»Das kann nicht sein!«, wiederholte ich meinen Gedanken laut. Ich goss mir einen Kognak ein und trank ihn auf ex. Dann sah ich mir das Gesicht von Timur Borissowitsch noch einmal an. Ein ruhiges, intelligentes Gesicht mit leicht asiatischem Einschlag. Das konnte nicht sein.

Ich öffnete die Mappe und begann zu lesen. Er wurde in Taschkent geboren. Der Vater… war nicht bekannt. Die Mutter… starb bei Kriegsende, als der kleine Timur noch keine fünf Jahre alt war. Danach wuchs er in einem Kinderheim auf. Er absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Bauzeichner, danach ein Studium als Ingenieur. Karriere im Komsomol. Irgendwie gelang es ihm, um einen Parteibeitritt herumzukommen. Er hatte eine der ersten Baukooperativen der UdSSR gegründet, die sich übrigens weit stärker mit dem Handel importierter Herde und sanitärer Einrichtungen beschäftigte, als tatsächlich etwas baute. Er zog nach Moskau… gründete eine Firma… ging in die Politik… Ehe? Nein. Straffälligkeit? Nein. Zweite Ehe? Nein.

Ich hatte den Auftraggeber aus den Reihen der Menschen gefunden.

Aber was das Schrecklichste war: Ich hatte damit auch den abtrünnigen Anderen gefunden.

Und dieser Fund kam so überraschend, als sei das Universum eingestürzt.

»Wie konnten Sie nur«, meinte ich tadelnd. »Wie konnten Sie nur… Chef…«

Wenn man Timur Borissowitsch um zehn, fünfzehn Jahre verjüngen würde, dann wäre er Geser - mit zivilem Namen Boris Ignatjewitsch - wie aus dem Gesicht geschnitten, der vor sechzig Jahren in ebendieser Gegend gelebt hatte… Taschkent, Samarkand und andere Orte in Zentralasien…

Am stärksten erschütterte mich noch nicht mal das Verhalten des Chefs. Geser ein Verbrecher? Das war so unwahrscheinlich, dass ich mich nicht mal darüber aufregte. Mich erschütterte, wie leicht der Chef in eine Falle geraten war.

Geser war also vor sechzig Jahren im fernen Usbekistan Vater geworden. Danach hatte man ihm Arbeit in Moskau angeboten. Die Mutter des Jungen, eine gewöhnliche Frau, starb in den Kriegsjahren. Der kleine Mensch Timur, dessen Vater ein großer Magier war, kam ins Kinderheim…

Möglich ist alles. Geser brauchte von der Existenz seines Kindes nichts gewusst zu haben. Oder er hatte etwas gewusst, konnte sich aber aus verschiedenen Gründen nicht um das Schicksal des Jungen kümmern. Jetzt musste in dem Alten ein Hebel umgelegt worden sein, er bekam Sehnsucht nach ihm, traf sich mit seinem in die Jahre gekommenen Sohn und gab ihm das leichtsinnige Versprechen… Und das war in der Tat erstaunlich!

Seit Hunderten, seit Tausenden von Jahren spann Geser seine Intrigen. Kein Wort sprach er unbedacht aus. Und dann lief er so in die Falle? Kaum vorstellbar. Aber Tatsache.

Man brauchte kein Experte für Physiognomie zu sein, um in Timur Borissowitsch und Boris Ignatjewitsch nahe Verwandte zu erkennen. Selbst wenn ich schwiege, würden die Dunklen dahinter kommen. Oder die Inquisitoren. Sie würden den älteren Geschäftsmann in die Zange nehmen… Oder nein, weshalb sollten sie ihn bedrängen? Wir sind keine üblen Erpresser. Wir sind die Anderen. Viteszlav bräuchte ihm nur in die Augen zu sehen, Sebulon nur mit den Fingern zu schnippen, und schon würde Timur Borissowitsch alles so frei heraus erzählen, als sitze er im Beichtstuhl. Was würde Geser dann tun?

Ich dachte nach. Nun… Wenn er zugab, dass er selbst die Briefe abgeschickt hatte… hieße das, er hatte keine schlimmen Hintergedanken gehegt… Schließlich durfte er sich grundsätzlich einem Menschen gegenüber zu erkennen geben…

Kurz ging ich in Gedanken die einzelnen Punkte des Vertrages, der Ergänzungen und Nachbesserungen, der Präzedenzfälle und Ausnahmen, Kommentare und Fußnoten durch. Eine komische Situation.

