wirklich ein Versehen? Oder hatte sie mir wohluberlegt ihren Namen vorenthalten und eine falsche Adresse angegeben?
Je langer ich daruber nachdachte, um so mehr neigte ich zu der Oberzeugung, da? die letztere Vermutung richtig sei. Aus irgendeinem Grund war es ihr nicht erwunscht, die Bekanntschaft zur Freundschaft reifen zu lassen. Und obwohl dies genau meiner eigenen Absicht von vor einer halben Stunde entsprach, entzuckte es mich nicht, die Spitze nun gegen mich gerichtet zu sehen. Die ganze Sache war au?erst unerquicklich, und ich ging ubelgelaunt zur Villa Genevieve zuruck. Ich ging nicht in das Haus, sondern benutzte den Pfad, der zu der kleinen Bank neben der Hutte fuhrte, und lie? mich, noch recht verdrie?lich, dort nieder.
Doch der Klang von Stimmen in nachster Nahe lenkte meine truben Gedanken ab. Gleich darauf stellte ich fest, da? sie nicht aus dem Garten kamen, in dem ich mich befand, sondern aus dem angrenzenden Garten der Villa Marguerite, und da? sie sich schnell naherten. Ich horte eine Madchenstimme, eine Stimme, die ich als die der schonen Marthe erkannte.
»Liebling«, sagte sie, »ist es wirklich wahr? Sind alle unsere Sorgen voruber?«
»Das wei?t du, Marthe«, erwiderte Jack Renauld. »Nichts kann uns jetzt mehr trennen, Geliebte. Das letzte Hindernis zu unserer Verbindung ist beseitigt.«
»Nichts?« flusterte das Madchen. »O Jack, Jack - ich furchte mich.«
Ich ging vorsichtig zuruck, da ich merkte, da? ich unbeabsichtigterweise zum Horcher geworden war. Als ich aufblickte, sah ich die beiden durch einen Spalt in der Hecke. Sie hatten die Gesichter mir zugewendet, der Arm des Mannes lag um das Madchen, seine Augen blickten in die ihren. Sie waren ein wunderschones Paar, der dunkle, gut gewachsene Jungling und die blonde junge Gottin. Sie schienen wie fureinander geschaffen.
Aber das Gesicht des Madchens blickte verstort, und Jack Renauld schien es zu bemerkten, denn er zog sie naher an sich und fragte: »Aber wovor furchtest du dich, Liebling? Was gibt es - jetzt noch - zu furchten?«
Und dann sah ich den Blick in ihren Augen, den Blick, von dem Poirot gesprochen hatte. Sie flusterte, so da? ich die Worte fast erraten mu?te: »Ich furchte mich - fur dich!«
Die Antwort des jungen Renauld horte ich nicht, weil meine Aufmerksamkeit durch eine ungewohnliche Erscheinung abgelenkt wurde, die ich erst jetzt unten an der Hecke gewahrte! Dort glaubte ich einen braunen Strauch zu sehen - sonderbar! Ich ging auf ihn zu, aber bei meinem Naherkommen zog sich der braune Strauch eiligst zuruck, blickte mich an und legte den Finger an die Lippen. Es war Giraud.
Vorsichtig fuhrte er mich rund um die Hutte, bis wir au?er Horweite waren.
»Was machen Sie denn hier?« fragte ich.
»Genau dasselbe wie Sie - ich horchte.«
»Aber ich tat es nicht absichtlich!«
»Oh!« sagte Giraud. »Ich schon.«
Wie immer, bewunderte ich den Mann, obwohl ich ihn nicht leiden konnte. Er sah mich von oben herab, beinahe mi?billigend an.
»Sie nutzten der Sache nicht sehr, als Sie so hier hereinfielen. In einer Minute hatte ich vielleicht etwas sehr Wichtiges gehort. Wo haben Sie Ihr altes Fossil gelassen?«
»Monsieur Poirot ist nach Paris gefahren«, antwortete ich kuhl. »Und ich kann Ihnen sagen, Monsieur Giraud, da? er alles eher ist als ein altes Fossil. Er hat viele Falle entwirrt, die der englischen Polizei ein Ratsel waren.«
»Pah! Die englische Polizei!« Giraud schnalzte verachtlich mit den Fingern. »Sie scheint auf der gleichen Stufe zu stehen wie unsere Untersuchungsrichter. Er fuhr also nach Paris? Das ist gescheit. Aber was hofft er da zu finden?«
Mir schien, als klange aus dieser Frage ein unbehaglicher Unterton. Ich richtete mich auf.
»Ich bin nicht berechtigt, daruber zu sprechen«, sagte ich ruhig.
Giraud warf mir einen durchbohrenden Blick zu.
