Der Bauer war jetzt neben uns, und der Wagenlenker beugte sich hinaus, um Auskunft zu erbitten.
»Die Villa Genevieve? Nur wenige Schritte weiter auf der rechten Seite, Monsieur. Wenn die Kurve nicht ware, konnte man sie sehen.«
Der Chauffeur dankte und fuhr weiter. Meine Augen hingen wie gebannt an dem jungen Madchen, das noch immer dastand, die Hand auf der Klinke, und uns beobachtete. Ich bin ein Schonheitsanbeter, und hier war eine Schonheit, an der wohl niemand vorubergehen konnte, ohne sie zu beachten. Sie war sehr hoch gewachsen, ihr Ebenma? war das einer jungen Gottin, und ihr unbedecktes, goldigschimmerndes Haupt leuchtete im Sonnenlicht. Eines der schonsten Madchen, das mir je begegnet war! Als wir die holprige Stra?e hinaufschwankten, wandte ich den Kopf, um sie noch einmal zu betrachten.
»Beim Zeus, Poirot«, rief ich aus, »hast du die junge Gottin gesehen?«
Poirot zog die Brauen hoch.
»Das fangt gut an!« murmelte er. »Schon hat er eine Gottin gesehen!«
»Aber zum Kuckuck, war es vielleicht keine?«
»Moglich, doch mir fiel dies nicht besonders auf ... «
»Aber du bemerktest sie doch?«
»Mon ami, nur selten sehen zwei Menschen ganz das gleiche. Du, zum Beispiel, sahst eine Gottin. Ich - Er zogerte.
»Ja?«
»Ich sah nur ein Madchen mit angstvollen Augen«, sagte er ernst.
Aber in diesem Augenblick hielten wir an einem gro?en grunen Gittertor, und gleichzeitig entfuhr uns ein Ruf des Staunens. Vor uns stand ein gewichtiger Gendarm. Er hob die Hand, um uns den Weg zu versperren.
»Sie konnen nicht weiter, Messieurs.« - »Wir wollen zu Monsieur Renauld«, rief ich. »Wir werden erwartet. Dies ist doch seine Villa, nicht?«
»Ja, Monsieur, aber -«
Poirot beugte sich vor.
»Was aber?«
»Monsieur Renauld ist heute fruh ermordet worden.«
3
Im selben Augenblick war Poirot aus dem Wagen gesprungen, seine Augen blitzten vor Erregung. Er fa?te den Mann an der Schulter.
»Was sagen Sie da? Ermordet? Wann? Und wie?«
Der Gendarm reckte sich auf.
»Ich kann keine Fragen beantworten, Monsieur.«
»Gut. Ich verstehe.« Poirot uberlegte einen Augenblick.
»Der Polizeikommissar ist doch wohl im Hause?«
»Ja, Monsieur.«
Poirot nahm eine Visitenkarte und kritzelte einige Worte darauf.
»Voila! Wollen Sie die Gute haben, diese Karte sogleich dem Kommissar hineinzuschicken?«
Der Mann nahm sie, wandte den Kopf und pfiff. Wenige Sekunden spater erschien einer seiner Kameraden, dem er Poirots Karte ubergab. Nach kurzer Wartezeit sahen wir einen kleinen, beleibten Herrn mit machtigem Schnurrbart auf das Gittertor zuhasten. Der Gendarm salutierte und trat zur Seite.
»Mein lieber Poirot«, begru?te ihn der Kommissar. »Ich freue mich unendlich, Sie zu sehen. Sie kommen wie gerufen.«
Poirots Gesicht heiterte sich auf.
