»Dhutu, etwas ist mir immer noch nicht klar: das mit meiner ›Zeit‹. Zuerst habe ich dich mi?verstanden und dachte, du sprichst von der Zeit im allgemeinen. Aber so ist es nicht. Die Alte oben fing auch davon an. Was bedeutet das?«
Dhutu zogerte kurz.
»Am besten erlebst du das selbst. Es ist schwer zu beschreiben. Es ist einfach deine Zeit, das ist alles. Du wirst schon sehen. Dann brauchst du es dir nicht erklaren zu lassen.«
Zufriedenstellend war das nicht, aber trotz ihrer Bemuhungen war das alles, was sie erfahren konnte.
Die nachsten Tage vergingen langsam, doch sie erhielt ein wenig Freiheit, um zu sehen, welche Art von Arbeit dazugehorte, einen Baum bewohnbar zu machen, und sie wurde ein wenig in das Leben eingefuhrt, das hier stattfand. Nur manche der Baume waren Wohnbaume, riesengro?, mit hohlem Inneren, um ganze Kolonien von Awbriern aufzunehmen; andere boten von sich nichts als flache Aste mit Vertiefungen, in denen der aus gekauter Rinde, Stroh, Insekten und allerhand anderen Dingen hergestellte Dunger, geknetet mit Speichel aus Drusen, uber welche nur die Frauen verfugten, untergebracht war und geschickt mit Saatgut versehen und liebevoll gepflegt wurde, bis irgendwelche Pflanzen darin wuchsen.
Yua machte sich auch immer mehr Gedanken uber Obies gro?en Plan. Sie war sicher, da? etwas schiefgegangen sein mu?te. Sie sollte eine Armee aufbauen und fuhren oder wenigstens Ansatze dazu unternehmen, unterwegs andere fur ihre Sache zu begeistern, und sich schlie?lich in einem Hex namens Glathriel mit von Marquoz und Mavra Tschang aufgestellten Streitkraften treffen, wo immer die beiden jetzt sein mochten. Aber selbst wenn sie gewu?t hatte, wo das war und wo sie selbst sich befand, machte das System von Awbri es ihr praktisch unmoglich, das Verlangte zu tun. Und sie konnte auch wahrlich nicht erkennen, welche Fahigkeiten die Awbrier besitzen sollten. Oder Obie brauchte die Awbrier wirklich aus irgendeinem Grund, als irgendeinen Ausgleich — da war etwa ihr Allesfressertum und das Flugvermogen —, und hatte bei ihrer Verschlusselung vergessen, das richtige Geschlecht anzugeben. Vielleicht hatte sie ein Awbri-Mann werden sollen. Das hatte mehr Sinn ergeben.
Und die Zeit verrann. In ganz kurzer Zeit wurde sich die Flut von Wesen in die Sechseck-Welt ergie?en — wenn das nicht schon begonnen hatte. Die Bevolkerung der Sechseck-Welt wurde sich verdoppeln, selbst in Awbri. In manchen Fallen wurde das bestehende System vollig zusammenbrechen. Vielleicht wurde, wenn die Neuzugange von Olympus die Mehrheit gegenuber der Bevolkerung von Awbri ausmachten, die Revolution von selbst eintreten und sie dann in einer Lage sein, sie um sich zu scharen und zu fuhren, dachte Yua hoffnungsvoll. Sie konnte nur hoffen und warten, und das mit Ungeduld.
Mehrmals dachte sie an Flucht, aber das schien eine Sackgasse zu sein. Sie allein wurde nichts bewegen; jedes Hex war ohnehin wie ein eigener fremder Planet, und sie hatte keine Ahnung, wo auf dieser Welt sie sich befand.
Aber es war trotzdem zum Wahnsinnigwerden, um so mehr, als das Dasein vollig entwurdigend erschien.
Eine Woche nach ihrer Ankunft bekam sie seltsame Gefuhle und erlebte fremdartige Traume, die sie mit keiner Wirklichkeit in Verbindung zu bringen vermochte. Abwechselnd wurde ihr hei? und kalt. Sie furchtete, da? sie krank geworden war, aber die anderen versicherten ihr, das, was sie erlebe, sei normal und naturlich. Sie nahere sich ihrer Zeit.
Und eines Morgens erwachte sie vollstandig in ihr. Sie spurte ein ungeheures Verlangen, ein absolutes Bedurfnis, befriedigt zu werden, wie eine Rauschgiftsuchtige, die zu lange ohne ihre Droge gewesen war. Es war eine Gier ohne jede Vernunft, nicht zu glauben. Ihr ganzer Korper schmerzte vor Verlangen, und sie konnte uberhaupt nicht denken, sie vermochte sich nicht zu beherrschen. Ihr ganzes Wesen wunschte, brauchte, begehrte nur eines, und nichts anderes war von Belang, bis sie es bekam. Die alteren Frauen wu?ten ebenfalls Bescheid und veranla?ten das Erforderliche.
Bald danach befand sie sich in den oberen Geschossen, in den Unterkunften der Manner, und sie gaben ihr, was sie wunschte, brauchte, begehrte. Sie hatte keine Ahnung, wie viele es waren oder wie lange es dauerte, und konnte sich danach auch an nichts erinnern, au?er an die ungeheure, hochste Lust, die sie empfunden hatte, und daran, da? sie alles, wirklich alles, fur sie getan hatte.
