Keine Zeit
Penny marschierte mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck auf uns zu.
»Geh einfach weiter«, sagte ich zu Molly.
»Wir konnten anfangen, zu laufen«, meinte sie.
»Das ware wurdelos«, erwiderte ich.
Aber da hatte Penny uns sowieso schon eingeholt. Sie pflanzte sich direkt vor uns auf, die Hande auf den Huften und starrte mich bose an. Ich lachelte sie freundlich an, als hatte ich keine einzige Sorge in der Welt, denn ich wusste, das argerte sie am meisten.
»Wir haben ein Problem«, sagte sie kurz.
»Wirklich?«, fragte ich zuruck. »Du uberraschst mich. Und lass mich raten: Alles ist meine Schuld,
oder?«
»Vielleicht«, sagte Penny. »Janitscharen Jane ist weg. Spurlos verschwunden. Es gibt nicht mal Aufzeichnungen daruber, dass sie das Gelande verlassen hat. Was eigentlich dank des neuen Sicherheitssystems, das wir nach deiner Ruckkehr installiert hatten, unmoglich sein sollte.«
»Jane ist ein Profi«, erwiderte ich ruhig. »Sie kommt und geht, wie sie will. Allerdings ist wirklich seltsam, dass sie verschwindet, ohne uns ein Wort zu sagen. Gibt es irgendwelche Hinweise?«
»Nur einen. Eine Notiz, die mit einem Messer an ihre Tur gepinnt war.
»Ja«, sagte ich. »Das klingt wirklich nach Jane.«
»Sie muss die Verluste in Nazca personlich genommen haben«, meinte Molly.
»Jane ist Soldatin«, antwortete ich. »Sie hat in Damonenkriegen gekampft und ganze Zivilisationen um sich herum untergehen sehen - wenn Janitscharen Jane glaubt, wir brauchten bessere Waffen, dann haben wir mehr Arger, als wir dachten. Aber sie wird schon wieder zuruckkommen.«
»Hoffentlich mit anstandigen Waffen«, meinte Molly.
»Noch was?«, fragte ich Penny.
»Wenn ich schon mal da bin, wurde ich dich gern daran erinnern, was der Innere Zirkel in deiner Abwesenheit beschlossen hat.«
»Ich hab's nicht vergessen«, erwiderte ich.
Penny seufzte. »Ich habe ihnen gesagt, dass du das personlich nehmen wurdest. Sieh mal, Eddie, das hat wirklich nichts mit dir zu tun. Es geht um das, was das Beste fur die Familie ist. Niemand sprach davon, dich abzusetzen, wir wollten nur, dass du uns ofter konsultierst.«
»Vertrau mir, Penny. Ich verstehe das.«
Penny seufzte wieder. »Wenn du das tatest, dann wurden wir diese Unterhaltung nicht fuhren. Also, im Interesse des Friedens und guten Willens und um dich nicht offentlich blo?zustellen, werde ich das Thema wechseln. Du hast eine gute Rede gehalten. Alles, was du sagtest, war richtig. Und im Gegensatz zu Harry, kam das, was du sagtest, direkt von Herzen. Bleib dabei und vielleicht kannst du die Familie doch noch auf deine Seite ziehen.«
»Nur vielleicht?«
»Zu Fuhrungsqualitaten gehort mehr als einfach nur recht zu haben«, meinte Penny. »Du musst inspirieren, motivieren - und wissen, wann man Politik mit den richtigen Leuten machen muss.«
»Und ich dachte, du wolltest das Thema wechseln«, sagte ich. »Lass mich das mal versuchen. Wie geht's Mr. Stich?«
Sie sah mich aufmerksam an und war sofort auf der Hut. »Dem geht's gut. Er gewohnt sich ein. Seine Vorlesungen sind gestopft voll, auch wenn sich noch keiner ein Herz gefasst hat, ein personliches Tutorium bei ihm zu belegen. Er ist ein sehr faszinierender Mann. Sehr tiefsinnig. Warum fragst du mich das, Eddie?«
»Weil du eine Menge Zeit mit ihm verbringst.«
»Ich werde nicht fragen, woher du das wei?t«, sagte Penny kalt.
»Das ist wohl besser«, pflichtete ich ihr bei.
