»Nein, das war es nicht, aber die alte Francoise hat von den Englandern im allgemeinen die Meinung, da? sie toll seien und da? man ihnen jederzeit die unberechenbarsten Dinge zutrauen durfe. Als Leonie, ein jungeres Dienstmadchen, wie gewohnlich ihre Herrin wecken wollte, fand sie diese zu ihrem Entsetzen geknebelt und gebunden in ihrem Bett, und fast gleichzeitig kam die Nachricht, da? Monsieur Renauld tot aufgefunden worden sei.«
»Wo?«
»Das ist eine der sonderbarsten Einzelheiten dieses Falles. Monsieur Poirot, die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten - in einem offenen Grabe.«
»Was?«
»Ja, es war eine frischgeschaufelte Grube - nur wenige Meter au?erhalb des Grundstuckes.«
»Und wie lange durfte er schon tot gewesen sein?«
Dies beantwortete Dr. Durand: »Ich untersuchte den Leichnam heute um zehn Uhr morgens. Der Tod mu? wenigstens sieben, moglicherweise sogar zehn Stunden vorher erfolgt sein.«
»Hm! Also vermutlich zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens?«
»Richtig, und nach Madame Renaulds Aussage durfte die Tat sich erst nach zwei Uhr fruh ereignet haben, was die Zeitgrenze noch enger zieht. Der Tod mu? sofort erfolgt sein und selbstverstandlich nicht durch eigene Hand.«
Poirot nickte, und der Kommissar fuhr fort: »Die entsetzte Dienerschaft befreite Madame Renauld eiligst von ihren Fesseln. Sie war in furchterlicher Verfassung und beinahe bewu?tlos vor Schmerzen, die durch die Fesseln verursacht worden waren. Angeblich hatten zwei maskierte Manner das Schlafzimmer betreten, sie gebunden und geknebelt und ihren Mann gewaltsam davon geschleppt. Dies erfuhren wir aus zweiter Hand, durch die Dienerschaft. Als Mme. Renauld vom Tode ihres Gatten horte, brach sie vollig zusammen. Dr. Durand verschrieb ihr gleich nach seinem Eintreffen ein beruhigendes Schlafmittel, und so war es uns bis jetzt nicht moglich, sie zu vernehmen. Aber sie durfte ruhiger erwachen und dann den Anstrengungen eines Verhors gewachsen sein.«
Der Kommissar hielt inne.
»Und die Hausgenossen, Monsieur?«
»Da ist die alte Francoise, die Haushalterin, die schon elf Jahre bei den fruheren Besitzern der Villa Genevieve bedienstet war. Dann noch zwei junge Madchen, Schwestern, Denise und Leonie Oulard. Sie stammen aus Merlinville, von hochachtbaren Eltern. Ferner der Chauffeur, den Monsieur
Renauld aus England mitbrachte, der aber beurlaubt und verreist ist. Endlich noch Madame Renauld und ihr Sohn, Monsieur Jack Renauld. Aber auch er ist zur Zeit abwesend.«
Poirot nickte. Monsieur Hautet rief: »Marchaud!«
Der Gendarm trat ein.
»Holen Sie Francoise.«
Der Mann salutierte und verschwand. Kurz darauf kehrte er mit der erschreckten Francoise wieder.
»Sie hei?en Francoise Arrielet?«
»Ja, Monsieur.«
»Dienen Sie schon lange in der Villa Genevieve?«
»Erst elf Jahre bei Madame la Vicomtesse. Dann, als sie in diesem Fruhling die Villa verkaufte, willigte ich ein, bei dem englischen ,Milor' zu bleiben. Nie hatte ich mir vorgestellt -«
»Das wissen wir. Nun, Francoise, kommen wir zum Haupteingang; wer hatte ihn abends zu schlie?en?«
»Ich, Monsieur. Das war immer mein Amt.«
»Und gestern abend?«
»Schlo? ich wie gewohnlich ab.«
»Sind Sie dessen ganz gewi??«
»Ich schwore es bei allen Heiligen, Monsieur.«
»Wie spat mag es gewesen sein?«
»So spat wie immer, halb elf, Monsieur.«
»Und die ubrigen Hausbewohner? Waren sie alle zu Bett gegangen?«
»Madame hatte sich kurz vorher zuruckgezogen. Denise und Leonie gingen mit mir hinauf. Monsieur war noch in seinem Arbeitszimmer.«
»Also, wenn spaterhin jemand die Tur offnete, konnte es nur Monsieur Renauld selbst gewesen sein?«
Francoise zuckte ihre breiten Schultern.
