Nun lie?en sich drau?en eilige Schritte und Stimmen vernehmen, und unser alter Freund, der Untersuchungsrichter, mit seinem Schreiber, M. Bex und der Arzt kamen herein.
»Aber das ist ja unglaublich, Monsieur Giraud«, rief M. Hautet. »Noch ein Verbrechen! Der Fall wird ja immer verworrener! Wer ist der Tote?«
»Das eben kann uns niemand sagen, Monsieur. Er wurde bis jetzt nicht identifiziert.«
»Wo ist die Leiche?« fragte der Arzt.
Giraud trat ein wenig zur Seite. »Dort in der Ecke. Er ist ins Herz gestochen, wie Sie bemerken konnen. Und mit dem Dolch, der gestern fruh entwendet wurde. Ich denke, da? der Mord knapp nach dem Diebstahl erfolgte - aber an Ihnen ist es, dies festzustellen. Sie konnen den Dolch nach Belieben drehen, es sind keine Fingerabdrucke darauf.«
Der Arzt kniete an der Seite des Toten nieder, und Giraud wandte sich dem Untersuchungsrichter zu.
»Nettes, kleines Ratsel, nicht? Doch ich will es losen.«
»Und da niemand ihn identifizieren kann«, bemerkte der Richter, »konnte es nicht vielleicht einer der Morder sein? Vielleicht haben sie sich uberwerfen?«
Giraud schuttelte den Kopf: »Der Mann ist Franzose - ich mochte einen Eid darauf schworen -«
Aber in diesem Augenblick wurden sie durch den Arzt unterbrochen, der mit verblufftem Gesicht auf seinen Fersen hockte. »Sie meinen, da? er gestern fruh ermordet worden sei?«
»Ich schatze, so nach dem Diebstahl des Dolches«, erklarte Giraud. »Er konnte allerdings auch erst spater am Tage ermordet worden sein.«
»Spater am Tage? Dieser Mann ist mindestens achtundvierzig Stunden tot, und moglicherweise noch langer.« Wir blickten uns in starrem Staunen an.
15
Was der Doktor sagte, klang so erstaunlich, da? wir zu traumen wahnten. Hier lag ein Mann, von einem Dolch durchbohrt, der erwiesenerma?en erst vor vierundzwanzig Stunden gestohlen worden war, und nun behauptete Dr. Durand nachdrucklich, da? dieser Mann schon achtundvierzig Stunden tot sein musse. Das Ganze schien phantastisch bis zum au?ersten. Wir hatten uns von dem Staunen uber des Doktors Eroffnung noch nicht erholt, als mir ein Telegramm uberreicht wurde. Es war mir vom Hotel zur Villa nachgeschickt worden. Ich ri? es auf. Poirot meldete mir seine Ruckkehr mit dem Zuge, der um 12 Uhr 28 Minuten in Merlinville eintraf.
Ich blickte auf die Uhr und sah, da? mir eben noch Zeit blieb, um gemachlich zum Bahnhof zu schlendern, um ihn abzuholen. Ich fuhlte, wie uberaus wichtig es war, da? er sofort von der neuen und uberraschenden Wendung der Dinge Kenntnis erhielt.
Augenscheinlich, uberlegte ich, hatte - Poirot in Paris ohne Schwierigkeiten das gefunden, was er suchte. Die Schnelligkeit seiner Ruckkehr bewies das. Nur wenige Stunden hatten genugt. Ich war begierig, wie er die aufregende Neuigkeit aufnehmen wurde.
Der Zug verspatete sich um einige Minuten, und ich wanderte planlos auf dem Perron auf und nieder, bis mir einfiel, da? ich die Zeit damit ausfullen konne, einige Fragen uber jene Passagiere zu stellen, die in der verhangnisvollen Nacht Merlinville mit dem letzten Zuge verlassen hatten.
Ich machte mich an einen der Beamten heran, und es gelang mir ohne erhebliche Schwierigkeiten, ein Gesprach uber dieses Thema mit ihm anzuknupfen. Es sei eine Schmach fur die Polizei, erhitzte er sich, da? solche Rauber und Morder frei umherliefen. Ich gab der Vermutung Ausdruck, da? sie vielleicht mit dem Zug um Mitternacht abgereist sein konnten, was er mit gro?er Bestimmtheit zuruckwies. Zwei Fremde? Die hatte er bemerkt - da konne ich beruhigt sein. Nur ungefahr zwanzig Personen seien mit diesem Zuge abgereist, und Unbekannte waren ihm bestimmt aufgefallen.
Ich wei? nicht, wieso mir der Einfall kam - vielleicht beeinflu?t von der gro?en Angst, die aus Marthe Daubreuils Stimme geklungen hatte -, aber ich fragte plotzlich: »Reiste nicht auch der junge Renauld mit diesem Zuge?«
»Ach nein, Monsieur. Es ist wohl nicht gut moglich, innerhalb einer halben Stunde anzukommen und wieder abzureisen!«
Ich starrte den Mann an. Zuerst erfa?te ich die Bedeutung seiner Worte nicht ganz. Dann begriff ich.
