die Seher schon damals klar erkannt - zu einer wirklich attraktiven Gesellschaft werden würde. Es gab da einen geheimen Bericht, wonach… kurzum, die Menschen würden den Kommunismus bis zum Jahr 1980 aufgebaut haben.«

»Und Mais würde zur Hauptnahrungsquelle werden«, schnaubte Swetlana.

»Spotte nicht, Zaubermeisterin«, wies die Hexe Sweta gelassen zurecht. »An den Mais erinnere ich mich nicht mehr. Aber eine Stadt auf dem Mond sollte bereits in den siebziger Jahren errichtet sein. Wir wollten zum Mars fliegen und außerdem… Ganz Europa sollte kommunistisch werden. Und zwar nicht durch die Knute. Heute sollte es auf der Welt nur noch eine riesige Sowjetunion und das riesige Reich der Vereinigten Staaten geben… zu denen Großbritannien, Kanada und Australien gehören sollten… Als weiteres selbstständiges Land würde noch China existieren.«

»Sind die Lichten denn von falschen Voraussetzungen ausgegangen?«, fragte ich.

»Nein.«Arina schüttelte den Kopf. »Das sind sie nicht. Sicher, Blut wäre in Strömen geflossen. Aber das, was am Ende herausgekommen wäre, hätte sie zufrieden gestellt. Es wäre weitaus besser als alle heutigen Regime… Die Lichten haben aber eins nicht bedacht: Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätten die Menschen etwa jetzt von der Existenz der Anderen erfahren!«

»Verstehe«, meinte Swetlana. Nadjuschka zappelte unruhig auf ihrem Schoß herum. Das Stillsitzen reichte ihr, sie wollte zu»dem Wolf«.

»Deshalb ist dieser… nicht identifizierte Lichte…«Arina lächelte. »… der die Zukunft eben besser als jeder sonst vorhersehen konnte, zu mir gekommen. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und die Situation durchgesprochen. Das Unglück bestand darin, dass das Experiment nicht nur Große Magier geplant hatten, die einschätzen konnten, welche Gefahren unsere Demaskierung mit sich brachte, sondern auch etliche Magier der ersten oder zweiten Kategorie… sogar einige der dritten und vierten. Das Projekt ist ausgesprochen populär gewesen… Um es offiziell zu kippen, hätte man Tausende von Anderen umfassend informieren müssen. Darauf konnten wir es nicht ankommen lassen.«

»Ich verstehe«, sagte Swetlana. Was ich von mir nicht behaupten konnte!

Wir verbergen unsere Existenz vor den Menschen, weil wir Angst haben. Letzten Endes sind wir zu wenige, und keine Magie würde uns retten, wenn eine neue»Hexenjagd«einsetzte. Aber drohte uns wirklich auch in einer guten und glücklichen Zukunft, die Arinas Worten zufolge inzwischen schon längst hätte aufgebaut sein können, noch Gefahr?

»Deshalb haben wir beschlossen, das Experiment zu sabotieren«, fuhr Arina fort. »Das erhöhte die Zahl der Opfer im Zweiten Weltkrieg, verringerte jedoch die Zahl der Opfer, die mit dem Export der Revolution nach Europa und Nordafrika verbunden war. Mehr oder weniger hielt sich das die Waage… Natürlich ist das Leben in Russland heute nicht so schön und angenehm, wie es sein sollte. Doch wer sagt, dass sich Glück in einem vollem Bauch zeigt?«

»In der Tat«, konnte ich mich nicht beherrschen zu sagen. »Jeder Lehrer aus dem Wolgagebiet oder jeder Kumpel aus der Ukraine wird dir Recht geben.«

»Glück muss man im geistigen Reichtum suchen!«, fuhr Arina mich an. »Nicht in einer Badewanne voll Seifenschaum oder in einem beheizten Klo. Dafür wissen die Menschen wenigstens nichts von den Anderen!«

Ich hüllte mich in Schweigen. Die vor uns sitzende Frau hatte keine geringe Schuld auf sich geladen. Sie gehörte vors Tribunal und in die Mangel genommen, so eine durfte man nicht mit Glacehandschuhen anfassen! Was heißt hier Stadt auf dem Mond? Gut, wir haben keine Städte auf dem Mond. Und brauchen sie auch nicht. Aber dass die normalen Städte nur noch dahinsiechen, dass die ganze Welt bis heute mit Schrecken auf uns blickt…»Du Arme«, sagte Swetlana. »Hast du sehr gelitten?«

Im ersten Moment glaubte ich, sie mache sich über Arina lustig.

Den gleichen Gedanken muss die Hexe gehabt haben. »Hast du Mitleid mit mir oder verarschst du mich?«, fragte sie. »Ich habe Mitleid«, antwortete Swetlana.