»Was in meiner Freizeit mache, Eddie, ist meine Angelegenheit. Steck deine Nase also nicht in Dinge, wo das weder gebraucht noch gewunscht ist. Oder Mr. Stich wird sie dir abschneiden.«
Sie stakste davon und selbst ihr durchgedruckter Rucken strahlte Arger aus. Molly sah ihr nach. »Was war denn das jetzt?«
»Scheint, als hatten Mr. Stich und Penny was miteinander laufen.«
»Machst du Witze? Echt? Wei? sie nicht, wer er ist? Wie kann sie nicht wissen, wer und was er ist?«
»Sie wei? es. Sie will es nur nicht glauben. Sie glaubt, sie kann ihn andern. Und vielleicht kann sie das sogar. Du hast immer gesagt, dass er fur dich ein guter Freund war.«
»Ja, klar, aber nur, weil ich wusste, ich kann ihm auf ein Dutzend verschiedene Arten in den Hintern treten, wenn notig. Ach, zum Teufel. Ich gehe ihr besser nach. Es wird Zeit fur ein ernsthaftes Gesprach unter Frauen, und vielleicht sogar fur ein Eingreifen. Bis spater, Su?er.«
Sie gab mir einen fluchtigen Kuss auf die Wange, winkte mir mit den Fingern zu und ging hinter Penny her. Und sie beeilte sich. Ich hoffte, dass dieses Eingreifen funktionierte. Eine Sorge weniger hatte ich gut brauchen konnen.
Ich ging durch das Herrenhaus, ohne bestimmtes Ziel. Ich dachte nur nach. Wenn ich meinen Ratgebern im Inneren Zirkel nicht mehr vertrauen konnte, musste ich mich eben nach neuen Ratgebern umsehen. Vorzugsweise solchen, die mehr von den Realitaten eines tatsachlich stattfindenden Krieges verstanden. Irgendwann hatte ich eine richtig gute Idee, wo ich die finden konnte, und die Tatsache, dass der Innere Zirkel mit dieser Idee auf keinen Fall einverstanden sein wurde, machte sie nur noch besser. Ich grinste immer noch vor mich hin, als es in meiner linken Jackentasche wild zu zappeln begann. Ich packte sie mit beiden Handen, rang sie nieder und zog schlie?lich Merlins Spiegel heraus, der wie ein brunstiger Vibrator in meiner Hand zitterte und sich schuttelte. Schlie?lich sprang er mir aus den Fingern, wuchs rapide an und hing dann vor mir in der Luft, ein Tor, durch das ich in die alte Bibliothek sehen konnte. Regale uber Regale von Buchern, in einem warmen, goldenen Schimmer, begleitet von dem leisen Gerausch eines Selbstgesprachs. William Drood erschien auf einmal im Rahmen und nickte brusk zu mir hin.
»Keine Panik, das bin nur ich. Ich muss privat mit dir reden, also habe ich den Spiegel von hier aus aktiviert.«
»Ich wusste gar nicht, dass du das kannst«, sagte ich.
Er schnaubte laut. »Es gibt einiges, was du uber den Spiegel nicht wei?t, Junge, und ich habe keine Zeit, dich vor allem zu warnen. Uberflussig zu sagen, dass es ein Ding ist, dass von dem beruchtigten Merlin Satansbrut konstruiert wurde. Der Haken liegt schon im Namen.«
»Bitte klingel das nachste Mal oder so etwas in der Art«, sagte ich. »Du hast mir echt Angst eingejagt.«
»Du hattest Gluck, dass ich einen Vibratormodus improvisieren konnte. Die Bedienungsanleitung sieht einen sehr lauten Gongschlag vor. Aber jetzt pass mal auf, Edwin. Ich muss dich sprechen. Hier in der alten Bibliothek, wo niemand uns belauschen kann. Na los, komm schon durch das Tor. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Ich seufzte lautlos. Es war noch nicht allzulange her, dass ich hier die Befehle gegeben hatte. Ich trat durch die Offnung in die alte Bibliothek. Der Spiegel schrumpfte auf der Stelle zu normaler Gro?e und schlupfte in meine Tasche zuruck. Ich hatte auch nicht gewusst, dass er das konnte. Sobald ich Zeit hatte, nahm ich mir vor, wurde ich die Bedienungsanleitung genauer studieren.
William wuchtete einen in Leder gebundenen Folianten auf ein Lesepult aus Messing und blatterte schneller durch die Seiten, als fur so ein altes Buch gut sein konnte. Er fand bald die richtige Stelle und begann, sie hastig murmelnd zu lesen. Dabei folgte er den Zeilen mit der Fingerspitze. Ich wartete darauf, dass er mich einweihte, in was auch immer so wichtig sein mochte, mich so umgehend zu sich zu zitieren. Aber er schien vergessen zu haben, warum ich hier war. Ich fand einen Stuhl und setzte mich, um abzuwarten.
Jedes Mal, wenn ich dachte, dass es William besser ginge, verfiel er wieder in diesen Seltsamer-John- Modus.
Der jungere Bibliothekar, Rafe, erschien hinter den sich aufturmenden Buchbergen mit einer Tasse dampfendem Tee, die ich dankbar annahm. Rafe sah liebevoll auf William und beugte sich vor, um mir etwas ins Ohr zu flustern. »Du musst dem alten Kauz ein paar Zugestandnisse machen. Wir sind beide die ganze Nacht wach gewesen, um nach den Informationen zu suchen, die du haben wolltest. Die alte Bibliothek hat Kopien von