»Wozu sollte er dies getan haben? Wo jeden Augenblick Rauber und Morder vorbeikamen! Ein schoner Einfall! Monsieur war kein Dummkopf. Es sei denn, er habe die Dame hinauslassen wollen -«
Der Richter unterbrach sie scharf: »Die Dame? Welche Dame meinen Sie?«
»Nun, die Dame, die ihn besucht hatte.«
»Hatte er gestern abend Damenbesuch?«
»Aber ja, Monsieur - und an vielen anderen Abenden doch auch.«
»Wer war sie? Kennen Sie sie?«
Das Antlitz der Frau nahm einen schlauen Ausdruck an.
»Woher sollte ich wissen, wer sie war?« brummte sie. »Ich lie? sie gestern abend nicht herein.«
»Oh!« brullte der Untersuchungsrichter. und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie wollen sich wohl einen Scherz mit der Polizei erlauben! Ich verlange, da? Sie mir sofort den Namen der Dame nennen, die immer am Abend zu Monsieur Renauld kam.«
»Die Polizei - die Polizei«, brummte Francoise. »Ich hatte nie gedacht, da? ich es mal mit der Polizei zu tun bekommen konnte. Aber ich wei? genau, wer sie war! Madame Daubreuil.«
Dem Kommissar entfuhr ein Laut des Staunens und er beugte sich unglaubig vor.
»Madame Daubreuil - aus der Villa Marguerite, unten an der Stra?e?«
»So ist es, Monsieur. Oh,
»Da haben wir's!« brummte Francoise. »Das hat man davon, wenn man die Wahrheit sagt.«
»Durchaus nicht«, beschwichtigte der Untersuchungsrichter. »Wir sind nur erstaunt, das ist alles. Dann waren Madame Daubreuil und Monsieur Renauld -« taktvoll hielt er inne. »Wie? Das war es doch ohne Zweifel?«
»Woher sollte ich das wissen? Aber was wollen Sie, Monsieur? Er war ,Milor' anglais, - tres riche - und Madame Daubreuil ist arm - und tres chic - obwohl sie mit ihrer Tochter so zuruckgezogen lebt. Kein Zweifel, sie hat eine Vergangenheit! Sie ist nicht mehr jung, aber ... Ich sage Ihnen, ich sah oft, wie die Manner ihr nachblickten, wenn sie die Stra?e herunterkam. Au?erdem gab sie jetzt viel mehr Geld aus - das wei? die ganze Stadt. Ihre kleinen Ersparnisse waren zu Ende.« Und Francoise nickte heftig voll unerschutterlicher Uberzeugung. M. Hautet strich sinnend seinen Bart.
»Und Madame Renauld?« fragte er schlie?lich. »Wie verhielt sie sich zu dieser - Freundschaft?«
Francoise zuckte mit den Achseln..
»Sie war immer sehr liebenswurdig, sehr hoflich. Es sah so aus, als ob sie nichts ahnte. Aber trotzdem - nicht wahr? -blutet das Herz, Monsieur. Ich sah, wie sie taglich blasser und magerer wurde. Sie war nicht mehr die gleiche Frau, die einen Monat fruher hier angekommen war. Auch Monsieur hatte sich verandert. Auch er hatte seine Sorgen. Das war deutlich zu sehen. Und wer konnte sich schlie?lich daruber wundern? Keine Diskretion, kein Takt. Englische Mode, zweifellos!«
Entrustet fuhr ich von meinem Sessel auf, wahrend der Untersuchungsrichter unbeirrt sein Verhor fortsetzte.
»Sie behaupten, da? Monsieur Renauld Madame Daubreuil nicht hinauslie?? Sie war also schon fort?«
»Ja, Monsieur. Ich horte sie aus dem Arbeitszimmer herauskommen und zur Tur gehen. Monsieur sagte ,Gute Nacht' und schlo? hinter ihr die Tur.«
»Wie spat war es da?«
»Ungefahr funfundzwanzig Minuten nach zehn, Monsieur.«
»Wissen Sie, wann Monsieur Renauld zu Bett ging?«
»Ich horte, da? er zehn Minuten nach uns heraufkam. Die Treppen knarren so, da? man jeden hort, der hinauf oder hinab geht.«