»Wann geschah es? Heute nacht?«

Giraud schuttelte den Kopf: »Kaum. Ich will dem Urteil des Arztes nicht vorgreifen, aber der Mann mu? schon uber zwolf Stunden tot sein. Wann, sagten Sie, sahen Sie diesen Dolch zuletzt?«

»Gestern fruh, ungefahr um zehn Uhr.«

»Dann ware ich geneigt, anzunehmen, da? das Verbrechen kurz darauf geschah.«

»Aber es kamen doch unaufhorlich Leute bei dem Schuppen voruber?«

Giraud lachte unangenehm. »Sie machen wundervolle Fortschritte! Wer sagte Ihnen, da? er in dieser Hutte ermordet wurde?«

»Nun« - ich war ganz verwirrt. »Ich - ich nahm es an.«

»Oh, welch tuchtiger Detektiv! Sehen Sie sich den Mann an. Fallt ein todlich ins Herz getroffener Mann so hin -ordentlich, mit geradeliegenden Beinen und mit zu beiden Seiten ausgestreckten Armen? Nein! Oder legt sich ein Mann flach auf den Rucken, um sich erstechen zu lassen, ohne eine Hand zu seiner Verteidigung zu ruhren? Das ist doch lacherlich, nicht? Aber sehen Sie, da - und da -« Er leuchtete den Boden mit der Lampe ab. Ich sah seltsame regelma?ige Abdrucke in dem weichen Boden. »Er wurde nach seinem Tode hier hereingezerrt. Von zwei Leuten halb gezerrt und halb getragen. Ihre Spuren sind drau?en auf dem harten Boden nicht erkennbar, und hier waren sie bemuht, sie zu verwischen; aber von den beiden war eines eine Frau, mein junger Freund.«

»Eine Frau?« »Ja.«

»Woher wissen Sie das, wenn die Spuren verwischt sind?«

»Weil, wenn auch verwischt, die Abdrucke von Frauenschuhen unverkennbar sind. Und auch durch dies.« Und er beugte sich nieder, nahm etwas vom Griff des Dolches weg und hielt es mir hin. Es war ein langes schwarzes Frauenhaar, jenem ahnlich, das Poirot auf dem Lehnstuhl in der Bibliothek gefunden hatte. Mit ironischem Lacheln schlang er es wieder um den Dolch. »Wir wollen die Dinge, soweit es moglich ist, so lassen, wie sie sind«, erklarte er. »Das gefallt dem Untersuchungsrichter. Nun, und sonst fallt Ihnen nichts auf?« Ich mu?te verneinen.

»Betrachten Sie seine Hande.«

Ich tat es. Die Nagel waren abgebrochen und fleckig, die Hande waren rauh. Das brachte mir leider nicht viel Aufklarung.

»Das sind nicht die Hande eines - Herrn«, sagte er, als Antwort auf meinen Blick. »Dagegen ist sein Anzug der eines wohlhabenden Mannes. Seltsam, nicht?«

»Sehr seltsam«, gab ich zu.

»Und nicht ein Stuck seiner Kleidung ist gezeichnet. Was sagt uns das? Dieser Mann versuchte, sich fur einen anderen auszugeben, als er war. Er war verkleidet. Weshalb? Befurchtete er etwas? Versuchte er, verkleidet zu fluchten? Bis jetzt wissen wir es nicht - aber eines ist uns klar, da? er ebenso eifrig bemuht war, seine Identitat zu verbergen, wie jetzt wir, sie festzustellen.« Wieder blickte er auf den Leichnam nieder. »Wie fruher schon sind auch hier keine Fingerabdrucke auf dem Dolch zu finden. Auch diesmal trug der Morder Handschuhe.«

»Sie glauben also, da? fur beide Falle der gleiche Morder in Betracht kommt?« fragte ich gespannt. Giraud wurde unergrundlich. »Was ich glaube, ist gleichgultig, Es wird sich zeigen. Marchaud!«

Der Gendarm erschien in der Tur.

»Monsieur?«

»Warum ist Madame Renauld nicht hier? Schon vor einer Viertelstunde lie? ich sie herbitten.«

»Sie kommt eben in Begleitung ihres Sohnes den Weg herauf.«

»Gut. Aber ich mochte jeden von ihnen einzeln sprechen.« Marchaud salutierte und verschwand. Einen Augenblick spater kam er mit Madame Renauld wieder.

Mit einer kurzen Verbeugung trat Giraud ihr entgegen. »Bitte hier, gnadige Frau.« Er fuhrte sie vorwarts und trat plotzlich beiseite. »Hier ist der Mann. Kennen Sie ihn?«

Und wahrend der sprach, bohrten sich seine Blicke in ihr Gesicht, versuchte er, ihre Gedanken zu ergrunden und jede Regung ihres Wesens festzuhalten.

Madame Renauld aber blieb vollkommen ruhig - zu ruhig, wie mir schien. Sie blickte beinahe interesselos auf den Leichnam - ohne jegliches Zeichen des Erkennens oder der Erregung.

