»Aber wird Giraud nicht schon alles durchwuhlt haben?« fragte ich argwohnisch.
»Gewi?. Er baut einen Fall, wie der Biber einen Damm, mit unermudlichem Flei?. Aber er wird nicht jenen Dingen Beachtung geschenkt haben, die ich suche. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er auch deren Bedeutung nicht erfa?t, wenn sie ihm ins Gesicht gesprungen waren.«
Ordnungsliebend und systematisch offnete Poirot eine Lade nach der anderen, prufte deren Inhalt und legte alles wieder genau an seinen Platz. Es war eine eigentumlich langweilige und uninteressante Beschaftigung. Poirot arbeitete sich durch Kragen, Pyjamas und Socken durch. Ein Gerausch von drau?en lockte mich ans Fenster.
Sofort fuhr ich wie elektrisiert herum.
»Poirot«, schrie ich, »eben fuhr ein Wagen vor. Giraud sitzt darin mit Jack Renauld und zwei Gendarmen.«
»Donnerwetter!« brummte Poirot. »Konnte Giraud, dieses Vieh, nicht warten? Ich werde keine Zeit mehr haben, die Sachen, wie es sich gehort, in die letzte Lade einzuraumen. Wir mussen uns beeilen.«
Unordentlich warf er alles zu Boden, es waren hauptsachlich Krawatten und Taschentucher. Plotzlich sturzte er sich mit einem Siegesruf auf ein kleines, rechteckiges Stuck Pappendeckel, offenbar eine Fotografie. Er versenkte sie in seine Tasche, warf alles kunterbunt wieder in die Lade zuruck, packte mich am Arm und lief mit mir die Treppe hinab. In der Halle stand Giraud und betrachtete seinen Haftling.
»Guten Tag, Monsieur Giraud«, sagte Poirot. »Was ist denn hier geschehen?«
Giraud deutete auf Jack.
»Er wagte einen Fluchtversuch, aber ich war scharf hinter ihm her. Er wurde verhaftet wegen Verdacht des Mordes, begangen an seinem Vater, Monsieur Paul Renauld.«
Poirot wandte sich unvermittelt an den jungen Mann, der schlaff, mit aschfahlem Gesicht, an der Tur lehnte.
»Was sagen Sie dazu?«
Jack Renauld starrte unbeweglich auf ihn.
»Nichts«, war seine Antwort.
19
Ich war sprachlos. Bis zuletzt hatte ich mich nicht dazu entschlie?en konnen, an Jack Renaulds Schuld zu glauben. Ich hatte nach Poirots Aufforderung laute Unschuldsbeteuerungen erwartet. Aber nun, als ich ihn so bleich und schlaff an der Wand lehnen sah und das belastende Zugestandnis aus seinem eigenen Munde horte, zweifelte ich nicht langer.
Aber Poirot hatte sich an Giraud gewandt. »Was fur Grunde hatten Sie, ihn zu verhaften?«
»Erwarten Sie, diese Grunde von mir zu erfahren?«
»Es ware ein Gebot der Hoflichkeit.«
Zweifelnd sah Giraud auf ihn. Er schwankte zwischen dem Verlangen, grob abzulehnen, und dem Vergnugen, uber seinen Gegner zu triumphieren.
»Sie denken vermutlich, da? ich einen Fehler beging?« spottete er.
»Es wurde mich nicht uberraschen«, erwiderte Poirot mit einem Anflug von Bosheit.
Dunkles Rot farbte die Wangen Girauds.
»Gut, treten Sie hier ein. Sie sollen selbst urteilen.«
Er stie? die Tur des Salons auf, wir traten ein und uberlie?en Jack Renauld der Obhut der beiden anderen Manner.