Spater erfuhr sie, da? es zwei Tage und Nachte gedauert hatte — was, wie man ihr sagte, ungefahr dem Durchschnitt entsprach. Und das wiederholte sich alle sechs Wochen, au?er wahrend der Schwangerschaft — die Hormone, die durch die Schwangerschaft ausgeschuttet wurden, machten eine Person gefugig und ein wenig vertraumt, zum Ende hin immer mehr.
Sie kam sich noch entwurdigter vor, nicht allein um der Dinge willen, die sie erlebt hatte, sondern ihrer eigenen unbeherrschbaren Leidenschaft wegen. Sie hatte als Olympierin auch schon sexuelle Beziehungen gehabt, aber nichts von dieser Art. Nicht annahernd. Das war an und fur sich selbst eine Droge, ein so lustvoll starkes und umfassendes Gefuhl, da? die Erinnerung als lusterregender Schmerz blieb und ihr Denken der nachsten ›Zeit‹ freudig entgegensah, wahrend ihre Vernunft sie furchtete und verabscheute.
Und das war die Falle, begriff sie jetzt. Das war gemeint gewesen mit der Behauptung, warum es keine Revolution gegeben hatte und keine geben wurde, und weshalb die Manner in ihrer Stellung so gesichert waren. Die Frauen mochten ruhig rebellieren — die Manner brauchten nur zu warten, bis die ›Zeit‹ die Rebellen zwang, zuruckzukriechen und zu flehen, so inbrunstig, da? sie vermutlich ihre beste Freundin getotet hatten, sollte diese versuchen, sie aufzuhalten. Diese Gesellschaft stand unter einer grausamen biologischen Diktatur, einer absoluten. Das weibliche Fortpflanzungssystem war dem Anschein nach mit seinen Eiern sehr geizig, und selbst bei diesem System kam eine Schwangerschaft alle zwei oder drei Jahre nur einmal vor. Die Bedingungen mu?ten bei Mann und Frau absolut vollkommen sein, wenn Junge aus ihrer Verbindung hervorgehen sollten.
Praktisch das einzig Positive daran war, da? alle Frauen sie jetzt ›Schwester‹ nannten und sie von allen im Klan viel besser behandelt wurde, sogar von den ganz wenigen Mannern, denen sie begegnete. Sie war jetzt eine von ihnen.
Alle diese Dinge veranla?ten sie erneut, uber die Bemerkungen und Warnungen der alten Matriarchin nachzudenken. Mit Obies Planen stimmte entschieden etwas nicht, und sie sa? in der Falle, endgultig in der Falle. Selbst eine Flucht kam nun nicht mehr in Frage, weil die ›Zeit‹ von selbst kein Ende nahm und sich fortsetzte, bis Erlosung kam, und dafur gab es nur den einen Weg.
In dieser Nacht schlief sie, vollig niedergeschlagen, endlich ein, dammerte unruhig dahin und traumte. Sie war sich bewu?t, da? sie traumte, und trotzdem erschien ihr alles so wirklich. Sie war wieder Olympierin und umflutet von einem fremdartigen, schimmernden, purpurnen Leuchten. Sie spurte, da? etwas in ihrer Nahe war, sie umgab, allumfassend.
»Obie?« rief ihr Traum-Ich.
»Ich bin hier, Yua«, ertonte die vertraute Tenorstimme des Supercomputers.
»Aber du bist tot«, wandte sie ein. »Ich traume das alles nur.«
»Hm, ja, ich mu? tot oder wenigstens schwer beschadigt sein«, gab der Computer zu. »Sonst wurden wir diese kleine Unterhaltung nicht fuhren. Meine Befurchtungen haben sich offenbar bestatigt — das Zusammengehen mit Brazil hat mich schwer beschadigt oder zerstort, und deshalb mu? die Aufgabe auf die muhsame Art und Weise bewaltigt werden. Sehr bedauerlich. Wenn er nicht so stur gewesen ware, hatte ich ihn auf die Sechseck- Welt zu einer Avenue hinunterbeamen konnen, und wir hatten diese Probleme nicht.« Er machte eine Pause. »Na, wem rede ich das ein? Bei dem Ri? im Raum-Zeit-Kontinuum war ich ohnehin zu kaputt, um das zu schaffen. Es spielt keine Rolle. Worauf es ankommt, ist, da? Sie, wenn wir uns so unterhalten, in Awbri sein mussen und Ihre erste Zeit hinter sich haben.«
Sie zuckte uberrascht zusammen.
»Das wei?t du? Aber — was sage ich? Das ist ein Traum. Wunscherfullung, mehr nicht. Ich spreche nicht wirklich mit dir.«
»Sie haben in vielem recht, aber im letzten Punkt nicht«, gab der Computer zuruck. »Ja, das ist ein Traum. Sie schlafen jetzt irgendwo unten in einem Baum in Awbri. Und ich bin auch nicht wirklich hier oder in der Nahe. Selbst wenn ich hingelangen konnte, bezweifle ich, da? ich die Kraft hatte, den nullifizierten Raum und diesen ungeheuren Kurzschlu? markovischer Energie zu uberwinden. Aber wir