Folge leisten.«
»Merlinville«, sagte ich gedankenvoll vor mich hin. »Ich glaube, ich kenne diesen Namen.«
Poirot nickte.
»Es ist ein ganz kleiner, aber eleganter Ort! Liegt auf dem Wege zwischen Boulogne und Calais. Kommt jetzt rasch in Mode. Reiche, ruhebedurftige Englander bringen ihn in die Hohe. Ich vermute. Renauld hat ein Haus in England?«
»Ja, in Rutland Gate, soweit ich mich entsinne. Er hat auch irgendwo in Hertfordshire einen gro?en Besitz, aber ich wei? wirklich wenig uber ihn selbst, er lebt nicht sehr gesellig. Ich glaube, da? er in der City umfangreiche Geschafte mit Sudamerika abwickelt und den gro?ten Teil seines Lebens drau?en in Chile und Argentinien verbracht hat.«
»Nun, alles Nahere werden wir ja von dem Manne selbst erfahren. Also packen! Eine kleine Reisetasche fur jeden von uns, und dann ein Taxi nach Victoria Station.«
»Und die Grafin?« fragte ich lachend.
»Ach, kummert mich nicht. Ihr Fall ist sicher belanglos.«
»Wieso kannst du das behaupten?«
»Weil sie sonst, statt zu schreiben, selbst gekommen ware. Eine Frau kann nicht warten - vergi? das nie, Hastings.«
Um elf Uhr verlie?en wir Victoria Station in der Richtung nach Dover. Ehe wir abreisten, hatte Poirot ein Telegramm an Mr. Renauld abgeschickt, das ihm die Zeit unserer Ankunft in Calais meldete.
»Ich wundere mich, Poirot, da? du nicht einige Mittel gegen Seekrankheit mitgenommen hast«, bemerkte ich boshaft.
Mein Freund prufte angstlich das Wetter und blickte mich vorwurfsvoll an.
»Hast du die ausgezeichnete Methode Laverguiers vergessen? Ich befolge immer seine Verordnungen. Man wiegt sich hin und her, wendet den Kopf von links nach rechts, atmet ein und aus und zahlt nach jedem Atemzug, bis sechs.«
»Hm«, wandte ich ein. »Ich furchte, du wirst des Wiegens und Zahlens reichlich mude werden, bis du nach Santiago oder Buenos Aires kommst, oder wo immer dein Bestimmungsort liegen mag.«
»Blode Idee! Du glaubst doch nicht, da? ich nach Santiago fahren werde?«
»Renauld deutet es in seinem Briefe an.«
»Er kannte Hercule Poirots Arbeitsweise nicht. Ich laufe nicht hin und her, mache keine Reisen und rege mich nicht unnotig auf. Ich arbeite von innen heraus - von hier«, und er klopfte sich vielsagend an die Stirn. Wie gewohnlich forderte diese Bemerkung meinen Widerspruch heraus.
»Das ist alles sehr schon, Poirot, aber ich glaube, du verfallst in die Gewohnheit, gewisse Dinge zu sehr zu unterschatzen. Ein Fingerabdruck trug schon oft zur Verhaftung und Uberfuhrung eines Morders bei.«
»Und brachte zweifellos mehr als einen Unschuldigen an den Galgen«, bemerkte Poirot trocken.
»Aber das Studium der Fingerabdrucke und Fu?spuren, von Zigarettenasche und anderem Zeug und all jene anderen Anhaltspunkte, die zur genauen Beobachtung aller Einzelheiten gehoren, sind sicher von gro?er Bedeutung «
»Aber gewi?. Ich habe nie das Gegenteil behauptet. Der geubte Beobachter, der Sachverstandige, ist zweifellos sehr brauchbar. Aber die anderen, die ,Hercule Poirots', stehen hoher. Ihnen bringen die Sachverstandigen die Tatsachen, ihre Aufgabe ist es, das System des Verbrechers, die logische Schlu?folgerung, die richtige Folge und Ordnung der Tatsachen und vor allem die wahre Psychologie des Falles zu erkennen. Du warst doch sicher auch bei Fuchsjagden, nicht?«
»Ja, ab und zu«, sagte ich etwas verblufft uber diesen plotzlichen Gesprachswechsel. »Warum?«
»Gut, um den Fuchs zu jagen, sind Hunde notig, nicht wahr?«
»Ruden«, verbesserte ich freundlich. »Ja, naturlich.«
»Ja, aber du steigst doch nicht vom Pferd, um mitzulaufen, den Boden mit der Nase zu beschnuffeln und laut Wau-wau zu rufen?«
Gegen meinen Willen mu?te ich nun lachen. Poirot nickte zufrieden.
