»Und ist das alles? Horten Sie die ganze Nacht kein storendes Gerausch mehr?«
»Nicht das geringste, Monsieur.«
»Welches der Madchen kam heute zuerst herunter?«
»Ich, Monsieur. Ich sah sofort, da? die Tur nur angelehnt war.«
»Wie verhielt es sich mit den ebenerdigen Fenstern? Waren sie alle verschlossen?«
»Alle. Es war sonst nichts in Unordnung oder sonstwie verdachtig.«
»Gut, Francoise, Sie konnen gehen.«
Die alte Frau humpelte zur Tur. Auf der Schwelle blickte sie zuruck.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Monsieur. Diese Madame Daubreuil ist eine schlechte Person. O ja, eine Frau kennt die andere. Sie ist eine schlechte Person, vergessen Sie das nicht.«
Francoise schuttelte weise ihr Haupt und verlie? den Raum.
»Leonie Oulard«, rief der Richter.
Leonie erschien in Tranen aufgelost und bekam fast einen Weinkrampf.
M. Hautet behandelte sie sehr geschickt. Ihre Aussage betraf hauptsachlich die Auffindung ihrer geknebelten und gefesselten Herrin, und sie gab davon einen recht ubertriebenen Bericht. Sie hatte ebenso wie Francoise des Nachts keinerlei Gerausch gehort.
Dann folgte Denise, ihre Schwester. Auch sie stellte fest, da? ihr Gebieter sich in der letzten Zeit sehr verandert hatte.
»Jeden Tag wurde er murrischer. Er a? weniger. Er war immer so niedergeschlagen.« Aber Denise hatte daruber ihre eigene Ansicht. »Zweifellos war ihm die Maffia auf den Fersen. Zwei maskierte Manner - was konnte es sonst gewesen sein? Eine furchterliche Bande!«
»Das ist naturlich moglich«, sagte der Untersuchungsrichter ruhig. »Und nun, Denise, haben Sie gestern abend Madame Daubreuil hereingelassen?«
»Gestern abend nicht, Monsieur, vorgestern.«
»Aber Francoise erzahlte uns eben, da? Madame Daubreuil gestern abend dagewesen sei?«
»Nein, Monsieur. Es kam wohl gestern abend eine Dame zu Monsieur Renauld, doch es war nicht Madame Daubreuil.«
Uberrascht forschte der Richter weiter, aber das Madchen blieb fest. Vom Sehen kannte sie Madame Daubreuil genau. Diese Dame war zwar auch dunkelhaarig, aber kleiner und viel junger. Nichts konnte ihre Behauptung erschuttern.
»Hatten Sie diese Dame jemals vorher gesehen?«
»Niemals, Monsieur.« Und dann fugte das Madchen schuchtern hinzu: »Ich glaube, sie war Englanderin.«
»Englanderin?«
»Ja, Monsieur. Sie fragte in ganz gutem Franzosisch nach Monsieur Renauld, aber man erkennt den Akzent sofort, selbst wenn er kaum merklich ist. Au?erdem sprachen sie englisch, als sie aus dem Arbeitszimmer kamen.«
»Horten Sie, was sie sagten? Konnten Sie es verstehen, meine ich?«
»Ich spreche sehr gut Englisch«, sagte Denise stolz. »Die Dame sprach zu schnell, da konnte ich nichts von dem auffangen, was sie sagte, aber ich horte Monsieurs letzte Worte, als er ihr die Tur aufschlo?.« Sie hielt inne und wiederholte muhevoll: »Yes, yes - but for Heavens sake go now!«
»Ja, ja, aber gehen Sie jetzt, um Gottes willen!« wiederholte der Richter.
