Etwa zwanzig Jahre vor Beginn unserer Erzahlung kam Monsieur Arnold Beroldy, ein geburtiger Lyoneser, mit seiner hubschen Frau und ihrem kleinen Tochterchen, das fast noch ein Baby war, nach Paris. Monsieur Beroldy war der jungste Teilhaber einer Weinfirma, ein unscheinbarer Mann in mittleren Jahren, der angenehmes Leben und gute Dinge liebte, seiner reizenden Gattin treu ergeben und durchaus unbedeutend war. Die Firma, die Monsieur Beroldy in Paris leitete, gehorte zu den kleineren Unternehmungen, und obwohl sie gut ging, warf sie fur den jungsten Kompagnon kein gro?es Einkommen ab. Die Beroldys bewohnten eine kleine Wohnung und lebten zuerst auf sehr bescheidenem Fu?e.
Aber so unbedeutend Monsieur Beroldy auch war, so sehr verstand es seine Frau, sich mit einem Schimmer von Romantik zu umgeben. Jung und hubsch und von eigenartig reizendem Wesen, erregte Madame Beroldy sofort Aufsehen in ihrem Bezirk, besonders als Geruchte aufkamen, da? irgendein interessantes Geheimnis uber ihrer Herkunft schwebe. Es wurde geflustert, da? sie die illegitime Tochter eines russischen Gro?fursten, sei. Andere behaupteten, da? es ein osterreichischer Erzherzog gewesen und da? sie einer gesetzlichen, obgleich morganatischen Verbindung entsprossen ware. Aber alle Erzahlungen hatten das eine gemeinsam, da? sie Jeanne Beroldy in den Mittelpunkt eines interessanten Geheimnisses stellten. Von Neugierigen befragt, leugnete Madame Beroldy die Geruchte nicht. Andererseits lie? sie deutlich durchblicken, da?, obwohl ihre »Lippen versiegelt« seien, alle diese Geschichten auf wahrer Grundlage beruhten. Vertrauteren Freunden gegenuber erleichterte sie ihr Herz, sprach von politischen Intrigen, von »Papieren« und dunklen Gefahren, die ihr drohten. Es wurde auch viel von Kronjuwelen gesprochen, die insgeheim verkauft werden sollten, wobei ihr die Rolle einer Vermittlerin zugefallen sei.
Unter den Freunden und Bekannten der Beroldys befand sich ein junger Rechtsanwalt namens Georges Conneau. Bald war es offenbar, da? die bezaubernde Jeanne sein Herz in Banden geschlagen hatte. Madame Beroldy ermunterte den jungen Mann auf unauffallige Weise, war aber immer darauf bedacht, ihre Neigung zu ihrem alternden Gatten zu betonen. Was aber so manche gehassige Leute nicht hinderte, zu erklaren, da? der junge Conneau ihr Geliebter sei - und nicht der einzige.
Als die Beroldys drei Monate in Paris verbracht hatten, erschien noch eine Personlichkeit auf dem Plan. Mr. Hiram P. Trapp, ein sehr wohlhabender Amerikaner. Kaum in den Bannkreis der bezaubernden, geheimnisvollen Madame Beroldy gelangt, war er auch schon ihren Verfuhrungskunsten erlegen. Seine Verehrung war offenkundig, wenn auch streng innerhalb der erlaubten Grenzen.
Um diese Zeit nahmen Madame Beroldys vertrauliche Mitteilungen gro?eren Umfang an. Sie deutete mehreren Freunden an, da? sie um ihres Mannes willen in gro?er Sorge sei. Sie erklarte, er ware in mancherlei politische Plane verwickelt worden, erwahnte auch verschiedene wichtige Papiere, die man ihm zur Aufbewahrung anvertraut habe und die ein »Geheimnis« betrafen, das von weitreichender europaischer Bedeutung sei. Sie seien ihrer Obhut ubergeben worden, um die Verfolger auf falsche Spur zu lenken, aber sie lebe in standiger Furcht, da sie mehrere Mitglieder der, revolutionaren Verbindung in Paris gesehen habe.
