Die Angelegenheit wirbelte viel Staub auf. Madame Beroldys Erzahlung war kaum glaubwurdig. Aber diese Frau, deren Marchenerzahlungen so leicht hingenommen worden waren, besa? die hohe Gabe, Glauben zu erwecken. Ihr Appell an die Geschworenen war ein Meisterstuck. Tranenuberstromt sprach sie von ihrem Kinde, von ihrer Frauenehre - von ihrem Wunsch, um ihres Kindes willen sich einen makellosen Ruf bewahren zu wollen. Sie gab zu, da? sie vielleicht, weil Georges Conneau ihr Geliebter gewesen sei, moralisch fur das Verbrechen verantwortlich gemacht werden konne, aber nur vor Gott - und sonst vor niemandem. Sie wisse, da? sie den schweren Fehler begangen habe, Conneau nicht anzuzeigen, aber mit gebrochener Stimme meinte sie, da? keine Frau das zuwege gebracht hatte. Sie habe ihn geliebt! Hatte sie ihn mit eigener Hand zur Guillotine schleifen sollen? Sie habe viel gesundigt, aber an jenem Verbrechen sei sie unschuldig.
Wie immer es auch gewesen sein mag, die Beredsamkeit einer starken Personlichkeit trug den Sieg davon. Madame Beroldy wurde in einer Szene von noch nie dagewesener Erregung freigesprochen. Trotz der eifrigsten Bemuhungen der Polizei gelang es niemals, Georges Conneau festzunehmen. Und von Madame Beroldy ward nichts mehr gehort. Sie nahm ihr Kind und verlie? Paris, um ein neues Leben zu beginnen.
17
Ich habe den Fall Beroldy ausfuhrlich wiedergegeben. Naturlich waren mir nicht alle Einzelheiten, die ich erzahlte, in Erinnerung geblieben. Aber ich entsann mich im gro?en und ganzen ziemlich genau. Er hatte zu jener Zeit sehr viel Staub aufgewirbelt, und die englischen Zeitungen brachten ausfuhrliche Berichte, so da? ich meinem Gedachtnis nicht zuviel zumuten mu?te, um die wesentlichsten Einzelheiten wiederzufinden.
Es kam mir vor, als klarte dies nun unsere Sache vollig auf. Ich gebe zu, da? ich impulsiv bin - auch Poirot tadelt meine Gewohnheit, in sprunghafter Weise Schlusse zu ziehen -, aber mir schien, als ware ich in diesem Falle einigerma?en entschuldigt. Wie bewundernswert diese Entdeckung Poirots seine Ansicht rechtfertigte, sprang mir sofort in die Augen.
»Poirot«, sagte ich, »ich begluckwunsche dich. Ich sehe jetzt alles.«
»Wenn dies wirklich wahr
Ich war ein wenig argerlich.
»Nun, nun, du brauchst mir das jetzt nicht unter die Nase zu reiben. Du tatest die ganze Zeit so verdammt geheimnisvoll mit deinen Winken und bedeutungslosen Einzelheiten, da? wohl niemand gewu?t hatte, wo du hinauswolltest!«
Poirot entzundete mit gewohnter Umstandlichkeit eine seiner kleinen Zigaretten. Dann sah er auf: »Und da du nun alles siehst, mon ami, was siehst du da eigentlich?«
»Nun, da? Madame Daubreuil-Beroldy Renauld ermordet hat. Die Gleichheit der beiden Falle beweist dies sonnenklar.«
»Dann bist du also der Ansicht, da? Madame Beroldy unberechtigterweise freigesprochen wurde? Und da? sie in Wirklichkeit die Schuld der Mitwisserschaft an der Ermordung ihres Gatten traf?«
»Naturlich. Findest du das nicht?«
Poirot ging im Zimmer auf und nieder, ruckte zerstreut einen Sessel zur Seite und sagte dann gedankenschwer: »Ja, es ist auch meine Ansicht. Aber ein ,Naturlich' gibt es da nicht, lieber Freund. Theoretisch gesprochen ist Madame Beroldy unschuldig.
»An jenem Verbrechen vielleicht. Doch nicht an diesem.«
Poirot setzte sich wieder, und nachdenklicher als je zuvor blickte er mich an. »So bist du endgultig der Meinung, da? Madame Daubreuil Monsieur Renauld ermordete?«
»Ja«
»Warum?« Mit solcher Plotzlichkeit schleuderte er mir-diese Frage entgegen, da? ich ganz verblufft war.
»Warum?« stammelte ich. »Warum? Nun weil -« weiter kam ich nicht.