Er entlie? Denise, dachte noch ein paar Sekunden nach und rief Francoise wieder herein. Er legte ihr die Frage vor, ob sie sich nicht geirrt haben konne, als sie den Abend von Madame Daubreuils letztem Besuch feststellte. Ganz unerwarteterweise blieb Francoise hartnackig dabei, Madame Daubreuil sei am letzten Abend ins Haus gekommen. Ohne jeden Zweifel sei sie dagewesen. Denise wolle sich nur interessant machen, voila tout. Darum habe sie dies schone Marchen von der fremden Dame ausgedacht. Vielleicht auch, um mit ihren englischen Kenntnissen zu prahlen! Wahrscheinlich habe Monsieur niemals diesen Satz in englischer Sprache gesagt, und selbst wenn er es getan hatte, beweise das nichts, da Madame Daubreuil ausgezeichnet Englisch spreche und sich im Verkehr mit Monsieur und Madame Renauld dieser Sprache meistens bedient habe. »Sehen Sie, Monsieur Jack, der Sohn von Monsieur, war gewohnlich dabei, und er spricht sehr schlecht Franzosisch.«
Der Richter drang nicht weiter in sie. Statt dessen erkundigte er sich nach dem Chauffeur und erfuhr, da? Mr. Renauld erst gestern erklart habe, da? er vermutlich den Wagen nicht benotigen werde und da? Masters daher ebensogut einen freien Tag haben konne.
Poirot war daruber einigerma?en verblufft.
»Was hast du denn?« flusterte ich.
Er schuttelte ungeduldig den Kopf und fragte: »Verzeihung, Monsieur Bex, aber Monsieur Renauld konnte wohl seinen Wagen selbst lenken?«
Der Kommissar blickte zu. Francoise hinuber, und die alte Frau antwortete prompt: »Nein, Monsieur fuhr nie allein.«
Poirot zog die Stirn in ernste Falten.
»Ich wollte, du wurdest mir erklaren, was dir im Kopf herumgeht«, sagte ich ungeduldig.
»Merkst du denn nichts? Monsieur Renauld spricht in seinem Brief davon, uns den Wagen nach Calais entgegenzuschicken.«
»Vielleicht meinte er einen Mietwagen«, warf ich ein.
»Moglich. Aber wozu einen Wagen mieten, wenn man einen eigenen besitzt? Weshalb gerade dem Chauffeur den gestrigen Tag freigeben - plotzlich, in momentaner Eingebung.
Wollte er ihn vielleicht aus irgendeinem Grunde aus dem Wege schaffen, ehe wir kamen?«
4
Francoise hatte das Zimmer verlassen. Der Untersuchungsrichter trommelte nachdenklich mit den Fingern auf dem Tisch.
»Monsieur Bex«, sagte er endlich, »hier liegen direkt widersprechende Zeugenaussagen vor. Wem ist nun zu glauben, Francoise oder Denise?«
»Denise«, sagte der Kommissar entschieden. »Sie war es, die die Besucherin einlie?. Francoise ist alt und eigensinnig und hat eine ausgesprochene Abneigung gegen Madame Daubreuil. Au?erdem wissen wir doch selbst genau, da? M. Renauld noch in eine andere Liebschaft verwickelt war.«
»Richtig!« rief Hautet. »Wir verga?en, Monsieur Poirot davon Mitteilung zu machen.« Er durchstoberte die Papiere auf dem Tisch und reichte meinem Freunde schlie?lich das Gesuchte: »Diesen Brief, Monsieur Poirot, fanden wir in der Manteltasche des Verstorbenen.«
Poirot nahm und entfaltete ihn. Er war abgegriffen, zerknittert und in englischer Sprache mit ungelenker Hand geschrieben.
»Mein Liebster!
Warum hast Du mir so lange nicht geschrieben? Du liebst mich doch noch, nicht wahr? Deine Briefe waren in letzter Zeit so anders, so kalt und sonderbar, und jetzt dieses lange Schweigen. Ich habe Angst. Wenn Du aufgehort hattest, mich zu lieben! Aber das ist unmoglich - was bin ich doch fur ein narrisches Ding, da? ich mir solche Sachen einbilde! Aber wenn Du aufgehort hattest, mich zu lieben, wei? ich nicht, was ich anfangen sollte - vielleicht wurde ich mich umbringen! Ohne Dich konnte ich nicht leben. Manchmal bilde ich mir ein, es habe eine andere Frau sich zwischen uns gedrangt. Sie soll sich in acht nehmen - und Du auch! Bevor ich Dich ihr lasse, tote ich sie. Ich meine es ernst.
Aber was schreibe ich fur Unsinn! Du liebst mich, und ich liebe Dich - ja, ich liebe Dich, ich liebe Dich, ich liebe Dich!
Immer Deine
Bella.«
Datum und Adresse fehlten. Mit ernstem Gesicht gab Poirot den Brief zuruck.
»Und was vermuten Sie?«