sind.

Im zweiten Stock hatte der Wachtposten bereits gewechselt. Jetzt schob Garik Dienst, der mir nichts durchgehen ließ: Er betrachtete mich durchs Zwielicht und forderte mich mit einem Nicken auf, das Amulett zu berühren, eine verspielte Hahnendarstellung aus Golddraht. Bei uns hieß das Ding nach dem Zaren in Puschkins Märchen»Gruß dem Dadon«: Theoretisch sollte der Hahn anfangen zu krähen, sobald ein Dunkler ihn berührte. Einige Witzbolde behaupteten sogar, der Hahn würde mit menschlicher Stimme»Widerling!«quäken, wenn er einen Dunklen spürte.

Erst danach lächelte Garik mich zur Begrüßung an und gab mir dir Hand. »Ist Geser in seinem Büro?«, fragte ich.

»Wer weiß das schon?«, antwortete Garik mit einer Gegenfrage.

In der Tat, die Frage hätte ich mir schenken können! Den Hohen Magiern stehen viele Wege offen.

»Hast du nicht noch Urlaub…?«Meine seltsame Frage schien Garik aufmerken zu lassen.

»Ich hab genug vom Urlaub. Wie heißt es doch so schön: Der Montag beginnt…«

»Aber du bist völlig fertig…«, fuhr der Magier immer misstrauischer fort. »Fass den Hahn noch mal an!«

Abermals begrüßte ich Dadon, stand dann unbeweglich da, bis Garik meine Aura mit Hilfe eines ausgebufften Amuletts aus Buntglas kontrolliert hatte.

»Entschuldige«, sagte Garik, als er das Amulett wegsteckte. Verunsichert fügte er hinzu: »Du bist nicht wie sonst.«

»Ich habe mit Swetka in einem Dorf Urlaub gemacht, wo eine alte Hexe aufgetaucht ist«, erklärte ich. »Außerdem eine Horde Werwölfe, die die Gegend unsicher gemacht haben. Ich musste die Wölfe jagen, die Hexe…«Ich winkte ab. »Nach einem solchen Urlaub musst du dich eigentlich krankschreiben lassen.«

»Wenn das so ist«, meinte Garik gleich ruhiger, »reich einen Antrag ein, wir haben anscheinend noch Reserven zur Wiederherstellung der Kraft.«

Erschauernd schüttelte ich den Kopf. »Ich schaff das schon selbst, vielen Dank.«

Ich verabschiedete mich von Garik und ging in den dritten Stock hoch. Blieb vor Gesers Vorzimmer stehen. Klopfte. Als mir niemand antwortete, trat ich ein.

Die Sekretärin war natürlich nicht da, die Tür zu Gesers Arbeitszimmer fest verschlossen. Allerdings blinkte am Kaffeeautomaten fröhlich das Stand-by-Lämpchen, lief der Computer, und sogar der Fernseher brachte ganz leise die Nachrichten. Der Sprecher berichtete, dass ein Sandsturm die amerikanischen Truppen erneut an einer ihrer Friedensmissionen gehindert, einige Panzerwagen umgeworfen und sogar zwei Hubschrauber zum Absturz gebracht habe.

»Außerdem hat er den Soldaten die Fresse poliert und einige gefangen genommen«, fügte ich unwillkürlich hinzu.

Was hatten einige Andere doch für eine komische Angewohnheit beim Fernsehen? Entweder glotzten sie irgendwelche hirnlosen Seifenopern oder die Lügenmärchen in den Nachrichten. Mit einem Wort: Menschen… Mit einem andern Wort: Vieh?

Die sind daran aber nicht schuld. Sie sind schwach und zersplittert. Sie sind Menschen, kein Vieh! Das Vieh sind wir. Die Menschen sind das Gras.

Ich stand da, gestützt auf den Schreibtisch der Sekretärin, und schaute zum Fenster hinaus, in die über der Stadt dahinziehenden Wolken. Warum hängt der Himmel über Moskau so tief? Nirgendwo sonst habe ich einen so tiefen Himmel gesehen… höchstens noch im Moskauer Winter…

»Gras kann man mähen«, ließ sich hinter mir eine Stimme vernehmen. »Oder mit der Wurzel ausreißen. Was gefällt dir besser?«

»Guten Morgen, Chef«, sagte ich und drehte mich um. »Ich habe geglaubt, Sie seien nicht da.«

Geser gähnte. Er trug einen Morgenmantel und Pantoffeln. Unter dem Morgenmantel lugte ein Pyjama hervor.