»Nein«, sagte sie. »Ich sah ihn nie in meinem Lehen. Er ist mir vollig fremd.«

»Sind Sie dessen ganz sicher?«

»Ganz sicher.«

»Erkennen Sie nicht, beispielsweise, einen Ihrer Angreifer in ihm?«

»Nein.« Sie schien zu zogern, als ob die Idee ihr einleuchtete. »Nein, ich glaube nicht. Allerdings trugen sie Barte - falsche Barte, wie der Untersuchungsrichter meint -aber trotzdem - nein.« Nun schien sie sich vollig entschieden zu haben. »Ich bin ganz sicher, da? keiner von beiden dieser Mann war.«

»Ausgezeichnet, gnadige Frau. Das ware dann alles.«

Erhobenen Hauptes schritt sie hinaus, und die Silberstreifen ihres Haares glanzten im Sonnenlicht. Dann kam Jack Renauld. Auch er bewies in zwanglosester Weise, da? er die Identitat des Mannes nicht feststellen konne.

Giraud stohnte. Ob aus Vergnugen oder Mi?behagen, konnte ich nicht feststellen. Er rief nach Marchaud.

»Brachten Sie die andere hierher?«

»Ja, Monsieur.«

»Die andere« war Madame Daubreuil. Emport trat sie ein und widersetzte sich voll Heftigkeit.

»Ich erhebe Einspruch, Monsieur! Das ist eine Beleidigung! Was habe ich mit all dem zu tun?«

»Madame«, sagte Giraud brutal, »ich fuhre eine Untersuchung nicht nur wegen eines, sondern wegen zweier Morde! Und nach allem, was mir bekannt ist, konnten Sie beide Verbrechen begangen haben.«

»Wie konnen Sie sich unterstehen ... !« schrie sie. »Wie durfen Sie mich durch eine so arge Beschuldigung beschimpfen? Das ist unerhort!«

»Unerhort ist es? Und was ist das?« Er beugte sich nieder, loste nochmals das Haar von dem Dolch und hielt es in die Hohe. »Sehen Sie das, Madame?« Er trat auf sie zu. »Sie gestatten, da? ich - vergleiche.«

Kreidebleich fuhr sie mit einem Schrei zuruck: »Es ist nicht wahr, ich schwore es. Ich wei? nichts von dem Verbrechen - von keinem der beiden Verbrechen. Wer etwas anderes behauptet, lugt. Oh, mein Gott, was soll ich tun?«

»Sich beruhigen, Madame«, sagte Giraud kuhl. »Bisher klagt Sie noch niemand an. Aber Sie werden gut tun, meine Fragen ohne weitere Umstande zu beantworten.«

»Alles, was Sie wunschen, Monsieur.«

»Betrachten Sie den Toten. Kennen Sie ihn?«

Als sie naher trat, kehrte etwas Farbe in ihre Wangen zuruck. Madame Daubreuil sah lange auf den Toten. Dann schuttelte sie den Kopf: »Ich kenne ihn nicht.«

Es schien unmoglich, ihre Worte zu bezweifeln, die ganz naturlich klangen. Giraud entlie? sie mit einem Kopfneigen.

»Sie lassen sie gehen?« fragte ich leise. »Ist das klug? Sicher stammt das schwarze Haar von ihrem Kopf.«

»Ich brauche keine beruflichen Belehrungen«, versetzte Giraud trocken. »Sie steht unter Uberwachung. Ich will sie jetzt noch nicht verhaften.« Dann blickte er wieder stirnrunzelnd auf den Leichnam. »Halten Sie ihn uberhaupt fur einen Spanier?« fragte er plotzlich.

Ich betrachtete das Gesicht sehr sorgfaltig. »Nein«, sagte ich endlich. »Ich wurde ihn ganz entschieden fur einen Franzosen halten.«

Giraud au?erte sein Mi?vergnugen: »Immer dasselbe. Einen Augenblick stand er ruhig, dann schob er mich gebieterisch beiseite und begann noch einmal den Boden auf allen vieren abzusuchen. Er war bewunderungswurdig. Nichts entging ihm. Zoll um Zoll des Bodens ging er durch, er drehte jeden Blumentopf um, durchsuchte alte Sacke. Er sturzte sich auf ein Bundel bei der Tur; als er sich aber uberzeugt hatte, da? es nur einen zerlumpten Rock und Beinkleider enthielt, schleudert er es brummend beiseite. Zwei Paar alte Handschuhe erregten seine Aufmerksamkeit, aber schlie?lich schuttelte er den Kopf und legte sie fort. Dann begab er sich wieder zu den Blumentopfen und wendete systematisch einen nach dem anderen um. Schlie?lich erhob er sich und schuttelte nachdenklich den Kopf. Er schien verblufft und gereizt. Ich glaube, er hatte meine Anwesenheit vergessen.

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