Geser würde bestraft werden, aber nicht sehr streng. Im Höchstfall eine Rüge vom Europabüro der Nachtwache. Und irgendwas Aufsehenerregendes, aber wenig Sinnvolles von der Inquisition. Selbst seinen Posten könnte Geser behalten. Nur…

Ich stellte mir vor, was daraufhin in der Tagwache losbrechen würde. Wie Sebulon feixen würde. Mit welch unverhohlener Neugier die Dunklen über Gesers Familienangelegenheiten herfallen und seinem menschlichen Sohn einen Gruß zukommen lassen würden.

Sicher, in den Jahren, die Geser schon hinter sich hatte, hätte sich jeder ein dickes Fell zugelegt. Gelernt, Spott zu ertragen. Trotzdem würde ich jetzt nicht mit ihm tauschen wollen!

Und auch unsere Leute neigten zur Ironie. Nein, niemand würde Geser einen Vorwurf machen. Oder hinter seinem Rücken über ihn tuscheln.

Ein Grinsen hier und da, das ja. Ein verständnisloses Kopfschütteln. Und Geflüster: »Er wird doch alt, der Große, ja, er wird alt…«

Heute kannte ich Geser gegenüber keine hündische Unterwürfigkeit und keine Begeisterung mehr. Zu oft beurteilten wir die Dinge völlig unterschiedlich. Manches konnte ich ihm bis heute nicht verzeihen… Aber so in der Tinte zu sitzen!

»Was hast du da bloß gemacht, Großer?«, sagte ich. Dann legte ich die Mappen in den offenen Tresor zurück und goss mir ein weiteres Glas Kognak ein. Konnte ich Geser helfen? Wie? Indem ich mich als Erster an Timur Borissowitsch wandte?

Wie dann weiter? Sollte ich ihn mit einem Schweigezauber belegen? Den nur wahre Meister aufheben könnten?

Und wenn der Geschäftsmann Russland verlassen musste? Fliehen musste, als seien sämtliche Gangsterbanden der Stadt und auch alle Justizorgane hinter ihm?

Vielleicht würde er das sogar tun. Sich irgendwo in der Tundra oder in Polynesien verstecken.

Geschah ihm ganz recht. Sollte er doch für den Rest seines Lebens Robben jagen oder Kokosnüsse von den Palmen schlagen! Schließlich hatte er zur»Herrscherin über das Meer«werden wollen…

Ich nahm den Telefonhörer, wählte die Nummer der Zentrale unseres Büros. Dann noch die Durchwahl für das Rechenzentrum. »Ja?«, erklang im Hörer Toliks Stimme.

»Tolik, du musst einen Menschen für mich durchleuchten. Sofort.«

»Gib mir den Namen, dann durchleuchte ich ihn«, erwiderte Tolik unerschütterlich.

Ich gab ihm alles durch, was ich von Timur Borissowitsch hatte in Erfahrung bringen können. »He, was brauchst du denn sonst noch?«, wunderte sich Tolik.

»Auf welcher Seite er schläft oder wann er das letzte Mal beim

Zahnarzt gewesen war?«

»Wo er jetzt ist«, meinte ich finster.

Tolik schnaubte, aber ich hörte, wie er am andern Ende der Leitung munter auf die Tastatur einschlug. »Er hat ein Handy«, sagte ich für alle Fälle.

»Versuch nicht, einen Weisen zu belehren. Er hat sogar zwei Handys… beide befinden sich… sind… Gut, ich lade jetzt die Karte…«Ich wartete.

»Wohnanlage Assol. Genauer kann es dir der CIA auch nicht sagen. Präzisere Angaben sind nicht möglich.«

»Ich schulde dir ein Fläschchen«, meinte ich und legte auf. Sprang hoch. Doch wozu die Eile? Schließlich saß ich vorm Bildschirm der Überwachungskameras. Ich musste nicht lange suchen.

Timur Borissowitsch betrat gerade den Fahrstuhl. Ihm folgte ein Pärchen mit steinernen Mienen. Zwei Bodyguards. Oder ein Bodyguard und der Chauffeur, der obendrein den zweiten Leibwächter abgab.

Ich stellte den Bildschirm ab und stürmte los. Rannte in den Flur - gerade rechtzeitig, um den Chef der Security-Firma zu treffen.

»Hatten Sie Erfolg?«, fragte er freudestrahlend. »Hm«, nickte ich ihm im Lauf zu.

»Brauchen Sie noch weitere Hilfe?«, rief mir der Mann fürsorglich hinterher. Ich schüttelte nur den Kopf.

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