Die ganze Familie, oder zumindest schien es so, war zur Beerdigung gekommen. Sie kamen aus dem ganzen Herrenhaus, standen in Gruppen zusammen, die sich aus ihrem Beruf oder ihrem Rang ergaben. Keiner wollte neben Molly und mir stehen, nicht einmal die anderen Mitglieder des Inneren Zirkels. Lange Reihen der Lebenden standen jetzt vor den Reihen der Sarge, wahrend versteckte Lautsprecher getragene Musik spielten. Der Waffenmeister stand abseits und fuhrwerkte an einer Bedienungskonsole herum. Er steuerte damit das Energiefeld, dass uns vor feindlichen Attacken und Spionage schutzen sollte.
Die Musik endete schlie?lich mit einer bewegenden Interpretation des Stucks »Ich schwore Dir, mein Land«, das wir als so etwas wie unsere Hymne betrachteten und dann kam ein Drood-Vikar heraus, um die Zeremonie zu beginnen. Er war ein Christ, mehr nicht. Die Familie hat sich nie um all die verschiedenen Schismen gekummert, die die protestantische Kirche all die Jahre immer weiter aufgespalten hat. Wir waren vielleicht immer noch katholisch, wenn der Papst uns nicht befohlen hatte, Henry VIII. umzubringen, als der England von Rom getrennt hatte. Der Papst hatte es echt besser wissen mussen. Keiner kommandiert die Droods herum.
Der Vikar fuhrte schnell durch eine verschlankte Zeremonie und hielt nicht einmal fur Kirchenlieder oder eine Predigt, dann trat er zuruck und nickte dem Waffenmeister zu. Onkel Jack druckte mit der Handflache einen gro?en roten Knopf und die zweihundertvierzig Sarge verschwanden lautlos. Sie waren weg und hinterlie?en nur blasse Markierungen auf dem grasigen Untergrund. Molly sah mich fragend an.
»Sie werden direkt ins Zentrum der Sonne teleportiert«, sagte ich. »Sofortige Einascherung. Asche zu Asche und weniger. Nichts bleibt, um es gegen die Familie zu verwenden. Ich sagte dir ja, dass wir alle verbrannt werden, wir sind da nur etwas dramatischer als alle anderen. Und jetzt entschuldige mich. Ich muss meine Rede halten. Gut, dass ich wenigstens kein Lampenfieber habe. Sieht so aus, als ware jeder hier au?er der Matriarchin.« Ich runzelte die Stirn. »Sie sollte hier sein. Sie sollte ihre privaten Animositaten nicht mit der Pflicht der Familie mischen. Oh Mann, wunsch mir Gluck.«
»Ich werde Zwischenrufe damit ahnden, dass ich die Unterwasche desjenigen anzunde.«
»Sehr passend«, erwiderte ich.
»Dachte ich mir.«
Ich ging gemessenen Schritts an die Stelle, an der sich die Sarge befunden hatten, drehte mich um und sah der Familie ins Gesicht. So viele Droods, alle an einem Ort, sahen mich mit unsicheren Mienen an und erwarteten von mir, Worte zu sagen, die alles wiedergutmachen wurden. Wenn ich das gekonnt hatte, hatte ich's getan. Aber wenn du zweifelst, dann sag die Wahrheit. Vielleicht ist sie nicht bequem oder beruhigend, aber wenigstens wei? dann jeder, wo er steht.
Also sagte ich ihnen, was wir in der Nazca-Ebene gefunden hatten. Die Abscheulichen, die mithilfe ihrer Drohnen arbeiteten, die wahnsinnige Struktur, die sie gebaut hatten, und das schreckliche Wesen, dass sie durch das Portal in unsere Realitat hatten holen wollen. Ich sagte ihnen, wie tapfer und gut meine Armee dagegen gekampft hatte, gegen eine unerwartete und uberwaltigende Uberzahl und wie wir am Ende triumphiert hatten. Jedenfalls die, die uberlebt hatten.
»Das ist genau die Art von Bedrohung, fur die die Familie geschaffen wurde«, sagte ich, und meine Stimme klang klar und deutlich in der stillen Morgenluft. »Um Schamanen zu sein, die den Stamm der Menschen gegen Bedrohungen von au?erhalb schutzen. Die, die mit mir kamen und so tapfer gefallen sind, haben ihr Leben gegeben, um die Menschheit zu retten. Seid stolz auf sie. Und ja, wir haben einen hohen Preis fur unseren Sieg bezahlt. Deshalb durfen wir nie wieder so unvorbereitet sein. Mein Innerer Zirkel und ich haben entschieden, dass jedes Familienmitglied einen Torques bekommen wird, und das so schnell wie moglich. Wir mussen alle wieder stark werden. Es kommt ein Krieg, nicht nur gegen die Abscheulichen und die Invasoren von au?erhalb, sondern gegen alle unsere Feinde, die versuchen, uns voneinander zu trennen und zerstoren.«
Ich hatte gehofft, dass ich etwas Jubel oder wenigstens eine Runde Applaus bekommen wurde, als ich die Rustungen fur alle ankundigte, aber keiner lie? auch nur einen Laut horen. Und als ich geendet hatte, standen alle nur da und starrten mich mit leerem Gesichtsausdruck an, als wollten sie sagen: War's das schon? Ist das alles? Und dann kam Harry aus der Menge heraus und jeder sah ihn an. Das hatte ich mir denken mussen. Ich hatte wissen mussen, dass er die Gelegenheit nutzen wurde, mir noch ein Messer in den Rucken zu rammen.
