchgehen. Du sollest alles erfahren, was ich wei?, aber es ware mir lieber, du kamest selbst der Wahrheit auf den Grund - durch eigene Denkarbeit, ohne da? ich dich mit der Hand darauf sto?e.«
Wir lie?en uns am Abhang nieder, wie Poirot es vorgeschlagen hatte, und sahen aufs Meer hinaus. Von den fernen Sanddunen her schlug schwach das Larmen der Badenden an unser Ohr. Bla?grau schimmerte das Meer, und der ruhige Ozean rief mir den Tag unserer Ankunft ins Gedachtnis, meine damalige gute Laune und Poirots Behauptung, da? ich »unke«. Wie lange das zurucklag! In Wirklichkeit waren es nur drei Tage!
»Denk nach mein Freund!« sagte Poirot ermunternd. »Ordne deine Gedanken. Aber systematisch und hubsch der Reihe nach. Das ist das Geheimnis des Erfolges.«
Ich bemuhte mich zu gehorchen und lie? im Geiste alle Einzelheiten des Falles voruberziehen. Und widerstrebend kam ich zu dem Schlusse, da? die einzig mogliche richtige Losung die von Giraud war - die aber Poirot verworfen hatte. Ich, uberlegte von neuem. Madame Daubreuil! Giraud wu?te nichts von ihrem Zusammenhang mit dem Fall Beroldy. Poirot hatte dem Fall Beroldy gro?e Bedeutung beigelegt. Dort also mu?te ich suchen. Nun war ich auf der richtigen Spur. Und plotzlich fuhr ich zusammen, da ein verbluffender Gedanke in meinem Kopfe aufblitzte.
»Dir fallt etwas ein, wie ich sehe, mon ami! Gro?artig. Nur weiter.«
Ich richtete mich auf und setzte meine Pfeife in Brand.
»Poirot«, sagte ich, »wir scheinen merkwurdig nachlassig gewesen zu sein. Ich sage ,wir' - obwohl es richtiger gewesen ware, ich hatte ,ich' gesagt. Aber fur deine Geheimnistuerei mu? Strafe sein. Darum sage ich nochmals, ,wir' mussen merkwurdig nachlassig gewesen sein. Wir haben jemanden vollig vergessen.«
»Und wer sollte das sein?« fragte Poirot und zwinkerte mit den Augen.
»Georges Conneau!«
20
Im nachsten Augenblick ku?te mich Poirot ungestum auf beide Wangen.
»Endlich! Bist du nun soweit! Und ganz von selbst! Das ist fabelhaft! Nur weiter mit deinen Entdeckungen! Du hast vollkommen recht. Es war entschieden ein Unrecht von uns, da? wir Georges Conneau verga?en.«
Ich fuhlte mich durch das Lob des kleinen Mannes so geschmeichelt, da? es mir schwerfiel fortzufahren. Aber schlie?lich gelang es mir, meine Gedanken zu sammeln, und ich fuhr fort: »Georges Conneau verschwand vor zwanzig Jahren, aber wir haben keine Veranlassung anzunehmen, da? er tot ist.«
»Keineswegs«, stimmte Poirot zu. »Weiter.«
»Daher wollen wir annehmen, da? er noch am Leben ist.«
»Richtig.«
»Oder wenigstens bis vor kurzem war.«
»Immer besser.«
»Wir wollen annehmen«, fuhr ich mit steigender Begeisterung fort, »da? er einsame Tage sah. Er wurde ein Verbrecher, ein Apache, ein Landstreicher - was du willst. Der Zufall fuhrt ihn nach Merlinville. Hier begegnet er der Frau, die er nie zu lieben aufgehort hatte.«
»Ei, ei, wie sentimental«, spottete Poirot.
