kenne. Sie bat mich, alles sehen zu durfen, was zu sehen war, und ich -kurz, ich holte den Schlussel und zeigte ihr den Leichnam.«

»Ah!« rief der Richter emport aus. »Da haben Sie einen groben Fehler begangen, Captain Hastings. Au?erdem ist es vollkommen unstatthaft. Sie hatten sich diese Unkorrektheit nicht erlauben durfen.«

»Das wei? ich«, gab ich zu. »Keine Ruge ist streng genug, Monsieur.«

»Sie forderten doch die Dame nicht auf, hierherzukommen?«

»Gewi? nicht. Ich traf sie ganz zufallig. Es ist eine Englanderin, die sich augenblicklich gerade in Merlinville aufhalt, was ich aber bis zu unserer zufalligen Begegnung nicht wu?te.«

»Gut, gut«, sagte der Richter besanftigt. »Es war au?erst ungehorig, aber zweifellos ist die Dame jung und schon. Was es doch ausmacht, jung zu sein!« Und er seufzte gefuhlvoll.

Jedoch der weniger gefuhlvoll und praktischer veranlagte Kommissar griff die Erzahlung auf: »Aber versperrten Sie die Tur, als Sie weggingen?«

»Das ist es ja«, sagte ich langsam. »Deshalb mache ich mir ja so schwere Vorwurfe. Meine Bekannte geriet uber den Anblick au?er Fassung. Sie fiel beinahe in Ohnmacht. Ich holte ihr etwas Brandy und Wasser und bestand darauf, sie bis zur Stadt zuruckzubegleiten. In meiner Aufregung verga? ich, die Tur zu versperren. Ich holte das erst nach, als ich spater zur Villa zuruckkehrte.«

»Daher war wenigstens zwanzig Minuten lang -« sagte der Kommissar langsam und hielt inne.

»So ist es«, sagte ich.

»Zwanzig Minuten .,.«, uberlegte der Kommissar.

»Es ist bedauerlich«, sagte M. Hautet und setzte wieder eine strenge Miene auf. »Ein noch nie dagewesener Fall.«

Plotzlich lie? sich eine andere Stimme vernehmen.

»Sie finden es bedauerlich?« fragte Giraud.

»Gewi? finde ich es.«

»Ich finde es ausgezeichnet«, sagte der andere undurchdringlich.

Der unverhoffte Bundesgenosse verwirrte mich.

»Ausgezeichnet, Monsieur Giraud?« fragte der Richter und sah ihn erstaunt von der Seite an.

»Ja.«

»Und warum?«

»Weil wir jetzt wissen, da? der Morder oder einer seiner Komplicen sich noch vor einer Stunde in der Nahe der Villa aufhielt. Es ware zu verwundern, wenn er nach diesem Beweis nicht binnen kurzem in unserer Gewalt ware.« Seine Stimme hatte einen drohenden Klang. Er fuhr fort: »Er wagte viel, um in den Besitz des Dolches zu gelangen. Vielleicht befurchtete er, da? Fingerabdrucke darauf gefunden werden konnten.«

Jetzt wandte sich Poirot an Bex: »Sie sagten, es seien keine auf dem Dolch gewesen?«

»Vielleicht war er dessen nicht ganz sicher«, warf Giraud ein.

Poirot warf mir einen Blick zu und sagte: »Sie irren sich, Monsieur Giraud. Der Morder trug Handschuhe. Also ... «

»Ich sage nicht, da? es der Morder selber war. Vielleicht war es ein Komplice, der diese Tatsache nicht kannte.«

Der Schreiber des Untersuchungsrichters raffte die Papiere zusammen, die auf dem Tisch lagen.

Wir waren recht gespannt, was nun folgen wurde.

M. Hautet wandte sich zu uns: »Unsere Arbeit hier ist beendet. Monsieur Renauld, wollen Sie bitte zuhoren, wahrend wir Ihnen Ihre Aussage vorlesen. Ich habe absichtlich alle Vorgange so ungezwungen wie moglich wiedergegeben. Man nennt meine Arbeitsmethode originell, aber ich behaupte, da? Originalitat viel fur sich hat. Der Fall liegt nun in den bewahrten Handen Monsieur Girauds. Er wird sich gewi? dabei auszeichnen. Ich wundere mich wirklich, da? er die

Morder noch nicht fa?te! Madame, seien Sie nochmals meines tiefsten Mitgefuhls versichert. Guten Tag, Messieurs.«

Und er entfernte sich mit seinem Schreiber.

Poirot zog seine unformige Uhr aus der Tasche und sah nach der Zeit. »Gehen wir ins Hotel zum Lunch, mein Freund«, sagte er. »Und du erzahlst mir dann in Ruhe deine Unbesonnenheit von heute morgen. Niemand beachtet uns. Wir brauchen uns nicht zu verabschieden.«

Leise gingen wir aus dem Zimmer. Eben war der Untersuchungsrichter in seinem Wagen fortgefahren.