»Wollen Sie damit sagen«, fragte ich, und mein Herz schlug schneller, »da? Monsieur Jack Renauld an jenem Abend in Merlinville ankam?«
»Aber ja, Monsieur, mit dem letzten Zug aus der entgegengesetzten Richtung, um 11 Uhr 40.«
Ich taumelte fast. Dies also war die Ursache von Marthes heftiger Angst. Jack Renauld war in der Nacht des Verbrechens in Merlinville gewesen. Aber warum gestand er es nicht ein? Weshalb veranla?te er uns zu glauben, da? er in Cherbourg geblieben war? Wenn mir sein offenes, knabenhaftes Auftreten einfiel, konnte ich mich nicht zu dem Glauben durchringen, da? er in irgendeinem Zusammenhang mit dem Verbrechen stehen konne. Doch weshalb verschwieg er dann eine so uberaus wichtige Tatsache? Eines war gewi?, Marthe hatte es schon die ganze Zeit uber gewu?t. Daher ihre Furcht und ihre Frage an Poirot, ob irgend jemand verdachtigt werde.
Die Ankunft des Zuges unterbrach meinen Gedankengang, und einen Augenblick spater begru?te ich Poirot. Der kleine Mann war in bester Laune. Er strahlte und sprach laut auf mich ein, er umarmte mich vor allen Leuten, trotz meiner englischen Zuruckhaltung, die er vollig vergessen zu haben schien.
»Mein lieber Freund - ich hatte Erfolg - fabelhaften Erfolg!«
»Wirklich? Ich freue mich sehr, das zu horen. Wei?t du schon das Neueste von hier?«
»Woher sollte ich es wissen? Gab es neue Entwicklungen? Hat der wackere Giraud jemanden verhaftet? Oder vielleicht gar mehrere? Der wird Augen machen! Aber wohin fuhrst du mich, mein Freund! Gehen wir denn nicht ins Hotel? Ich mu? meinen Schnurrbart in Ordnung bringen, der durch die Hitze der Fahrt sehr gelitten hat. Dann ist mein Rock gewi? auch sehr staubig. Und meine Krawatte wird frisch gebunden werden mussen.«
Kurzerhand unterbrach ich seine Vorstellungen.
»Mein lieber Poirot - was macht das alles. Wir mussen sofort zur Villa. Es ist noch ein Mord verubt worden.«
Oft schon hatte ich Enttauschungen erlebt, wenn ich meinem Freunde wichtige Mitteilungen machte. Entweder bedeuteten sie ihm nichts Neues, oder er nahm sie als belanglos auf die leichte Achsel - und dann gaben ihm die Ereignisse immer recht. Aber diesmal konnte ich nicht daruber klagen, da? ich zu wenig Eindruck gemacht hatte. Noch niemals sah ich einen so entgeisterten Menschen. Sein Plaudern verstummte. Alle Munterkeit schwand aus seinem Wesen. Er starrte mich mit offenem Munde an.
»Was sagst du da? Noch ein Mord? Ach, dann habe ich ja unrecht. Dann habe ich mich geirrt. Giraud mag sich nur uber mich lustig machen - er wird Grund dazu haben!«
»Du hast das also nicht erwartet?«
»Ich? Nicht im entferntesten. Es vernichtet meine Theorie - es vernichtet alles - es - o nein! Es ist unmoglich. Ich kann mich nicht geirrt haben! Die Tatsachen, wenn man sie systematisch nimmt, und ihre wirkliche Aufeinanderfolge lassen nur eine Erklarung zu. Ich mu? recht haben! Ich habe recht!«
»Aber dann -«
Er unterbrach mich: »Warte, mein Freund. Ich mu? recht haben, daher ist dieser neue Mord unmoglich - au?er - au?er -o warte. Ich beschwore dich. Sag kein Wort.« Er schwieg ein Weilchen, dann verfiel er wieder in seine normale Art und sagte mit ruhiger, zuversichtlicher Stimme: »Das Opfer ist ein Mann mittleren Alters. Sein Leichnam wurde in dem versperrten Schuppen in der Nahe des ersten Tatortes gefunden. Er war mindesten schon achtundvierzig Stunden tot. Hochstwahrscheinlich kam er auf die gleiche Art ums Leben wie Monsieur Renauld, aber er mu? nicht auch von ruckwarts erstochen worden sein.«
Nun war es an mir, ihn anzugaffen - und ich tat es. Soweit ich mich entsinnen konnte, hatte Poirot noch nie etwas so Erstaunliches geleistet. Und fast unvermeidlich schossen mir Zweifel durch den Kopf.
»Poirot«, schrie ich, »du haltst mich zum besten. Du wusstest schon alles.«
Doch er blickte mich ernst und vorwurfsvoll an. »Wurde ich so etwas tun? Ich versichere dir, da? ich nichts dergleichen horte. Merktest du denn nicht, wie sehr die Nachricht mich erschutterte?«
»Aber wie, um Himmels willen, konntest du das alles wissen?«