»Er hatte wahrscheinlich genugend Verstand, es Ihnen nicht zu sagen«, bemerkte er grob. »Guten Tag, ich habe zu tun.« Und damit drehte er sich auf dem Absatz herum und lie? mich stehen.
In der Villa Genevieve schienen die Dinge zu einem Stillstand gekommen zu sein. Giraud wunschte offenbar meine Gesellschaft nicht, und nach dem, was ich beobachtet hatte, war es mir fast gewi?, da? auch Jack Renauld auf sie verzichten konne.
Ich ging zur Stadt zuruck, nahm ein erquickendes Bad und begab mich in unser Hotel. Fruhzeitig ging ich zu Bett, gespannt, ob der kommende Tag wohl etwas Interessantes bringen werde.
Auf das, was er brachte, war ich aber durchaus nicht gefa?t. Ich war gerade im Begriff, im Speisesaal mein erstes Fruhstuck einzunehmen, als der Kellner, der drau?en mit irgend jemand gesprochen hatte, in sichtlicher Erregung hereinkam.
Er zogerte einen Augenblick, fingerte an seiner Serviette und brach dann los: »Monsieur wird verzeihen, aber Monsieur hangt doch mit der Affare in der Villa Genevieve zusammen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich lebhaft. »Warum?«
»Hat Monsieur noch nicht die Neuigkeit gehort?«
»Welche Neuigkeit?«
»Da? in der vergangenen Nacht noch ein Mord begangen worden ist!«
»Was?«
Ich lie? mein Fruhstuck stehen, ergriff meinen Hut und lief so schnell ich konnte. Noch ein Mord - und Poirot fort! Wie verhangnisvoll! Aber wer war ermordet worden? Ich eilte durch das Gittertor. Die Dienerschaft stand auf der Rampe und besprach aufgeregt das Ereignis. Ich stellte Francoise. »Was ist geschehen?«
»Monsieur! Monsieur! Wieder ein Ungluck! Es ist entsetzlich. Auf diesem Hause liegt ein Fluch. Aber ja, bestimmt, ein Fluch! Man sollte nach dem Herrn Pfarrer schicken, damit er geweihtes Wasser bringt. Keine weitere Nacht schlafe ich unter diesem Dache. Es konnte jetzt die Reihe an mir sein, wer wei??«
Sie bekreuzte sich.
»Ja«, schrie ich, »aber wer wurde eigentlich ermordet?«
»Wei? ich es denn? Ein Mann - ein Fremder. Sie fanden ihn dort oben, in dem Schuppen - keine hundert Ellen von dem Orte entfernt, an dem der arme Herr gefunden wurde. Und das ist noch nicht alles. Er wurde erstochen - mitten ins Herz -erstochen mit demselben Dolch!«
14
Ohne Weiteres abzuwarten, machte ich kehrt und lief nach dem Schuppen. Die beiden Manner, die dort Wache standen, traten zur Seite, und bebend vor Erregung trat ich ein.
Es war ein roher Holzbau, der dazu diente, altes Gartengeschirr und Geratschaften aufzubewahren. Trubes Dammerlicht fullte den Raum. Aber auf der Schwelle hemmte ich den Schritt, gefesselt durch den Anblick, der sich mir bot.
Giraud kroch auf allen vieren umher und beleuchtete mit einer Taschenlampe jede Spanne des Bodens; stirnrunzelnd sah er auf, als ich eintrat, dann hellten seine Zuge sich ein wenig auf, um einen geringschatzigen Ausdruck anzunehmen.
»Aha, der Englander! Treten Sie naher. Und zeigen Sie, was Sie hier herausbringen konnen!«
Durch seinen Ton etwas verletzt, gru?te ich fluchtig und trat naher.
»Dort ist er«, sagte Giraud und leuchtete mit dem Licht in eine entfernte Ecke.
Ich ging hinuber.
Der Tote lag gerade ausgestreckt auf dem Rucken. Er war mittelgro?, gebraunten Angesichts und etwa funfzig Jahre alt. Er trug einen guten, aber nicht mehr neuen dunkelblauen Anzug, dessen Schnitt die Hand eines teuren Schneiders verriet. Sein Gesicht war schrecklich verzerrt, und links, gerade oberhalb des Herzens, ragte schwarz und glanzend das Heft des Dolches. Ich erkannte ihn. Der gleiche Dolch, den ich am Morgen vorher in, dem Glaskrug gesehen hatte!
»Ich erwarte jeden Augenblick den Arzt«, erklarte Giraud. »Obwohl wir seiner kaum bedurfen. Woran der Mann starb, unterliegt keinem Zweifel. Er wurde ins Herz gestochen, und der Tod mu? augenblicklich eingetreten sein.«