»Wo Ha? ist, ist auch Liebe«, zitierte ich etwas frei. »Jedenfalls trifft er sie hier, wo sie unter einem angenommenen Namen lebt. Aber sie hat einen Liebhaber, den Englander Renauld. Georges Conneau, in dessen Erinnerung die alte Wunde wieder zu bluten beginnt, sucht Handel mit diesem Renauld. Er lauert ihm auf, als er sich zu seiner Geliebten begibt, und sticht ihn meuchlings nieder. Dann, voll Schrecken uber seine eigene Tat, geht er daran, ein Grab zu graben. Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, da? Madame Daubreuil aus dem Hause kam, um nach ihrem Geliebten Ausschau zu halten. Es kommt zu einer furchterlichen Szene zwischen ihr und Conneau. Er zerrt sie in den Schuppen und sturzt plotzlich in einem epileptischen Anfall zusammen. Nun, nehmen wir an, erscheint Jack Renauld. Madame Daubreuil gesteht ihm alles und macht ihn auf die bosen Folgen aufmerksam, die ihrer Tochter daraus erwuchsen, falls der alte Skandal wieder auflebte. Seines Vaters Morder ist nicht mehr -sie mu?ten ihr moglichstes tun, um die Sache totzuschweigen. Jack Renauld willigt ein - geht nach Hause und gewinnt seine Mutter fur seine Absichten. Genau nach dem Plan, den Madame Daubreuil ihm eingegeben hatte, lie? sie sich binden und knebeln. Nun, Poirot, was haltst du davon?« Stolz lehnte ich mich zuruck, weil mir der Wiederaufbau des Falles mit so viel Erfolg gegluckt war. Nachdenklich sah Poirot mich an.
»Ich denke, du solltest furs Kino schreiben, mon ami«, bemerkte er schlie?lich.
»Du meinst -?«
»Die Geschichte, die du da erzahltest, wurde einen guten Film abgeben - aber sie hat mit dem Alltagsleben nichts gemein.«
»Ich gebe zu, da? ich nicht auf alle Einzelheiten einging, jedoch -«
»Du tatest sogar mehr, du schenktest ihnen keinerlei Beachtung. Wie stellst du dich zu der Bekleidung der beiden Manner? Glaubet du, da? Conneau sein Opfer, nachdem er es erstochen hatte, des Anzugs beraubte, um ihn selbst anzulegen, und dann den Dolch wieder in die Wunde steckte?«
»Ich sehe nicht ein, was das ausmachen sollte«, entgegnete ich verstimmt. »Er konnte ja etliche Tage vorher durch Drohungen Kleider und Geld von Madame Daubreuil erlangt haben.«
»Durch Drohungen? Du bringst im Ernst so eine Vermutung vor?«
»Gewi?. Er konnte ihr gedroht haben, da? er den Renaulds enthullen wurde, wer sie sei, was wahrscheinlich alle ihre Hoffnungen bezuglich der Verehelichung ihrer Tochter vernichtet hatte.«
»Du irrst dich, Hastings. Er konnte von ihr nichts erpressen, denn sie hatte die Waffe in der Hand. Georges Conneau, erinnere dich, wird noch immer wegen Mordes verfolgt. Ein Wort von ihr, und er ist in Todesgefahr.«
»Ich sah mich, wenn auch widerstrebend, genotigt, die Wahrheit dieser Erklarungen einzuseilen.
»Deine Theorie«, bemerkte ich sauerlich, »ist ohne Zweifel korrekt bis in die kleinsten Einzelheiten.«
»Meine Theorie ist die Wahrheit«, sagte Poirot ruhig: »Und die Wahrheit ist notwendigerweise korrekt. Von allem Anfang an hatte deine Theorie einen Fehler. Du lie?est dich durch deine Phantasie irrefuhren, durch leidenschaftliche Liebesszenen und Zusammenkunfte um Mitternacht. Aber bei der Erforschung eines Verbrechens mussen wir uns auf realeren Boden stellen. Soll ich dir mein System entwickeln?«