Der Untersuchungsrichter zuckte die Achseln. »Augenscheinlich war Monsieur Renauld in eine Liebschaft mit dieser Englanderin - Bella - verwickelt. Er kommt hierher, begegnet Madame Daubreuil und verliebt sich in sie. Seine Gefuhle fur die andere kuhlen ab, und sie schopft Verdacht. Dieser Brief enthalt eine deutliche Drohung, Monsieur; zuerst schien der Fall sonnenklar. Ein Eifersuchtsdrama! Die Tatsache, da? Monsieur Renauld von ruckwarts erstochen wurde, spricht deutlich dafur, da? das Verbrechen von einer Frau begangen worden sein mu?.«

Poirot nickte. »Der Stich in den Rucken wohl, doch nicht das Grab! Das war muhselige Arbeit, harte Arbeit - keine Frau grub jenes Grab, Monsieur. Das war das Werk eines Mannes.«

Der Kommissar rief erregt: »Ja, ja, Sie haben recht. Daran dachten wir nicht.«

»Wie ich sagte«, fuhr Monsieur Hautet fort, »schien der Fall au?erst einfach, aber die maskierten Manner und der Brief; den Sie von Monsieur Renauld erhielten, verwickeln die Angelegenheit. Wir haben es offenbar hier mit einer Reihe ganz verschiedener Umstande zu tun, zwischen denen keinerlei Zusammenhang besteht. Was den Brief anbelangt, den Sie erhielten, glauben Sie, da? er sich auf ,Bella' und ihre Drohungen bezieht?«

Poirot schuttelte den Kopf. »Kaum. Ein Mann wie Monsieur Renauld, der ein abenteuerliches Leben in den entlegensten Gegenden hinter sich hat, durfte wohl nicht um Schutz gegen eine Frau ersuchen.«

Beifallig nickte der Untersuchungsrichter. »Ganz meine Ansicht. Dann mussen wir die Erklarung fur diesen Brief -«

»In Santiago suchen«, bemerkte der Kommissar. »Ich will unverzuglich an die dortige Polizei kabeln und ausfuhrlichen Bericht uber das Leben erbitten, das der Verstorbene in jener Stadt fuhrte, uber seine Liebesabenteuer, seine geschaftlichen Transaktionen, seine Freundschaften und uber etwaige Feindschaften, die er sich dort zugezogen haben mag. Es mu?te verwunderlich sein, wenn wir dort nicht den Schlussel zu seiner geheimnisvollen Ermordung finden sollten.« Beifallheischend blickte der Kommissar um sich.

»Ausgezeichnet!« stimmte Poirot zu.

»Auch seine Frau konnte uns einen Fingerzeig geben«, sagte der Richter.

»Fanden Sie sonst keine Briefe jener Bella unter Monsieur Renaulds Habseligkeiten?« fragte Poirot.

»Nein. Naturlich durchsuchten wir gleich am Anfang im Arbeitszimmer alle seine Briefschaften. Wir fanden jedoch nichts Interessantes. Alles schien in bester Ordnung. Das einzige Au?ergewohnliche war sein Testament. Hier ist es.«

Poirot durchflog das Schriftstuck.

»So? Ein Legat von tausend Pfund an einen Mr. Stonor -wer ist das ubrigens?«

»Monsieur Renaulds Sekretar. Er blieb in England, kam aber ein- bis zweimal zum Wochenende.«

»Und alles ubrige vermachte er bedingungslos seiner geliebten Gattin Eloise. Einfach niedergeschrieben, aber vollkommen gesetzma?ig. Von den zwei Dienerinnen Denise und Francoise als Zeuginnen unterfertigt. Daran ist gar nichts Ungewohnliches.« Er gab es zuruck.

»Vielleicht«, begann Bex, »bemerkten Sie nicht -«

»Das Datum?« zwinkerte Poirot. »Doch, ich bemerkte es. Es liegt vierzehn Tage zuruck. Moglicherweise bezeichnet es die erste Andeutung der Gefahr. Manch reicher Mann stirbt ohne Testament, weil er nie die Moglichkeit seines Ablebens in Betracht gezogen hatte. Aber es ist gefahrlich, vorzeitige Schlusse zu ziehen. Nichtsdestoweniger beweist es uns, da? er trotz seiner Liebesabenteuer mit wirklicher Zuneigung und Verehrung an seiner Gattin hing.«

»Ja«, gab Hautet zogernd zu. »Aber vielleicht ist es auch ein wenig unfair gegen seinen Sohn, da? er ihn in volliger Abhangigkeit von seiner Mutter zuruckla?t. Sollte sie nochmals heiraten und ihr zweiter Gatte bestimmenden Einflu? auf sie gewinnen, konnte es geschehen, da? dem Jungen kein Pfennig von seines Vaters Vermogen bliebe.«

Poirot zuckte die Achseln.