Poirot nickte mir zu: »Siehst du, gleich stolperst du uber einen Stein des Ansto?es. Weshalb sollte Madame Daubreuil (der Deutlichkeit halber will ich sie weiter so nennen) Monsieur Renauld ermorden? Wir konnen nicht den leisesten Schatten eines Grundes dafur finden. Sie zieht keinen Vorteil aus seinem Tode; als Geliebte oder Erpresserin verliert sie sogar dadurch. Es gibt aber keinen Mord ohne Ursache. Beim ersten Verbrechen lagen die Dinge anders - da wartete ein reicher Liebhaber, um in die Fu?stapfen des Gatten zu treten.«
»Aber Geld ist doch nicht das einzige Mordmotiv«, warf ich ein.
»Richtig«, stimmte Poirot gelassen zu. »Es gibt noch zwei andere. Das Liebesdrama ist eines davon - Das andere seltenere Motiv ist Mord infolge einer Idee; dieser Mord setzt aber irgendeine Form geistiger Abnormitat auf seiten des Morders voraus. Mordmanie und religioser Wahnsinn gehoren in diese Kategorie. Die konnen wir hier ausschlie?en.«
»Und wie verhalt es sich mit dem Liebesdrama? Schlie?t du das auch aus? Wenn Madame Daubreuil Renaulds Geliebte war, wenn sie fand, da? seine Leidenschaft nachlie?, oder wenn ihre Eifersucht durch irgend etwas erweckt wurde, hatte sie ihn nicht in einem Zornausbruch niederstechen konnen?«
Poirot schuttelte den Kopf.
»Wenn - ich sage wenn - Madame Daubreuil seine Geliebte war, hatte er noch viel Zeit gehabt, ihrer uberdrussig zu werden. Und fur jeden Fall mi?verstehst du ihren Charakter. Sie ist die Frau, die gro?e Leidenschaften vortauscht. Sie ist eine ausgezeichnete Schauspielerin. Aber, objektiv betrachtet, straft ihr Leben ihre Erscheinung Lugen. Wenn wir es uberprufen, erwies sie sich in all ihren Beweggrunden und Handlungen als durchweg kaltblutig berechnend. Nicht um ihr Leben mit dem des jungen Geliebten zu verbinden, nahm sie die Mitschuld an der Ermordung ihres Gatten auf sich. Der reiche Amerikaner, der ihrem Herzen wahrscheinlich vollkommen fernstand, war ihr Endziel. Wenn sie ein Verbrechen beging, mu?te es ihr Vorteil bringen. Hier gab es keinen Vorteil. Uberdies, wie erklarst du dir das Ausschaufeln des Grabes? Das war Mannerarbeit.«
»Vielleicht hatte sie einen Komplicen«, riet ich argerlich, weil ich meine Annahme wieder aufgeben sollte.
»Ich hatte noch etwas einzuwenden. Du sprachst von der volligen Gleichheit der beiden Verbrechen. Worin besteht sie eigentlich, mein Freund?«
Ich blickte ihn erstaunt an: »Aber, Poirot, du machtest doch selbst darauf aufmerksam! Die Erzahlung von den maskierten Mannern, das ,Geheimnis', die Papiere!«
Poirot lachelte schwach: »Ich bitte dich, sei nicht gleich beleidigt. Die Gleichheit der beiden Erzahlungen verkettet die beiden Falle allerdings miteinander. Aber uberlege nun einmal etwas hochst Merkwurdiges. Nicht Madame Daubreuil ist es, die uns die Geschichte auftischt - wie es doch sein sollte, wenn es nach der Schablone ginge - sondern Madame Renauld. Ist sie daher mit der anderen im Bunde?«
»Das kann ich nicht glauben«, sagte ich bedachtig. »Wenn es so ware, mu?te sie wohl die vollendetste Schauspielerin der Welt sein.«
»Ta, ta, ta«, sagte Poirot ungeduldig. »Wieder nur Gefuhl ohne Logik! Wenn eine Verbrecherin eine vollkommene Schauspielerin sein mu?, dann nimm fur jeden Fall an, da? sie es ist. Aber mu? es so sein? Ich bezweifle, da? Madame Renauld mit Madame Daubreuil im Bunde ist; dagegen sprechen viele Grunde, von denen ich dir schon einige aufzahlte. Die anderen verstehen sich von selbst. Und wenn wir auch diese Unmoglichkeit ausgeschaltet haben, nahern wir uns immer mehr der Wahrheit, die wie immer au?erst seltsam und interessant, ist.«
»Poirot«, rief ich, »was wei?t du noch?«
»Mein Freund, du selbst mu?t deine Schlusse ziehen. Du hast ,Zutritt zu den Akten'. Konzentriere deine grauen Zellen. Und urteile - nicht wie Giraud, sondern wie Hercule Poirot.«
»Bist du deiner Sache sicher?«
»Mein Freund, nach mancher Richtung war ich ein Dummkopf. Aber nun sehe ich klar.«
»Wei?t du alles?«
»Ich habe entdeckt, welches Ratsel Monsieur Giraud von mir gelost zu haben wunschte.«
»Und du kennst den Morder?«
»Ich kenne einen Morder.«