und unabanderlich: die Mowen und ihre Flugbahnen, die bewaffneten Wachen, die, gepanzerten Automaten gleich, auf den Stufen ihre Runden drehten; die Eidechsen, die sich an der letzten Herbstsonne warmten und beim Gerausch nahender Schritte davonhuschten, um sich in den Ritzen der Mauern zu verstecken.

Bisweilen wurde der Junge von einer plotzlichen Angst befallen, von einer qualenden Melancholie, und dann starrte er stundenlang auf das Meer hinaus; manchmal wurde er von Zorn und Verzweiflung gepackt, und er warf unter den spottischen Blicken der barbarischen Soldaten Dutzende, ja Hunderte von Steinen gegen die Mauer, bis er ermattet, keuchend und schwei?gebadet zu Boden fiel. Sein Lehrer sah ihm erschuttert zu, gab aber seiner Ruhrung nicht nach, sondern ging zu ihm, um ihn wieder aufzurichten und ihn auszuschelten. Er ermahnte ihn, die Wurde seiner Vorvater zu wahren, und erinnerte ihn an die Strenge eines Cato, die Weisheit eines Seneca, den Heroismus eines Marius und an die unvergleichliche Gro?e Casars.

Eines Tages, als er wieder einmal feststellte, da? Romulus durch dieses irre und sinnlose Spiel vollig atemlos und erschopft und obendrein noch gedemutigt war vom Gelachter und den Possen seiner Gefangniswarter, trat er an ihn heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Nein, Casar, so geht es nicht weiter! Schone deine Krafte fur die Zeit, wenn du das Schwert der Gerechtigkeit ergreifen wirst.«

Romulus schuttelte den Kopf. »Wozu sollte ich mir Illusionen machen? Dieser Tag wird niemals kommen. Siehst du diese Manner da unten, im Laufgraben? Auch sie sind Gefangene dieses Ortes, sie werden in Langeweile und Uberdru? alt werden, bis man andere Manner schickt, die sie ablosen, und dann wieder andere, aber ich werde immer noch dasein. Sie werden ausgewechselt, aber ich werde immer derselbe bleiben, wie die Baume und die Mauern. Ich werde alt, ohne jemals jung gewesen zu sein.«

Langsam taumelte die Feder eines Vogels herab. Romulus griff nach ihr, druckte sie in der Hand; dann offnete er die Faust wieder und blickte dabei seinem Erzieher fest in die Augen. »Oder glaubst du vielleicht, du konntest mir zwei Flugel aus Vogelfedern und Wachs bauen, wie es Dadalus fur Ikarus gemacht hat, damit ich mich von hier oben in die Lufte schwingen kann?«

Ambrosinus lie? den Kopf sinken. »Wenn ich nur konnte, mein Kind, wenn ich nur konnte ...! Aber vielleicht kann ich doch etwas fur dich tun. Ich kann dich etwas lehren, namlich nicht zuzulassen, da? sie au?er deinem Korper auch noch deine Seele einsperren.« Er hob den Blick zum Himmel. »Schau dir diese Mowe an! Siehst du sie? Also, dann la? deine Seele mit ihr fliegen, da hinauf, atme tief ein ... so, noch einmal ... noch einmal.« Er legte ihm die Hande auf die Schlafen und schlo? die Augen. »Und jetzt flieg, mein Kind, schlie? die Augen und flieg ... hinweg uber dieses Elend, hinaus uber die Mauern dieses verfallenden Gebaudes, uber die Klippen und die Walder, flieg zur Scheibe der Sonne und bade dich in ihrem unendlichen Licht!« Er senkte die Stimme, wahrend ihm langsam die Tranen unter den geschlossenen Lidern hervorquollen. »Flieg«, wiederholte er mit leiser Stimme. »Niemand kann die Seele eines Menschen einsperren ...« Romulus' Atem ging zuerst schneller, wie der eines kleinen verangstigten Tieres, dann beruhigte er sich und fiel allmahlich in einen gleichma?igen Rhythmus wie jemand, der ruhig schlaft.

Andere Male, wenn alles vergebens war, wenn es keine Worte gab, die den Knaben beschwichtigen konnten, setzte sich Ambrosinus in eine Ecke des Hofes und widmete sich der Abfassung seiner Erinnerungen. Romulus blieb abseits sitzen und zeichnete mit einem Stock in den Sand, aber dann kam er ganz langsam naher, betrachtete Ambrosinus verstohlen und versuchte sich vorzustellen, was er wohl mit dieser dichten, regelma?igen Schrift in dieses Buch eintrug.

Eines Tages baute er sich plotzlich vor ihm auf und fragte: »Was schreibst du da?«

»Meine Erinnerungen. Und auch du solltest etwas schreiben oder wenigstens etwas lesen. Es hilft dir, den Kummer zu vergessen, es befreit deine Seele von der Angst und vom Uberdru? des Alltags und schlagt eine Brucke zu einer anderen Welt. Ich habe um Bucher fur deine Bibliothek gebeten und sie erhalten. Das hei?t, sie werden heute aus Neapel kommen - nicht nur Werke uber Philosophie und Geometrie und Handbucher zu Themen wie Ackerbau und Viehzucht, sondern auch wunderschone Geschichten: die Aithiopika von Heliodor, Longos' Hirtengeschichten von Daphms und Chloe, die Abenteuer von Herkules und Theseus, die Reisen des Odysseus. Du wirst sehen. Aber jetzt kummere ich mich erst einmal darum, da? alles richtig geordnet wird. Dann bereite ich dir dein Abendessen zu. Entferne dich nicht zu weit von hier, denn ich mochte mich nicht heiser schreien, wenn es Zeit ist, dich zu holen.«

Ambrosinus legte sein Buch auf die Bank, auf der er gesessen hatte, verschlo? sorgfaltig das Tintenfa? und legte den Stylos hin, dann wandte er sich dem Bereich der alten kaiserlichen Bibliothek zu, die einst gefullt war mit Tausenden und Abertausenden von Buchern aus allen Teilen des Reiches, in lateinischer und griechischer, in hebraischer und syrischer, in agyptischer und phonizischer Sprache. Jetzt waren die gro?en Nischen, in denen die Regale gestanden hatten, wie leere, blinde Augenhohlen, die ins Nichts starrten. Geblieben war nur eine Buste von Homer, auch dieser blind, wei? wie ein Gespenst in diesem gro?en dusteren Saal.