Am 28. November platzte die Bombe. Die Aufwartefrau, die taglich kam, um den Haushalt der Beroldys zu besorgen, fand zu ihrem Erstaunen die Wohnungstur weit geoffnet. Sie vernahm leises Stohnen aus dem Schlafzimmer und trat ein. Ein furchtbarer Anblick bot sich ihr. Madame Beroldy lag auf dem Boden, war an Handen und Fu?en gefesselt und stohnte leise, nachdem es ihr gelungen war, ihren Mund von einem Knebel frei zu machen. Auf dem Bett lag Monsieur Beroldy in einer Blutlache mit einem Messer im Herzen. Madame Beroldys Erzahlung war ziemlich klar. Plotzlich erwacht, habe sie zwei maskierte Manner erblickt, die sich uber sie neigten. Um ihre Hilferufe zu unterdrucken, hatten diese sie geknebelt und gefesselt. Dann hatten sie von Monsieur das beruhmte »Geheimnis« gefordert.
Jedoch der unerschrockene Weinhandler habe ihr Verlangen abgeschlagen. Durch seine Weigerung erbost, habe nun einer der Manner ihn erdolcht. Mit den Schlusseln des Ermordeten hatten sie dann einen Safe in der Ecke des Zimmer geoffnet und eine Menge Papiere von dort mit sich fortgefuhrt. Beide Manner trugen machtige Barte und Masken, jedoch Madame Beroldy behauptete steif und fest, da? es Russen gewesen seien.
Die Sache erregte ungeheures Aufsehen. Unter verschiedenen. Titeln wurde Bericht daruber erstattet: »Nihilistische Grausamkeit« oder »Revolutionare in Paris« oder »Das russische Geheimnis«. Die Zeit verging, und niemals kam man den bartigen Mannern auf die Spur. Und dann, eben als das Interesse im Publikum zu erlahmen drohte, ereignete sich ein uberraschender Zwischenfall: Madame Beroldy wurde verhaftet und des Mordes an ihrem Gatten angeklagt.
Als es zur Verhandlung kam, erhoben sich die widersprechendsten Meinungen. Jugend und Schonheit der Angeklagten und ihre geheimnisvolle Geschichte hatten genugt, um die Sache zu einer Sensation zu machen. Die Leute nahmen heftig fur und wider die Angeklagte Partei. Jedoch die Begeisterung ihrer Anhanger erlitt manch schwere Schlappe. Die romantische Vergangenheit von Madame Beroldy, ihr konigliches Blut und die geheimnisvollen Intrigen, in denen sie sich so lange gefallen hatte, wurden als blo?e Erfindungen ihrer Einbildungskraft festgestellt.
Man bewies einwandfrei, da? Jeanne Beroldys Eltern hochanstandige prosaische Obsthandler in einem Vorort von Lyon gewesen waren. Der russische Gro?furst, die Hofintrigen und die politischen Umtriebe - all die umlaufenden Geschichten wurden auf die schone Dame selbst zuruckgefuhrt! Ihrem Hirn waren diese naiven Marchen entsprungen, und es wurde nachgewiesen, da? sie erhebliche Summen von verschiedenen leichtglaubigen Personen auf die ,Kronjuwelen' hin erhalten hatte - jener Kronjuwelen, die als ganz gewohnliche Glasfalschungen erkannt wurden. Grausam wurde ihre ganze Lebensgeschichte blo?gestellt. Der Grund fur die Ermordung wurde in Mr. Hiram P. Trapp gefunden. Mr. Trapp tat, was er konnte, aber unter scharfem, unbarmherzigem Kreuzverhor sah er sich genotigt, schlie?lich zuzugeben, da? er die Dame liebe und da? er sie, ware sie frei gewesen, gebeten hatte, seine Gattin zu werden. Die Tatsache, da? die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen platonischer Natur waren, bekraftigte noch den Verdacht gegen die Angeklagte. Durch den einfachen, ehrenhaften Charakter des Mannes davor bewahrt, seine Geliebte zu werden, hatte Jeanne Beroldy den ungeheuerlichen Plan ausgeheckt, sich ihres altlichen, uneleganten Mannes zu entledigen, um die Gattin des reichen Amerikaners zu werden.