Ich war im Begriff, die Stufen hinabzusteigen, als Poirots Stimme mir Einhalt gebot: »Einen kleinen Augenblick, mein Freund.«

Gewandt zog er ein Meterma? aus der Tasche und machte sich bedachtig daran, den Mantel, der in der Halle hing, vom Kragen bis zum Saum zu messen. Ich hatte ihn fruher dort nicht hangen sehen und vermutete, da? er entweder Mr. Stonor oder Jack Renauld gehoren musse.

Dann versenkte Poirot das Ma? mit einem leisen zufriedenen Grunzen wieder in seine Tasche und folgte mir ins Freie.

12

»Weshalb nahmst du eigentlich das Ma? des Mantels?« fragte ich neugierig, als wir in gemachlichem Tempo den wei?en, hei?en Weg entlanggingen.

»Parbleu! Um zu sehen, wie lang er ist«, antwortete gelassen mein Freund. Ich fuhlte mich verletzt. Poirots unverbesserliche Art, aus jedem Nichts ein Geheimnis zu machen, reizte mich immer aufs neue. Ich schwieg und hing meinen eigenen Gedanken nach. Ich mu?te an gewisse Worte denken, die Mme. Renauld an ihren Sohn gerichtet hatte, ohne da? ich mir damals ihrer Bedeutung bewu?t geworden ware. »So bist du also nicht gefahren?« hatte sie gesagt, und dann hinzugefugt: »Schlie?lich ist es alles eins - jetzt.«

Was hatte sie damit gemeint? Die Worte hatten einen ratselhaften tieferen Sinn. War es moglich, da? sie mehr wu?te, als wir annahmen? Sie hatte geleugnet, irgend etwas uber die geheimnisvolle Mission zu wissen, mit der ihr Gatte den Sohn betraut hatte. Wu?te sie vielleicht doch viel mehr als sie zugab? Konnte sie nicht, wenn sie wollte, Licht in die Angelegenheit bringen, und war ihr Schweigen nicht die Folge eines sorgsam ausgedrehten und vorgefa?ten Planes? Je langer ich daruber nachdachte, desto fester war ich davon uberzeugt, da? ich recht hatte. Mme. Renauld wu?te mehr, als es ihr zuzugeben beliebte. In der Uberraschung beim Anblick des Sohnes hatte sie sich im Augenblick verraten. Ich war uberzeugt, da? ihr, wenn sie auch nichts von den Mordern wu?te, doch wenigstens das Motiv der Mordtat bekannt war. Aber irgendwelche sehr gewichtige Erwagungen schienen ihr Stillschweigen zu gebieten.

»Woran denkst du, lieber Freund?« unterbrach Poirot meine Gedanken. »Was beschaftigt dich so sehr?«

Meiner Sache sicher, sagte ich es ihm, doch furchtete ich, da? er meine Vermutungen ins Lacherliche ziehen werde. Aber zu meiner Verwunderung nickte er gedankenvoll.

»Du hast ganz recht, Hastings. Von Anfang an war ich uberzeugt, da? sie irgend etwas verheimlicht. Zuerst hatte ich sie in Verdacht, wenn schon nicht die Urheberin selber, so wenigstens Mitwisserin des Verbrechens gewesen zu sein.«

»Was ... ?« rief ich.

»Aber gewi?. Sie zieht ja kolossalen Vorteil daraus - das hei?t, sie ist, nach dem neuen Testament, uberhaupt die einzige, die Vorteil davon hat. Meine Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf sie. Du hast vielleicht bemerkt, da? ich Gelegenheit nahm, ihre Handgelenke zu untersuchen. Ich wollte mich uberzeugen, ob sie sich nicht vielleicht selbst gebunden und geknebelt hatte. Eh bien, ich sah sofort, da? kein Betrug vorlag, die Stricke waren wirklich so fest zugezogen worden, da? sie ins Fleisch geschnitten hatten. Das schlo? die Moglichkeit aus, da? sie selbst mit eigener Hand das Verbrechen vollbracht haben konnte. Aber es war noch immer moglich, da? sie es stillschweigend geduldet oder die Tat mit Hilfe eines Komplicen selbst ausgefuhrt hatte. Uberdies kam mir die Geschichte, die sie erzahlte, merkwurdig bekannt vor - die maskierten Manner, die sie nicht erkennen konnte, die Erwahnung des ,Geheimnisses' -all das habe ich schon fruher einmal irgendwo gehort oder gelesen. Noch eine kleine Einzelheit bestarkte mich in der Annahme, da? sie nicht die Wahrheit sprach: Die Armbanduhr, Hastings, die

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