entweder vernichtet oder unterjocht. Verzeih, Anton, aber ich bin der Ansicht gewesen, dass Städte auf dem Mond und hundert Wurstsorten im Jahre 1980 diesen Preis nicht wert sind. »

»Dafür ist jetzt Amerika…«

»Du mit deinem Amerika«, blaffte Geser. »Warte bis 2006, dann reden wir noch mal darüber.«

Ich schwieg. Fragte noch nicht einmal, was Geser für das gar nicht mehr so ferne Jahr 2006 vorausgesehen hatte…

»Ich verstehe deine Gewissensqualen«, meinte Geser, während er nach dem Feuerzeug langte. »Es ist doch nicht zu zynisch, wenn ich jetzt rauche?«

»Von mir aus können Sie auch Wodka trinken, Lehrer«, konterte ich.

»Morgens trinke ich keinen Wodka.«Geser steckte sich die Zigarre an und paffte. »Deine Qualen… deine Zweifel… kann ich wirklich gut verstehen. Mir selbst passt die heutige Situation auch nicht. Aber was würde passieren, wenn wir in eine Depression fallen und unsere Arbeit aufgeben würden? Ich werd's dir sagen! Die Dunklen würden nur zu gern die Rolle der Hirten für die menschliche Herde übernehmen! Keine Sekunde würden sie zögern! Freuen würden sie sich, dass sie es am Ende doch noch geschafft haben… Also triff deine Entscheidung. »

»Welche?«

»Du bist doch hergekommen, um den Dienst zu quittieren!«Geser hatte die Stimme erhoben. »Also entscheide dich, ob du in der Wache bleiben willst oder ob dir unsere Ziele nicht licht genug sind.«

»In der Nachbarschaft von Schwarz erscheint Grau weiß«, antwortete ich.

Geser schnaubte. »Was ist mit Arina?«, fragte er etwas ruhiger. »Ist sie entkommen?«

»Ja. Sie hat Nadjuschka als Geisel genommen und von Swetlana und mir verlangt, dass wir ihr helfen.«In Gesers Gesicht zuckte nicht ein Muskel.

»Die alte Vettel hat ihre eigenen Prinzipien, Anton. Sie kann so viel bluffen, wie sie will, aber sie würde sich nie an einem Kind vergreifen. Glaub mir das, ich kenne sie.«

»Und wenn sie die Nerven verloren hätte?«, fragte ich in Erinnerung an die durchlebte Angst. »Die Wachen und die Inquisition sind ihr völlig schnuppe! Sie hat noch nicht mal vor Sebulon Angst.«

»Vor Sebulon vielleicht schon…«, meinte Geser lächelnd. »Ich habe die Inquisition über die Hexe informiert, mich aber auch mit Arina in Verbindung gesetzt. Übrigens absolut offiziell. Das ist alles protokolliert. Was deine Familie angeht, da habe ich die Hexe gewarnt. Und zwar aufs Schärfste.«

Das war neu für mich.

Ich sah Geser in das ruhige Gesicht und wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Arina und mich verbindet eine langjährige, von gegenseitigem Respekt geprägte Beziehung«, erklärte Geser.

»Wie schaffen Sie das?«, wollte ich wissen.

»Was meinst du damit?«, fragte Geser. »Den gegenseitigen Respekt? Weißt du…«

»Jedes Mal, wenn ich zu der felsenfesten Überzeugung gekommen bin, dass Sie ein mieser Intrigant sind, beweisen Sie mir innerhalb von zehn Minuten, dass ich Unrecht habe. Wir sind Parasiten, die die Menschen ausnutzen? - Na, das ist doch nur zu ihrem Besten. Das Land liegt am Boden? - Es könnte noch viel schlimmer sein. Meine Tochter ist in Gefahr gewesen? - Aber nein, sie war so sicher behütet wie der kleine Sascha Puschkin in der Obhut seiner alten Kinderfrau…«

Gesers Blick wurde weicher. »Vor langer, langer Zeit, Anton, da war ich ein schmächtiges Kerlchen mit ewig laufender Nase…«Gedankenversunken sah er durch mich hindurch. »Ja. Schmächtig und verrotzt. Und ich habe mich mit meinen Mentoren gestritten, deren Namen dir nichts sagen werden, denn ich war überzeugt davon, dass sie miese Intriganten sind. Dann haben sie mich vom Gegenteil überzeugt. Jahrhunderte sind vergangen, ich habe selbst Schüler bekommen…«

Er stieß eine Rauchwolke aus und verfiel in Schweigen. Was hätte er auch noch sagen sollen?