Romulus spazierte eine Zeitlang am au?eren Rand des gro?en Hofes entlang, und jedesmal, wenn er sich Ambrosinus' Buch naherte, warf er einen zerstreuten Blick darauf. Irgendwann einmal blieb er stehen und fixierte es. Vielleicht war es nicht angebracht, das zu lesen, was dann geschrieben stand, aber wenn sein Erzieher es dort liegengelassen hatte, unbewacht und ohne irgendeine Ermahnung, dann wurde er doch wohl einen Blick hineinwerfen durfen. Er setzte sich hin und schlug es auf: Auf der Vorderseite war ein Kreuz gezeichnet, an den Enden der Balken die Buchstaben Alpha und Omega und, darunter, ein kleiner Mistelzweig wie derjenige aus Silber, den Ambrosinus um den Hals trug.

Der Abend war lau, und die letzten Schwalben versammelten sich mitten am Himmel und riefen einander etwas zu, was so klang, als wurden sie nur widerwillig die bereits leeren Nester verlassen, um in warmere Gefilde zu ziehen. Romulus lachelte und sagte leise: »Fliegt davon, fliegt nur, ihr Schwalben, ihr konnt es ja, fliegt nur fort! Mich werdet ihr im nachsten Jahr am selben Ort wieder antreffen. Ich bleibe hier und bewache eure Nester.«

Dann blatterte er um und begann zu lesen.

XIV

Ich war noch nicht geboren, als die letzten Adler der romischen Legionen Britannien verlie?en, um niemals wiederzukehren. Da der Kaiser alle seine Soldaten brauchte, wurde meine Heimat ihrem Schicksal uberlassen. Eine ''Zeitlang passierte gar nichts. Die Honoratioren regierten die Stadte nach Art der Vater, auf der Grundlage der Gesetze und der Gerichtsbarkeit des Reiches, weiter und unterhielten nach wie vor Kontakte zum fernen Hof von Ravenna in der Hoffnung, da? die Adler Roms fruher oder spater wieder zuruckkehren wurden. Doch eines Tages fielen die Barbaren des Nordens, die jenseits des gro?en, nach Kaiser Hadrian benannten Walls lebten, in unsere Gegenden ein und brachten ihnen mit ihren standigen Uberfallen und Plunderungen nichts als Tod, Zerstorung und Hungersnote. Noch einmal baten wir den Kaiser um Hilfe und hofften, da? er uns nicht vergessen hatte, aber es war klar, da? er uns nicht erhoren konnte: Eine ganze Flut von Barbaren bedrohte die ostlichen Grenzen des Reiches; wilde und unermudliche Reiter mit dunkler Haut und schragstehenden Augen waren aus den unerme?lich weiten sarmatischen Steppen aufgetaucht wie Gespenster aus der Tiefe der Nacht, und wahrend sie weiter vorruckten, hinterlie?en sie uberall, wo sie durchzogen, eine einzige Spur der Verwustung. Sie ruhten sich niemals aus und schliefen auch nicht richtig: Ihnen genugte es, den Kopf kurz gegen den Hals ihrer struppigen Pferde zu lehnen. Ihre Nahrung bestand aus Fleisch, das sie zwischen dem Sattel und dem Schwei? auf dem Rucken ihrer Pferde murbe werden lie?en.

Der Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee, ein Held namens Aetius, drangte diese Barbaren mit den schragstehenden Augen mit Hilfe anderer Barbaren in einer entsetzlichen Schlacht zuruck, die vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang dauerte. Unsere Gesandten flehten und erinnerten ihn an die Bande des Blutes, der Gesetze und der Religion, die uns uber Jahrhunderte miteinander verbunden hatten, und schlie?lich entschied er, tief beruhrt, etwas fur uns zu tun. Er schickte uns einen Mann namens Germanus, von dem es hie?, er sei mit Wunderkraften ausgestattet, und ubergab ihm das Feldzeichen der Legionen Britanniens: Es war ein silberner Drache mit einem purpurfarbenen Schwanz, der sich mit dem Hauch des Windes zu beleben schien. Mehr konnte Aetius nicht tun, doch allein der Anblick dieses Zeichens genugte, um die niedergeschlagenen Gemuter aufzurichten und den alten, eingeschlummerten Stolz wiederzuerwecken. Germanus war ein tapferer und charismatischer Feldherr, und sein gluhender, eindringlicher Blick, seine Rufe, spitz wie die eines Falken, seine Hande, die den Griff des Feldzeichens umklammerten, und sein unerschutterlicher Glaube an das Recht und die Zivilisation vollbrachten, nachdem er seine Manner mit dem Ruf »Halleluja« in die Schlacht gefuhrt hatte, das Wunder. Die Barbaren wurden zuruckgeschlagen, und viele waffentragende Burger wurden eingesetzt, damit sie den Gro?en Wall bewachten, die in Ruinen liegenden Abschnitte wiederaufbauten und die verlassenen Kastelle schutzten. Der Sieg des siegreichen Kampfes ging als der Sieg der Halleluja-Schlacht in die Geschichte

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