»Und nun, Monsieur Poirot«, sagte Giraud mit bei?endem Hohn und warf seinen Hut auf den Tisch, »will ich Ihnen einen kleinen Vortrag uber Detektivarbeit halten. Ich will Ihnen zeigen, wie die moderne Schule arbeitet.«
»Gut«, entgegnete Poirot. »Und ich werde Ihnen zeigen, wie ausgezeichnet die alte Garde lauschen kann.« Er lehnte sich zuruck, schlo? die Augen, offnete sie jedoch noch einmal zu einer kurzen Bemerkung: »Glauben Sie nicht, da? ich schlafe. Ich werde Ihrem Vortrag aufmerksam folgen.«
»Selbstredend«, begann Giraud, »durchschaute ich sehr bald den chilenischen Schwindel. Es waren zwei Manner in die Sache verwickelt - aber keine geheimnisvollen Fremden! All das war Unsinn.«
»Soweit sehr glaubwurdig, mein lieber Giraud«, murmelte Poirot. »Besonders nach Ihrem klugen Trick mit dem Zundholzchen und dem Zigarettenstumpf.«
Giraud sah wutend auf. »Ein Mann mu?te bei dem Mord die Hand mit im Spiel haben«, sagte er, »von ihm wurde das Grab ausgehoben ... Kein Mensch zieht wirklichen Vorteil aus dem Verbrechen, aber es gibt einen Mann, der vermutete, da? ihm daraus ein Vorteil erwachsen konne. Ich erfuhr von dem Streit zwischen Jack Renauld und seinem Vater und von den Drohungen, die er ausstie?. Das Motiv war gegeben. Jetzt weiter. Jack Renauld war in jener Nacht in Merlinville. Er verschwieg diese Tatsache - was den Verdacht in Gewi?heit verwandelte. Dann fanden wir das zweite Opfer - von demselben Dolch durchbohrt. Wir wissen, da? der Dolch entwendet wurde. Captain Hastings kann angeben, wann das geschah. Der einzige, der in Betracht kommt, ihn entwendet zu haben, ist der von Cherbourg hier ankommende Jack Renauld. Ich kann fur samtliche anderen Hausbewohner ein Alibi erbringen.«
Poirot unterbrach ihn. »Sie irren. Noch eine andere Person konnte den Dolch genommen haben.«
»Meinen Sie Gabriel Stonor? Er kam beim Haupteingang an und fuhr direkt mit dem Auto vor, das ihn von Calais brachte. Oh, glauben Sie mir, ich habe alles uberdacht.
Monsieur Jack Renauld kam mit dem Zug. Eine Stunde verging zwischen der Ankunft des Zuges und seinem Erscheinen in der Villa. Vermutlich sah er, wie Captain Hastings und seine Begleiterin die Hutte verlie?en.
Er schlupfte hinein, entwendete den Dolch und erstach damit im Schuppen seinen Helfershelfer -«
»Der schon tot war!«
Giraud zuckte mit den Achseln: »Vielleicht bemerkte er es nicht. Vielleicht glaubte er, da? er schlafe. Wahrscheinlich hatten sie fur dort eine Zusammenkunft verabredet. Jedenfalls wu?te er, da? ein zweiter Mord den Fall au?erordentlich komplizieren wurde. Was auch zutraf.«
»Aber es konnte Monsieur Giraud nicht tauschen«, flusterte Poirot.
»Sie spotten meiner. Aber ich will Ihnen einen letzten unwiderlegbaren Beweis geben. Madame Renaulds Aussage war falsch - eine Erfindung vom Anfang bis zum Ende. Wir glauben, da? Madame Renauld ihren Gatten liebte - und doch schutzt sie einen Morder! Fur wen aber lugt eine Frau? Manchmal fur sich selbst, gewohnlich fur den Mann, den sie liebt, immer aber fur ihre Kinder. Das ist der letzte untrugliche Beweis: Den konnen Sie nicht umgehen.« Triumphierend hielt Giraud inne. Poirot sah ihn ruhig an.
»Dies ist meine Ansicht«, sagte Giraud. »Was haben Sie darauf zu sagen?«
»Nur, da? Sie versaumten, eines in Betracht zu ziehen.«
»Und das ware?«
»Jack Renauld kannte vermutlich die Plane fur die Anlage der Golfplatze. Er wu?te also, da? der Leichnam fast sofort entdeckt werden mu?te, wenn man mit dem Ausgraben des Bunkers beganne.«
Giraud lachte laut: »Aber was Sie da sagen, ist ja blodsinnig! Er wollte doch, da? die Leiche gefunden werde! Ehe sie gefunden war, konnte der Tod nicht bescheinigt werden und Jack seine Erbschaft nicht antreten.«
Ich sah das grunliche Aufflackern in Poirots Augen, als er sich erhob. »Wozu begrub er ihn dann uberhaupt?« fragte er sehr sanft. »Uberlegen Sie doch, Giraud. Wenn es Jack Renauld zum Vorteil gereichte, da? der Leichnam unverzuglich gefunden wurde, wozu ihn dann uberhaupt begraben?«
Giraud antwortete nicht. Die Frage traf ihn unerwartet. Er zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, da? dies ohne Belang sei.
Poirot ging zur Tur. Ich folgte ihm.
»Noch eines ubersehen Sie«, sagte er uber die Schulter.
»Was denn?«
»Das Stuckchen Bleirohr«, sagte Poirot und verlie? das Zimmer.
Als wir aus dem Salon kamen, stand Jack noch immer bleich und regungslos in der Halle und sah forschend auf uns. Im selben Augenblick horten wir Schritte auf der Treppe. Madame Renauld kam herab. Der Anblick ihres