»So. Du uberla?t also die Arbeit den Hun ... , den Ruden. Aber von mir, Hercule Poirot, verlangst du, da? ich mich lacherlich mache, da? ich mich womoglich in nasses Gras legen soll, um fragwurdige Fu?spuren zu prufen, da? ich die Asche von Zigaretten zusammenscharre, wo ich die eine von der anderen nicht unterscheiden kann. Denk an das Geheimnis des Plymouth Expre?. Der gute Japp fuhr die Strecke ab, um sie genau zu uberprufen. Als er heimkehrte, konnte ich, der ich in meiner Wohnung verblieben war, ihm genau voraussagen, was er gefunden hatte.«
»So bist du der Ansicht, da? Japp seine Zeit vergeudet?«
»Durchaus nicht, da ja seine Beweise meine Ansicht bestatigen. Aber fur mich ware es Zeitverschwendung gewesen, wenn ich gefahren ware. So verhalt es sich auch mit den sogenannten Sachverstandigen'. Erinnere dich an die Schriftprobe im Fall Cavendish. Die Fragestellung des Staatsanwaltes hatte ein Sachverstandigenurteil auf Schriftengleichheit zur Folge, der Verteidiger bringt sie zur entgegengesetzten Ansicht. Die Ausdrucksweise ist sehr gewandt. Und das Ergebnis? Nichts, was uns nicht von Anfang an schon bekannt gewesen ware. Die Schrift habe gro?e Ahnlichkeit mit John Cavendishs Schrift. Und der grubelnde Verstand wird vor die Frage gestellt, ,weshalb?'. Weil es wirklich seine Schrift ist, oder weil jemand ein Interesse daran hatte, uns glauben zu machen, da? es seine Handschrift sei? Ich beantwortete die Frage, mon ami, und ich beantwortete sie richtig.«
Und Poirot, der mich zwar nicht uberzeugt, aber zum Schweigen gebracht hatte, leimte sich befriedigt zuruck.
Auf dem Schiff wu?te ich mir eine bessere Beschaftigung, als die Einsamkeit meines Freundes zu storen. Das Wetter war prachtvoll und das Meer so glatt wie ein Muhlteich; so war ich durchaus nicht erstaunt, da? sich Laverguiers Methode wieder einmal glanzend bewahrt hatte, was mir Poirot lachelnd bei der Landung in Calais versicherte. Dort harrte unser eine Enttauschung; kein Wagen war fur uns da, aber Poirot fuhrte das darauf zuruck, da? sein Telegramm verspatet eingetroffen sei.
»Da wir Vollmacht haben, werden wir uns einen Wagen mieten«, sagte er heiter. Und wenige Minuten spater konnte man uns in dem wackeligsten aller Automobile, das je auf der Stra?e nach Merlinville gefahren war, dahinrattern sehen.
Ich war in bester Laune.
»Wundervolle Luft!« rief ich aus. »Das wird eine kostliche Fahrt!«
»Fur dich schon, aber nicht fur mich, denn mich erwartet Arbeit am Ende dieser Reise «
»Bah!« meinte ich frohlich. »Du wirst alles aufdecken, Renaulds Lebensgefahr beseitigen, die angeblichen Morder in Grund und Boden rennen, und alles endet mit einem Lorbeerkranz fur dich.«
»Du bist sehr optimistisch, lieber Freund!«
»Ja, ich glaube fest an den Erfolg. Bist du nicht Hercule Poirot?«
Mein kleiner Freund jedoch wollte nicht anbei?en. Er betrachtete mich ernst.
»Du bist in seltsamer Stimmung, Hastings. Das bedeutet Ungluck.«
»Unsinn. Jedenfalls teilst du meine Gefuhle ja doch nicht.«
»Nein, aber ich habe Furcht.
»Furcht? Wovor?«
»Das wei? ich nicht, aber ich habe eine Ahnung - ein ... ich wei? wirklich nicht ... «
Er sprach so ernsthaft, da? es unwillkurlich Eindruck auf mich machte.
»Ich habe ein Gefuhl«, sagte er langsam, »als ob dies ein gro?er Fall wurde - ein langes, muhevolles Problem, das nicht leicht zu losen sein durfte.«
Ich hatte gern weiter gefragt, aber wir fuhren eben ins Stadtchen Merlinville ein und verlangsamten das Tempo, um den Weg nach der Villa Genevieve zu erfragen.
»Geradeaus, Monsieur. Die Villa Genevieve liegt ungefahr eine halbe Meile hinter der Stadt. Sie konnen sie nicht verfehlen. Eine gro?e Villa am Meer!«
Wir dankten dem Auskunftgeber und lie?en bald die Stadt hinter uns. An einer Stra?enkreuzung mu?ten wir halten. Ein Bauer humpelte muhsam des Weges, und wir warteten auf ihn, um uns aufs neue nach dem Wege zu erkundigen. Rechts neben der Stra?e stand ein kleines Hauschen, aber es war gar zu unansehnlich, um jene Villa zu sein, die wir suchten.
Wahrend wir warteten, offnete sich die Tur, und ein Madchen kam heraus.