Ihren Anklagern gegenubergestellt, bewahrte Madame Beroldy unentwegt ihre Ruhe und Selbstbeherrschung. Nie wich sie von ihren Behauptungen ab. Immer wieder erklarte sie kuhn, da? sie koniglicher Abstammung sei, da? sie in fruhestem Kindesalter mit dem Tochterchen des Obsthandlers vertauscht worden sei. So lacherlich und vollig aus der Luft gegriffen diese Behauptungen auch waren, glaubten doch eine Menge Leute unbedingt an deren Wahrheit. Die Anklage jedoch war unerbittlich. Sie erklarte, die »maskierten Russen« seien ein Marchen und behauptete, das Verbrechen sei von Madame Beroldy und ihrem Geliebten Georges Conneau verubt worden. Gegen letzteren wurde ein Haftbefehl erlassen, aber er war klugerweise verschwunden. Die Untersuchung ergab ferner, da? die Stricke, mit denen Madame Beroldy gefesselt worden war, eine Selbstbefreiung leicht ermoglichten.
Und dann, gegen Endes des Prozesses, kam ein in Paris aufgegebener Brief an den Staatsanwalt. Der Brief war von Georges Conneau, der, ohne seinen Aufenthalt zu verraten, ein restloses Bekenntnis ablegte. Er gestand, auf Madame Beroldys Anstiften wirklich den fatalen Sto? gefuhrt zu haben. Der Plan zu dem Verbrechen sei von ihnen beiden entworfen worden. In dem Glauben, da? sie von dem Gatten schlecht behandelt werde, und von seiner Leidenschaft fur sie hingerissen, habe er die Tat verubt, die der geliebten Frau Befreiung aus verha?ten Banden bringen sollte. Nun zum erstenmal horte er von Mr. Hiram P. Trapp, und da war es ihm zum Bewu?tsein gekommen, da? die Frau, die er liebte, ihn betrogen habe! Nicht seinetwegen hatte sie die Freiheit herbeigesehnt, sondern um den reichen Amerikaner heiraten zu konnen. Sie hatte ihn als Werkzeug verwendet, und in seiner eifersuchtigen Wut verriet er sie, indem er angab, da? sie die Anstifterin des von ihm begangenen Verbrechens gewesen sei.
Und dann erwies sich Madame Beroldy als die bedeutende Frau, die sie zweifellos war. Ohne zu zogern, gab sie ihre ursprungliche Verteidigung auf und gestand, da? die »Russen« nur ihre eigene Erfindung gewesen seien. Der wirkliche Morder sei Georges Conneau gewesen. Toll vor Leidenschaft, habe er das Verbrechen begangen, habe aber auch gedroht, da? er furchtbare Rache uben wolle, falls sie nicht Stillschweigen bewahren werde. Durch seine Drohungen eingeschuchtert, habe sie Schweigen gelobt - ein wenig auch aus Angst, da? sie der Mitschuld angeklagt werden konne, wenn sie die Wahrheit erzahle. Aber sie habe sich standhaft geweigert, je wieder mit dem Morder ihres Gatten zu tun zu haben, und nur aus Rache, als sie auf ihrem Standpunkt beharrte, habe er den sie belastenden Brief geschrieben. Sie schwor feierlich, da? sie mit dem Plan des Verbrechens nichts zu schaffen habe und da? sie, als sie in jener denkwurdigen Nacht erwachte, Georges Conneau uber sich geneigt erblickte, mit dem blutbefleckten Messer in der Hand.