»Monsieur Bex! Welche Freude!«
Er wies auf mich. »Dies ist einer meiner englischen Freunde, Captain Hastings - Monsieur Lucien Bex.«
»Seit Ostende habe ich Sie nicht gesehen, alter Freund. Ich horte, Sie hatten den Dienst verlassen?«
»Das stimmt. Ich habe mich in London selbstandig gemacht.«
»Und Sie behaupten, Sie konnten uns nutzliche Aufklarungen geben ... ?«
»Vielleicht wissen Sie schon davon. Ist Ihnen bekannt, da? ich hergerufen wurde?«
»Nein, von wem?«
»Von dem - Verstorbenen. Es scheint, er hat gewu?t, da? sein Leben bedroht sei. Unglucklicherweise rief er mich zu spat.«
»Donnerwetter!« fauchte der Franzose. »So sah er seine Ermordung voraus? Das sto?t alle unsere Vermutungen uber den Haufen. Aber treten Sie ein.«
Er offnete das Tor, und wir schritten auf das Haus zu. M. Bex sprach weiter: »Der Untersuchungsrichter, Monsieur Hautet, mu? das sofort erfahren. Er beendete eben die Untersuchung des Tatortes und ist im Begriff, die Verhore zu beginnen. Ein reizender Mensch. Er wird Ihnen gefallen. Und so sympathisch! Ein wenig eigenartig, aber ein ausgezeichneter Richter.«
»Wann wurde das Verbrechen verubt?«
»Der Leichnam wurde heute morgen gegen neun Uhr gefunden. Aus den Angaben Madame Renaulds und des Arztes geht hervor, da? der Tod ungefahr um drei Uhr fruh eingetreten sein durfte. Aber bitte, treten Sie ein.«
Wir hatten die Stufen erreicht, die zum Haupteingang der Villa emporfuhrten. In der Halle sa? noch ein Gendarm. Er erhob sich, als er den Kommissar sah.
»Wo ist Monsieur Hautet?« fragte Bex.
»Im Salon, Monsieur.«
M. Bex offnete links in der Halle eine Tur, und wir traten ein. M. Hautet und sein Schreiber sa?en an einem gro?en runden Tisch. Als wir kamen, blickten sie auf. Der Kommissar stellte uns vor und erklarte unsere Anwesenheit.
M. Hautet, der Untersuchungsrichter, war ein gro?er, hagerer Mann mit dunklen, stechenden Augen und einem korrekt gestutzten grauen Bart, den er wahrend des Sprechens zu streichen pflegte. Neben dem Kamin stand ein alterer Herr mit leicht abfallenden Schultern, der uns als Dr. Durand vorgestellt wurde.
»Hochst sonderbar«, bemerkte M. Hautet, als der Kommissar seinen Bericht beendet hatte. »Haben Sie den Brief bei sich, Monsieur?«
Poirot reichte ihn dem Richter, der ihn durchlas. »Hm! Er spricht von einer ihm drohenden Gefahr. Wie schade, da? er sich nicht deutlicher ausdruckte. Wir sind Ihnen sehr verpflichtet, Monsieur Poirot. Ich hoffe. Sie erweisen uns die Ehre, uns bei unseren Nachforschungen zu unterstutzen. Oder mussen Sie nach London zuruck?«
»Herr Richter, ich bleibe hier. Wenn ich schon nicht rechtzeitig da sein konnte, um den Tod meines Klienten zu verhindern, so ist es mir Ehrensache, den Morder ausfindig zu machen.«
Der Richter verbeugte sich.
»Ihr Standpunkt macht Ihnen Ehre. Madame Renauld wird ohne Zweifel Ihre Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Wir erwarten ubrigens Monsieur Giraud von der Surete in Paris, und ich bin uberzeugt, da? Sie einander bei den Nachforschungen gute Dienste leisten werden. Ich hoffe, Sie schenken mir indessen bei den Vernehmungen die Ehre Ihrer Anwesenheit, und ich brauche wohl nicht zu sagen, da? jede Hilfe, die Sie benotigen, zu Ihrer Verfugung steht.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur. Sie verstehen aber wohl, da? ich vorlaufig im dunklen tappe. Ich wei? gar nicht, was vorgefallen ist.«
M. Hautet nickte dem Kommissar zu, und dieser begann zu erzahlen: »Als die alte Dienerin Francoise heute morgen an ihre Arbeit gehen wollte, fand sie den Haupteingang der Villa halb offen. Sie erschrak, da sie an Einbrecher dachte, und trat in das Speisezimmer. Als sie aber sah, da? das Silber unversehrt war, dachte sie nicht mehr daran, sondern mutma?te, da? Monsieur Renauld zeitig aufgestanden sei, um einen kleinen Spaziergang zu machen.«
»Pardon, da? ich unterbreche, Monsieur, war das seine standige Gewohnheit?«