Ich sah schnell zu Molly hin und schuttelte den Kopf. Ich konnte mir nicht leisten, dass irgendeiner dachte, ich hatte Angst, mir Harry anzuhoren.
»Ein Krieg steht uns bevor«, sagte Harry mit lauter und selbstsicherer Stimme. »Die Nester der Abscheulichen mussen zerstort werden, und die Eindringlinge davon abgehalten werden, unsere Realitat zu erobern. Aber wir konnen nicht abwarten, bis wir so
Er starrte mich direkt an, seine Miene kalt und unnachgiebig. »Ich verlange, dass Edwin zurucktritt! Seine halbgaren Ideen und seine inkompetente Fuhrerschaft hat uns schon zu viel gekostet. Er ist eine Bedrohung fur uns alle. Er hat sich selbst als eine Niete im Feld erwiesen, hat es geschafft, dass die meisten seiner Leute getotet wurden und hat noch nicht einmal den Anstand, sich zu entschuldigen oder seine Fehler zuzugeben. Es ist Zeit, wiedergutzumachen, was er der Familie angetan hat und uns der traditionellen Kontrolle zu unterstellen. Wir mussen die Matriarchin wieder an die Macht bringen. Sie allein hat die Erfahrung, einen erfolgreichen Krieg zu fuhren.«
»Nein«, sagte ich knapp und meine Stimme brachte ihn verblufft zu einem Halt. Alle Gesichter wandten sich wieder mir zu. Ich versuchte, den Arger aus meiner Stimme zu verbannen. »Ist euer Gedachtnis wirklich so kurz? Die Matriarchin hat diese Familie betrogen. Habt ihr schon den Preis vergessen, den sie jeden von uns gezwungen hat, fur die alte Rustung zu zahlen? Den Tod eurer Zwillingsbruder und -schwestern? All diese Babys, die dem Herzen geopfert wurden? Sie hat diese Praktik geduldet und vor euch geheimgehalten, weil sie wusste, dass ihr mit der Wahrheit nicht wurdet leben wollen. Wollt ihr eure Seelen wieder verkaufen, so leicht? Ich werde dafur sorgen, dass die Torques, die ihr von Seltsam bekommt, kein Preisschild haben werden. Die Rustung, die ihr von mir bekommt, werdet ihr mit Stolz tragen konnen.«
Ich sah Harry an. »Ich garantiere der Familie neue Torques. Kann die Matriarchin das tun? Kannst du's, Harry?«
»Also gehort Seltsam dann wohl dir?«, fragte Harry.
»Seltsam gehort niemandem«, erwiderte ich. »Aber er erkennt ein Arschloch, wenn er eines vor sich hat.« Ich sah wieder hinunter in das Meer der Gesichter vor mir. »Auf euch kommt's an. Trefft eure eigene Entscheidung. Lasst euch von niemandem sagen, was ihr zu tun habt, weder von der Matriarchin, noch von Harry, noch von mir. Ich kann euch nicht gegen euren Willen in den Krieg ziehen und ich wurde es nicht tun, selbst wenn ich konnte. Ich bin nicht euer Patriarch, ich bin nur ein Drood, der tun will, was richtig ist. Dazu bin ich erzogen worden. Um den guten Kampf gegen alle Feinde der Menschheit zu fuhren.«
Es gab eine lange Pause, wahrend der ich mein Herz in meiner Brust formlich hammern horen konnte. Ich hatte nichts weiter zu sagen. Und dann, einzeln oder zu zweit, applaudierte meine Familie und nahm damit meine Worte an. Sie beugten die Kopfe vor mir. Die Menge loste sich auf und ging ins Herrenhaus. Keine uberwaltigende Antwort, aber es wurde reichen. Furs Erste. Ich sah mich um, aber Harry war schon verschwunden. Wahrscheinlich, um der Matriarchin bruhwarm Bericht zu erstatten. Ich sah den Waffenmeister, der sich zu einem stillen Zigarillo zuruckgezogen hatte. Er hob frohlich einen Daumen in meine Richtung. Ich nickte und ging zu Molly zuruck.
»Den guten Kampf kampfen?«, fragte sie. »Ich schatze mal, das soll das Gegenteil eines schlechten Kampfs sein. Aber was zum Teufel ist ein schlechter Kampf?«
»Die Art, in der man zweihundertvierzig gute Manner und Frauen verliert«, sagte ich. »Ich kann das nicht allein tun, Molly. Ich brauche Hilfe, professionelle Hilfe. Leute, die wissen, wie man einen Krieg fuhrt.«
»Die Zeit lauft«, sagte Molly. »Wo willst du diese Leute in einer angemessenen Zeitspanne finden?«
»Ganz genau da.«
Kapitel Neun