»Die Menschen sind eitel. Monsieur Renauld bildete sich sicher ein, da? seine Witwe niemals wieder heiraten werde. Und was den Sohn betrifft, war es vielleicht weise Vorsicht, das Geld den Handen der Mutter anzuvertrauen. Die Sohne reicher Vater sind von sprichwortlichem Leichtsinn.«

»Sie mogen recht haben. Und nun, Monsieur Poirot, wollen Sie wohl zweifellos den Schauplatz des Verbrechens besichtigen. Es tut mir leid, da? der Leichnam bereits fortgebracht wurde, aber selbstverstandlich sind von jedem denkbaren Winkel fotografische Aufnahmen gemacht worden, die zu Ihrer Verfugung stehen, sobald sie fertig sind.«

»Ich danke Ihnen fur Ihr Entgegenkommen, Monsieur.«

Der Kommissar erhob sich.

»Folgen Sie mir, meine Herren.«

Er offnete die Tur und forderte Poirot durch eine formelle Verbeugung auf, vorauszugehen. Poirot blieb mit gleicher Hoflichkeit zuruck und lie? dem Kommissar den Vortritt.

Endlich gelangten sie in die Halle.

»Der Raum dort ist das Arbeitszimmer, nicht wahr?« fragte Poirot unvermittelt, indem er auf die gegenuberliegende Tur wies.

»Ja, wollen Sie es besichtigen?« Er stie? wahrend des Sprechens die Tur auf, und wir traten ein.

Das Zimmer, das Monsieur Renauld zum personlichen Gebrauch gewahlt hatte, war klein, aber mit erlesenem Geschmack und gro?er Behaglichkeit eingerichtet. Ein Kanzlei-Schreibtisch mit vielen Fachern stand neben dem Fenster. Zwei gro?e lederne Klubsessel standen dem Kamin gegenuber, zwischen ihnen ein runder Tisch, der mit Buchern und Zeitschriften bedeckt war. Bucherregale fullten zwei Wande, und am Ende des Zimmers, dem Fenster gegenuber, befand sich ein schones Bufett aus Eichenholz mit einem Likorstander. Vorhange und Portiere waren aus weicher, mattgruner Seide und die Farben des Teppichs dazu abgetont.

Einen Augenblick lang verharrte Poirot und lie? den Raum auf sich wirken. Dann schritt er weiter, fuhr mit der Hand leicht uber die Lehnen der Lederstuhle, nahm vom Tisch eine Zeitschrift auf und beruhrte mit dem Finger bedachtig die Oberflache des Eichenbufetts. Sein Gesicht druckte vollkommene Billigung aus.

»Kein Staub?« fragte ich lachelnd.

Anerkennend lachelte er mir zu, weil ich seine Eigenheiten so gut kannte.

»Nein, kein Kornchen, mon ami! Und einesteils ist das vielleicht bedauerlich!«

Seine scharfen Vogelaugen spahten da- und dorthin.

»Ah!« bemerkte er plotzlich erleichtert. »Der Ofenvorleger ist verschoben«, und er buckte sich, um ihn in Ordnung zu bringen.

Plotzlich stie? er einen Laut aus und erhob sich. Er hielt ein kleines rosenfarbenes Stuck Papier in der Hand.

»In Frankreich wie in England«, bemerkte er, »verabsaumt die Dienerschaft, unter den Teppichen hervorzukehren.«

Bex nahm das Papierstuckchen, und ich trat naher.

»Erkennst du es, Hastings?«

Verwirrt schuttelte ich den Kopf - und doch war mir die eigentumliche Schattierung des rosenfarbenen Papiers sehr vertraut.

Der Kommissar leistete schnellere Gedankenarbeit als ich.

»Die Ecke eines Schecks«, rief er aus.

Das Stuck Papier war keine zwei Quadratzentimeter gro?. Mit Tinte stand das Wort »Duveen« darauf geschrieben.

»Ausgezeichnet«, sagte Bex. »Dieser Scheck war zahlbar an oder ausgestellt von einer Person namens Duveen.«

»Das erstere nehme ich an«, sagte Poirot, »denn wenn ich nicht irre, ist dies Monsieur Renaulds Handschrift.«

Dies wurde durch Vergleich mit einem Notizblock vom Schreibtisch bald festgestellt.

»Mein Gott«, sagte der Kommissar besturzt, »ich begreife gar nicht, wie ich dies ubersehen konnte.«

Poirot lachte.

»Die Moral davon ist, man soll immer unter die Teppiche schauen! Mein Freund Hastings wird bestatigen, da? mich die geringste Unordnung zur Verzweiflung bringt. Als ich sah, da? der Ofenvorleger schief lag, sagte ich mir sofort: ,Halt! Das geschah durch den Fu? des Sessels, als dieser zuruckgesto?en wurde. Vielleicht ware etwas darunter zu finden, was die gute Francoise ubersah.'«

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