»Was willst du damit sagen?«
»Wir sprechen ein wenig aneinander vorbei. Es handelt sich hier nicht um ein, sondern um zwei Verbrechen. Das erste habe ich gelost, des zweiten - ja, ich mu? gestehen, bin ich nicht ganz sicher.«
»Aber Poirot, ich dachte, du sagtest, der Mann in dem Schuppen sei eines naturlichen Todes gestorben?«
»Ta, ta, ta.« Dies war Poirots Lieblingsausruf, wenn er ungeduldig war. »Noch immer verstehst du nicht. Man kann ein Verbrechen haben, ohne den Morder, aber fur zwei Morde sind zwei Leichname notig.«
Seine Bemerkung ermangelte so sehr jeglicher Klarheit, da? ich ihn besorgt anblickte. Aber er schien vollkommen normal. Plotzlich erhob er sich und ging zum Fenster.
Ich folgte ihm, auf eine Uberraschung gefa?t.
»Da ist er«, bemerkte er.
»Wer?«
»Monsieur Jack Renauld. Ich sandte eine Zeile nach der Villa, um ihn hierher zu bitten.«
Das gab meinen Gedanken eine andere Richtung, und ich fragte Poirot, ob er wisse, da? Jack Renauld in der Nacht des Verbrechens in Merlinville gewesen war. Ich hoffte, meinen listigen kleinen Freund bei einer Unwissenheit zu ertappen, aber wie gewohnlich war er allwissend. Auch er hatte auf dem Bahnhof Erkundigungen eingezogen.
»Ohne Zweifel hatten nicht wir allein diesen Einfall, Hastings. Der wackere Giraud durfte seine Forschungen auch bis dorthin erstreckt haben.«
»Du glaubst doch nicht« - sagte ich und hielt inne. »Ach nein, das ware furchterlich!«
Poirot betrachtete mich prufend, doch ich sprach nicht weher. Es fiel mir ein, da? sieben Frauen mehr oder weniger direkt in den Fall verwickelt waren - Madame Renauld, Madame Daubreuil und ihre Tochter, die geheimnisvolle Besucherin und die drei Dienstmadchen, denen mit Ausnahme des alten Auguste, der kaum zu zahlen war, nur ein Mann -Jack Renauld - gegenuberstand. Und ein Mann mu?te das Grab gegraben haben.
Es fehlte mir die Zeit, den Gedanken, der mir gekommen war, auszusprechen, denn Jack Renauld wurde eben gemeldet. Poirot begru?te ihn formlich.
»Nehmen Sie Platz, Monsieur. Ich bedauere unendlich, da? ich Sie hierher bemuhen mu?te, aber Sie begreifen vielleicht, da? die Atmosphare der Villa mir nicht zu sympathisch ist. Monsieur Giraud und ich sind nicht immer der gleichen Ansicht. Er la?t es mir gegenuber oftmals an Hoflichkeit fehlen, und Sie begreifen, da? ich nicht geneigt bin, ihn aus etwaigen kleinen Entdeckungen, die ich machen konnte, Vorteil ziehen zu lassen.«
»Ja, Monsieur Poirot«, sagte der junge Mann. »Ihr Kollege Giraud ist ein ekelhafter Mensch, und ich ware entzuckt, wenn ihn jemand in den Schatten stellte.«
»Dann darf ich Sie wohl um eine kleine Gefalligkeit ersuchen?«
»Gewi?.«
»Ich mochte Sie bitten, sich nach dem Bahnhof zu begeben und mit dem nachsten Zug nach Abbalac zu reisen. Fragen Sie in der Gepackaufbewahrung, ob zwei Fremde in der Mordnacht eine Handtasche hinterlegten. Es ist nur eine kleine Station, und man wird sich dort sicher erinnern konnen. Wollen Sie das tun?«
»Gewi? will ich das«, sagte der Jungling etwas unsicher.
»Ich und mein Freund, mussen Sie wissen, sind anderwarts beschaftigt«, erklarte Poirot. »In einer Viertelstunde fahrt ein Zug, und ich mochte Sie bitten, vorher nicht mehr in die Villa zuruck zukehren, da es mir unerwunscht ware, wenn Giraud eine Ahnung von diesem Auftrag hatte.«
»Sehr gut, ich gehe direkt zum Bahnhof.«
Er erhob sich.
Poirot hielt ihn noch zuruck. »Einen Augenblick, Monsieur Renauld, da ist eine kleine Sache, die mir zu denken gibt. Warum erwahnten Sie heute fruh Monsieur Hautet gegenuber nicht, da? Sie in der verhangnisvollen Nacht in Merlinville waren?«
Jack Renaulds Gesicht wurde blutrot. Es kostete ihn Muhe, sich zu beherrschen. »Sie irren. Ich war in Cherbourg, wie ich es dem Untersuchungsrichter heute morgen mitteilte.«
Wie eine Katze kniff Poirot die Augen zusammen, da? nur grunliche Spalten blieben.