»Die Menschen tun mir nicht leid, das brauchst du nicht zu denken«, fuhr die Hexe fort. »Das Land ja, das tut mir leid. Es ist mein Land, wie auch immer es sein mag, aber es ist meins! Und so, wie alles gekommen ist, ist es besser. Das Leben geht weiter. Die Menschen werden neue Menschen zur Welt bringen, neue Städte bauen, neue Felder pflügen.«

»Du hast dich nicht wegen der Tscheka in den Winterschlaf gelegt«, sagte Swetlana plötzlich. »Und auch nicht wegen der Inquisition. Denen hättest du irgendeinen Unsinn erzählt, das weiß ich… Nein, du wolltest nicht sehen, was nach deiner Sabotage aus Russland wird.«Arina schwieg. Swetlana sah mich an. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie.

»Entscheide du«, antwortete ich, da ich nicht genau wusste, worauf die Frage abzielte. »Wohin wolltest du fliehen?«, wollte Swetlana wissen.

»Nach Sibirien«, sagte Arina gelassen. »Das ist in Russland doch so üblich: Entweder wird man nach Sibirien verbannt oder man flieht dorthin. Ich werde mir ein sauberes Dorf suchen und mich etwas abseits davon niederlassen. Für meinen Unterhalt kann ich sorgen… Ich werde einen Mann finden.«Lächelnd strich sie mit der Hand über die volle Brust. »Dann warte ich noch zwanzig Jährchen, gucke mir an, was geschieht. Und ich werde mir Gedanken darüber machen, was ich der Inquisition sage, wenn sie mich schnappt.«

»Allein kommst du nicht durch die Sperren«, murmelte Swetlana. »Und wir dürften dich kaum rauskriegen.«

»Ich… verstecke… dich…«, hüstelte der Werwolf heiser. »Bin… dir… noch… was… schuldig.«

Arina kniff die Augen zusammen. »Weil ich dich gerettet habe?«, fragte sie.

»Nein… nicht dafür…«, antwortete der Werwolf nebulös. »Ich bringe… dich durch den Wald… ins Lager… dort verstecke ich dich… später… gehst du…«

»Niemand wird irgendwohin…«, setzte ich an. Doch Swetlanas Hand berührte sanft meine Lippen - ganz so, als bringe sie Nadjuschka zum Schweigen.

»Es ist besser so, Anton. Arina sollte besser gehen. Schließlich hat sie Nadenka nicht angerührt, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. Das war doch alles Mist. Unsinn. Quatsch. Ob die Hexe es fertig gebracht hatte, Sweta ihrem Willen zu unterwerfen? »Es ist besser so!«, wiederholte Swetlana nachdrücklich.

Dann wandte sie sich an Arina. »Hexe! Schwöre, dass du nie wieder einem Menschen oder einem Anderen das Leben nehmen wirst!«

»Einen solchen Schwur kann ich nicht leisten.«Arina schüttelte den Kopf.

»Schwöre, dass du in den nächsten hundert Jahren weder einem Menschen noch einem Anderen das Leben nimmst, sofern er dein Leben nicht bedroht… und dir keine sonstigen Möglichkeiten zu deiner Verteidigung bleiben«, sagte Swetlana nach kurzem Zögern.

»Das hört sich schon besser an!«Arina lächelte. »Man merkt gleich, dass du jetzt eine Große bist… Ein Jahrhundert zahnlos zu verbringen ist keine Freude. Trotzdem beuge ich mich. Möge das Dunkel mein Zeuge sein!«

Sie hob die Hand, auf der sich im nächsten Moment ein Klumpen Dunkelheit bildete. Die Tiermenschen, sowohl der Erwachsene wie auch die Kinder, winselten leise.

»Ich gebe dir deine Kraft zurück«, sagte Swetlana, noch bevor ich sie daran hindern konnte. Daraufhin verschwand Arina.

Ich sprang auf und stellte mich neben die ruhig dasitzende Swetlana. Ein wenig Kraft war mir noch geblieben… Für ein paar Schläge würde es reichen, nur dass die Hexe diese Schläge…

Abermals tauchte Arina vor uns auf. Bereits angezogen, anscheinend sogar gekämmt. Lächelnd.

»Ich kann dir auch schaden, ohne dich zu töten«, sagte sie gemein. »Dich lähmen oder in ein Monster verwandeln.«

»Stimmt«, pflichtete Swetlana ihr bei. »Das streite ich nicht ab. Nur, was hättest du davon?«

Einen kurzen Moment loderte in Arinas Augen eine solch durchdringende Wehmut auf, dass etwas in meiner Brust zu schmerzen begann.

»Nichts, Zaubermeisterin. Gut, lebe wohl. Gutes vergesse ich, aber ich bin mir nicht zu fein, dir zu danken…

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