Niemals hätte ich gedacht, dass der Große Geser einen Pyjama trägt, den Walt Disneys Figuren zieren! Angefangen bei Mickey Maus und Donald Duck bis hin zu Lilo und Stitch. Wie kann ein Großer, der schon Tausende von Jahren alt ist und ohne Probleme fremde Gedanken liest, einen solchen Pyjama tragen!

»Ich habe geschlafen«, erklärte Geser finster. »Ich habe süß und selig geschlafen. Allerdings bin ich erst um fünf Uhr morgens ins Bett gekommen.«

»Entschuldigen Sie, Chef«, sagte ich. Aus irgendeinem Grund kam mir als Anrede bloß»Chef«in den Sinn. »Ist heute Nacht viel los gewesen?«

»Ich habe ein interessantes Buch gelesen«, sagte Geser und setzte den Kaffeeautomaten in Betrieb. »Für mich schwarz mit Zucker, für dich mit Milch und ohne Zucker…»

»Irgendwas Magisches?«, wollte ich wissen.

»Nein, zum Kuckuck, SF von Golowatschew!«, schnaubte Geser. »Ich werde in Rente gehen und ihn fragen, ob er mich als Koautor nimmt, damit wir zusammen Bücher schreiben! Hier, dein Kaffee.«Ich nahm die Tasse und folgte Geser in sein Arbeitszimmer.

Hier empfingen mich noch mehr Kuriositäten als beim letzten Mal. In einem der Schränke tummelten sich jetzt unzählige kleine Mäusefiguren aus Glas, Zinn und Holz, standen Porzellantassen und lagen Stahlmesser. An die Innenwand des Schranks war eine alte Broschüre der Freiwilligen Gesellschaft zur Zusammenarbeit mit Armee, Luftwaffe und Flotte der UdSSR geheftet, auf deren Umschlag eine Jury abgebildet war, die einen Fallschirm begutachtete, daneben lehnte eine einfache Lithographie mit einer grünen Waldlandschaft gegen die Wand.

Aus irgendeinem Grund - mir war absolut nicht klar, aus welchem - ließ mich das an eine Grundschulklasse denken.

An der Decke hing außerdem ein goldfarbener Hockeyhelm, der verblüffend an einen Glatzkopf erinnerte. Im Helm steckten einige Dartpfeile.

Mit einem Blick auf all diese Dinge - die irgendeine wichtige Bedeutung haben mochten, genauso gut aber auch nichts zu bedeuten brauchten - nahm ich in einem der Besuchersessel Platz. Und bemerkte, dass in dem Papierkorb aus Metall ein Buch mit einem bunten Einband lag. Ob Geser wirklich Golowatschew gelesen hatte? Dann beschloss ich, einen Blick drauf zu werfen, und kam zu dem Schluss, dass ich mich geirrt hatte: Da hieß es nämlich Meisterwerke der internationalen Science Fiction.

»Trink deinen Kaffee, morgens muss man das Hirn durchspülen«, brummte Geser immer noch in diesem unzufriedenen Ton. Er selbst trank seinen Kaffee geräuschvoll, schlürfte, und ich dachte schon, wenn ich ihm eine Untertasse und Würfelzucker brächte, würde er auch daraus trinken.

»Ich brauche Antworten auf ein paar Fragen, Chef«, sagte ich. »Auf viele Fragen. »

»Die bekommst du«, meinte Geser nickend.

»Die Anderen sind in magischer Hinsicht viel schwächer als Menschen.«

Geser runzelte die Stirn. »Quatsch. Das ist ein Widerspruch in sich. »

»Aber die magische Kraft der Menschen…«

Geser hob den Finger und drohte mir. »Stopp! Verwechsel jetzt nicht die potenzielle Energie mit der kinetischen!«

Jetzt war die Reihe an mir, mich in Schweigen zu hüllen. Während Geser mit der Tasse in der Hand durchs Arbeitszimmer schritt und geduldig dozierte: »Erstens: Ja, alle Lebewesen sind in der Lage, magische Kraft zu produzieren. Alle Lebewesen, nicht nur Menschen! Sondern auch Tiere, sogar Pflanzen. Ob diese magische Kraft eine physische Grundlage hat? Ob man sie mit wissenschaftlichen Methoden messen kann? Das weiß ich nicht. Möglicherweise wird das niemals irgendjemand herausfinden. Zweitens: Niemand kann die eigene magische Kraft lenken. Sie verteilt sich im Raum, wird vom Zwielicht aufgesaugt, teilweise vom blauen Moos gefressen, teilweise von den Anderen aufgenommen. Verstehst du? Es sind zwei Prozesse: die Ausstrahlung der eigenen magischen Kraft und die Aufnahme fremder. Der erste ist unfreiwillig und nimmt zu, je weiter wir ins Zwielicht eintauchen. Der zweite

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