»Dann mu? mir aber ein seltsamer Irrtum widerfahren sein - der auch dem ganzen Bahnhofpersonal widerfuhr. Sie sagen namlich alle, da? Sie mit dem Zug um 11 Uhr 40 hier angekommen seien. Einen Augenblick zogerte Jack Renauld, dann schien er entschlossen: »Und wenn es so gewesen ware? Ich hoffe. Sie wollen mich nicht der Mitschuld an der Ermordung meines Vaters bezichtigen?« Hochmutig kam die Frage von seinen Lippen, er warf den Kopf zuruck.
»Ich hatte gern eine Erklarung, was Sie hierher zog.«
»Das ist sehr einfach. Ich kam, um meine Braut, Mademoiselle Daubreuil, zu besuchen. Ich stand unmittelbar vor einer langen Reise, ganz ungewi?, wann ich zuruckkehren wurde. Es drangte mich, sie noch einmal zu sehen, ehe ich reiste, und sie meiner unwandelbaren Zuneigung zu versichern.«
»Und sahen Sie sie?« Poirot lie? ihn nicht aus den Augen.
Nach kurzer Pause antwortete Renauld: »Ja.«
»Und dann?«
»Entdeckte ich, da? ich den letzten Zug versaumt hatte. Ich ging zu Fu? bis St. Beauvais, wo ich einen Wagen mietete, der mich nach Cherbourg zuruckbrachte.«
»St. Beauvais? Das sind funfzehn Kilometer. Ein langer Spaziergang, Monsieur Renauld.«
»Ich - ich hatte das Bedurfnis zu laufen.«
Poirot neigte den Kopf, zum Zeichen, da? ihm diese Erklarung genuge. Jack Renauld ergriff Stock und Hut und entfernte sich. Im Nu war Poirot auf den Beinen.
»Schnell, Hastings. Gehen wir ihm nach.«
In entsprechender Entfernung von unserem Wild folgten wir ihm durch die Stra?en von Merlinville. Aber als Poirot merkte, da? er direkt auf den Bahnhof zusteuerte, hemmte er den Schritt.
»Alles in Ordnung. Er ist auf den Leim gegangen. Er wird nach Abbalac fahren und dort nach der nicht existierenden Handtasche der noch weniger existierenden Fremdlinge forschen. Ja, mon ami, dies war ein hubscher kleiner Einfall von mir.«
»Du wolltest ihn aus dem Wege haben?« rief ich.
»Dem Scharfsinn ist verbluffend, Hastings. Jetzt wollen wir mit deiner Erlaubnis zur Villa Genevieve hinaufgehen.«
18
»Ubrigens, Poirot«, sagte ich, als wir die staubige Stra?e entlangwanderten, »habe ich ein Huhnchen mit dir zu rupfen. Ich gebe zu, du meintest es gut, aber es schickte sich wirklich nicht, hinter meinem Rucken im Hotel du Phare herumzuschnuffeln.« Poirot warf mir einen schnellen Seitenblick zu.
»Woher wei?t du denn, da? ich dort war?« erkundigte er sich.
Zu meinem gro?ten Mi?vergnugen fuhlte ich, wie mir das Blut in die Wangen stieg. »Ich trat im Vorbeigehen ein«, erklarte ich mit so viel Wurde, wie ich aufbringen konnte.
Ich furchtete Poirots Spott, aber zu meiner Erleichterung und ein wenig auch zu meinem Staunen schuttelte er ungewohnlich ernst den Kopf.
»Ich bitte dich um Verzeihung, falls ich deine Empfindlichkeit irgendwie verletzte. Du wirst bald besser begreifen. Aber glaube mir, ich bin bestrebt, all meine Krafte auf den Fall zu konzentrieren.«
»Oh, es ist alles in Ordnung«, sagte ich, durch seine Entschuldigung versohnt. »Ich wei?, du willst das Beste. Aber ich kann mich selbst beaufsichtigen.«
Poirot wollte noch etwas sagen, unterdruckte es aber dann. Bei der Villa angelangt, wahlte er den Weg zu der Hutte, in welcher der zweite Leichnam gefunden worden war. Er trat jedoch nicht ein, sondern blieb bei jener Bank stehen, die, wie ich schon erwahnte, einige Schritte davon entfernt stand. Nachdem er sie ein Weilchen betrachtet hatte, schritt er aufmerksam von dort zur Hecke, welche die Grenze zwischen der Villa Genevieve und der Villa Marguerite bildete. Dann ging er wieder zuruck und nickte mit dem Kopf. Als er nochmals zur Hecke zuruckkam, bog er die Straucher mit den Handen auseinander.