Armbanduhr!«

Wieder die Armbanduhr! Poirot sah mich fragend an: »Siehst du das ein, mon ami? Begreifst du?«

»Nein«, antwortete ich etwas ubellaunig. »Ich sehe weder etwas ein, noch begreife ich es. Du tust immer so verdammt geheimnisvoll, und es ist ganz zwecklos, dich um Erklarungen zu bitten. Du liebst es, bis zum letzten Augenblick etwas im Hinterhalt zu haben.«

»Werde nicht zornig, mein Freund«, sagte Poirot lachelnd. »Ich will es dir erklaren, wenn du willst. Aber kein Wort davon zu Giraud, nicht wahr? Er behandelt mich, als gehorte ich langst zum alten Eisen. Das werden wir sehen! Als ehrlicher Mann gab ich ihm einen Wink. Wenn er es nicht fur notig halt, die Spur zu verfolgen, ist das seine Sache.«

Ich versicherte Poirot, da? er mit meiner Verschwiegenheit rechnen konne.

»Gut! La? uns jetzt einmal mit unseren kleinen grauen Zellen arbeiten. Sag mir, mein Freund, um wieviel Uhr spielte sich, deiner Ansicht nach, die Tragodie ab?«

»Nun, um zwei Uhr ungefahr«, sagte ich erstaunt. »Erinnere dich, Madame Renauld sagte uns, da? sie die Uhr schlagen horte, wahrend die Manner im Zimmer waren.«

»Ganz richtig, und damit gibst du dich ebenso wie der Untersuchungsrichter, wie Sie und alle anderen ohne Widerrede zufrieden. Aber ich, Hercule Poirot, behaupte, da? Madame Renauld log. Das Verbrechen fand mindestens zwei Stunden fruher statt!«

»Aber die Arzte ... «

»Die erklarten nach der Untersuchung des Leichnams, da? der Tod sieben bis zehn Stunden vorher eingetreten sei. Mon ami, aus irgendeinem Grunde war es notig, da? das Verbrechen anscheinend spater stattfand, als es tatsachlich der Fall war. Du hast doch sicher schon von Uhren gelesen, die genau zur Zeit des Verbrechens zertrummert wurden. Damit sich nun die Zeitangabe nicht nur auf Madame Renaulds Zeugenaussage stutzte, ruckte jemand die Zeiger der Armbanduhr auf zwei Uhr und warf sie dann mit Gewalt zu Boden. Aber wie es ofters vorkommt, wurden sie durch ihre eigene Waffe geschlagen. Das Glas zerbrach, doch das Werk blieb intakt. Das war ein hochst ungluckliches Manover, denn es lenkte meine Aufmerksamkeit sofort auf zwei Dinge - erstens darauf, da? Madame nicht die Wahrheit sprach, zweitens auf den Umstand, da? irgendein wesentlicher Grund vorliegen mu?te, um die Uhr vorzustellen.«

»Aber was konnte das fur ein Grund sein?«

»Oh, das ist eben die Frage! Da haben wir das ganze Geheimnis. Bis jetzt kann ich es nicht erklaren. Bisher kam mir nur ein Gedanke, der einen moglichen Zusammenhang gibt.«

»Und der ware?«

»Der letzte Zug verla?t Merlinville siebzehn Minuten nach Mitternacht.«

Langsam dammerte es mir.

»So da? also jemand, der mit diesem Zug abgereist ware, ein unanfechtbares Alibi gehabt hatte, wenn das Verbrechen erst zwei Stunden spater verubt worden ware.«

»Ausgezeichnet, Hastings! Du hast es erfa?t!«

Ich sprang auf: »Da mussen wir am Bahnhof nachfragen! Wenn zwei Fremde mit diesem Zug abgereist waren, wurde es zweifellos aufgefallen sein. Wir mussen sofort hin!«

»Glaubst du, Hastings?«

»Naturlich. Gehen wir gleich.«

Poirot hemmte meinen Eifer durch einen leichten Druck auf den Arm: »Gehe unbedingt, wenn du gehen willst - mon ami -, aber wenn du gehst, solltest du nicht ausdrucklich nach zwei Fremden fragen.«

Ich starrte ihn an, und er sagte etwas ungeduldig: »La, la, glaubst denn du all dies Geschwatz? Die maskierten Manner und das ubrige dieser Geschichte?«

Seine Worte verblufften mich derart, da? mir keine Antwort einfiel.

Ruhig sprach er weiter: »Hortest du nicht, wie ich zu Giraud sagte, da? die Einzelheiten dieses Verbrechens mich vertraut anmuteten? Eh bien, das kann zwei Voraussetzungen haben. Entweder entwarf ein und derselbe Kopf das erste sowohl als das zweite Verbrechen, oder ein gelesener Bericht uber einen ,beruhmten Fall' blieb im Unterbewu?tsein des Morders haften und fuhrte zur Wiederholung gewisser Einzelheiten. Ich werde mich erst endgultig dazu au?ern konnen, wenn -« Er sprach nicht weiter.

Alles mogliche ging mir durch den Kopf.

»Aber der Brief Monsieur Renaulds sprach doch ausdrucklich von einem Geheimnis und von Santiago?«

»Es gab bestimmt ein Geheimnis im Leben Monsieur Renaulds - daruber kann kein Zweifel sein. Das Wort Santiago dagegen kommt mir wie ein Irrlicht vor, das auf allen Wegen flackert, um von der richtigen Spur abzulenken. Vielleicht wurde es auch Monsieur Renauld gegenuber gebraucht, um seinen Argwohn von naher gelegenen Gegenden abzulenken. Oh, Hastings, glaube mir, die Gefahr, die ihm drohte, kam nicht aus Santiago, sie war in greifbarer Nahe, in Frankreich.« Er sprach so ernst und seiner Sache so sicher, da? er mich vollig uberzeugte.

Doch versuchte ich noch einen letzten Einwand: »Und das Zundholz und das Zigarettenende, die neben dem Leichnam gefunden wurden?« Was ist's mit diesen?«

Poirot lachelte uberlegen: »Hingelegt! Mit Bedacht hingelegt, fur Giraud und jemand seinesgleichen! Oh, er ist tuchtig, Giraud, er versteht sein Handwerk! Fast wie ein Spurhund! Und dann kommt er so selbstzufrieden daher. Stundenlang kroch er auf dem Bauch herum. ,Seht, was ich fand!' sagte er. Und dann zu mir: ,Was sehen Sie hier?' Und ich antwortete ihm voll tiefster, ehrlichster Uberzeugung: ,Nichts!' Und Giraud, der gro?e Giraud lacht, er denkt sich: ,Oh, ist das ein Dummkopf, dieser Alte!' Aber wir werden ja sehen ... «

Doch meine Gedanken kehrten zu den wichtigsten Tatsachen zuruck: »Und alle Erzahlungen von jenen maskierten Mannern-?«

»Sind falsch.«

»Was geschah nun wirklich?«

Poirot zuckte die Achseln.

»Ein Mensch konnte uns das sagen - Madame Renauld. Aber sie will nicht sprechen. Weder Drohungen noch Bitten werden das erreichen. Eine bedeutende Frau, Hastings. Gleich als ich sie sah, merkte ich, da? ich eine Frau von ungewohnlicher Charakterstarke vor mir habe. Zuerst, wie ich dir schon sagte, neigte ich zu der Ansicht, da? sie an dem Verbrechen beteiligt sei. Spater anderte ich meine Meinung.«

»Was veranla?te dich dazu?«

»Ihr unvermittelter und echter Schmerzensausbruch, als sie ihres Mannes Leichnam sah. Ich konnte schworen, die Qual in diesem Schrei war nicht gemacht.«

»Ja«, sagte ich nachdenklich, »das war wohl unverkennbar.«

»Entschuldige, lieber Freund - nichts ist unverkennbar. Nimm eine gro?e Schauspielerin; erschuttert es dich nicht, wenn sie Kummer mimt, und hast du nicht den Eindruck des Wirklichen? Nein, wie tief auch meine Ergriffenheit und - nein Mitempfinden waren, es bedurfte noch anderer Beweise, um mich zufriedenzugeben. Der gro?e Verbrecher ist oft ein guter Schauspieler. In diesem Fall beruht meine Gewi?heit nicht auf meinem eigenen Eindruck, sondern auf der unleugbaren Tatsache, da? Madame Renauld wirklich die Besinnung verlor.

Ich zog ihre Augenlider hoch und fuhlte ihren Puls. Da gab es keine Tauschung - die Ohnmacht war echt. Deshalb war ich uberzeugt, da? ihr Schmerz nicht gemacht war. Au?erdem eine nicht uninteressante kleine Einzelheit: es war durchaus nicht notig, da? Madame Renauld grenzenlosen Kummer zeigte. Sie hatte den Tod ihres Mannes bereits erfahren, und es bestand fur sie keine Notwendigkeit, noch einmal beim Anblick der Leiche einen zweiten, ebenso heftigen Schmerzensausbruch vorzutauschen. Nein, Madame Renauld war nicht die Morderin ihres Gatten. Aber weshalb log sie? Sie log, als es sich um die Armbanduhr handelte, und log, als die Rede auf die maskierten Manner kam — sie log auch noch in einer dritten Angelegenheit. Sag' mir, Hastings, wie erklarst du dir die offene Tur?«

»Nun«, meinte ich verlegen, »ich vermute, da? es sich um ein Versehen handelt. Man hatte vergessen, sie zu schlie?en.«

»Das ist Girauds Erklarung. Sie genugt mir nicht. Hinter der offenen Tur steckt etwas, was ich bis jetzt noch nicht ergrunden konnte.«

»Ich habe eine Idee«, rief ich plotzlich.

»Ausgezeichnet! La? horen.«

»Pa? auf. Wir stimmen uberein, da? die Erzahlung Madame Renaulds falsch ist. Konnte es nicht sein, da? Monsieur Renauld infolge einer Verabredung - vielleicht mit dem Morder - aus dem Hause ging und da? er die Tur

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