Jahrhunderte? Ha! Tausende von Jahren! Und das ist ein ausreichender Zeitraum, um zu lernen, jeden Angriff der eigenen Schützlinge zu parieren. Damit sie, wenn sie vor Empörung kochend zu ihm kommen, voller Liebe und Hochachtung für ihren Chef wieder von dannen ziehen. Erfahrung ist eine gewaltige Kraft. Beängstigender als jede magische.

»Ich würde Sie gern mal ohne Maske sehen, Chef«, sagte ich. Geser lächelte großmütig.

»Sagen Sie mir wenigstens, ob Ihr Sohn wirklich ein Anderer gewesen ist?«, fragte ich. »Oder haben Sie ihn zu einem Anderen gemacht? Ich verstehe ja, dass Sie das Geheimnis nicht preisgeben dürfen, sollen doch ruhig alle glauben…«

Krachend schlug Gesers Faust auf den Tisch. Geser selbst erhob sich. Beugte sich über den Tisch. »Wie oft willst du das Thema noch durchkauen?«, brüllte er. »Ja, Olga und ich haben die Inquisition ausgetrickst, um das Recht auf eine Remoralisation für Timur zu bekommen! Er sollte ein Dunkler werden, was mir nicht gepasst hat! Verstehst du? Wenn du willst, schmier mich bei der Inquisition an! Aber lass mich mit diesem Mist zufrieden!«

Einen Moment lang bekam ich es mit der Angst zu tun. Dann tigerte Geser wieder durchs Zimmer, permanent aus seinen Pantoffeln rutschend und wild gestikulierend. »Man kann aus einem Menschen keinen Anderen machen! Niemals! Unter keinen Umständen! Soll ich dir die Wahrheit über deine Frau und deine Tochter sagen? Olga hat sich in Swetlanas Schicksal eingemischt! Für sie hat sie die zweite Hälfte der Schicksalskreide gebraucht! Doch selbst mit der Schicksalskreide wäre es nicht möglich gewesen, aus deiner ungeborenen Tochter eine Andere zu machen, wenn sie nicht als Andere auf die Welt gekommen wäre! Wir haben sie nur noch stärker gemacht, ihr absolute Kraft gegeben! »

»Ich weiß«, meinte ich nickend. »Woher?«, wunderte sich Geser. »Arina hat das angedeutet.«

»Sie ist eine kluge Frau«, sagte Geser. Dann erhob er abermals die Stimme. »Das reicht! Jetzt weißt du alles, was dieses Thema angeht! Ein Mensch kann kein Anderer werden. Mit Hilfe sehr starker Artefakte kann man ihn im Anfangsstadium oder noch früher stärker oder schwächer machen, ihn zum Licht oder zum Dunkel bringen… In einem eng gesteckten Rahmen, Anton! Wenn der kleine Jegor nicht von Anfang an neutral gewesen wäre, hätten wir die Initiierung durch die Dunklen nicht rückgängig machen können. Wenn deine Tochter nicht als Große Zauberin hätte auf die Welt kommen sollen, hätten wir sie nicht zur Allergrößten machen können! Um ein Gefäß mit Licht oder Dunkel zu füllen, muss es erst mal da sein, dieses Gefäß! Von uns hängt ab, was hineingegossen wird, aber das Gefäß selbst können wir nicht herstellen! Wir müssen uns mit Kleinigkeiten, mit den geringsten Kleinigkeiten begnügen! Und du glaubst, man könne einen Menschen in einen Anderen verwandeln!«

»Boris Ignatjewitsch…«Ich wusste selbst nicht, warum ich Geser mit seinem russischen Namen ansprach. »… entschuldigen Sie, wenn ich Unsinn rede. Aber ich kann einfach nicht verstehen, warum Sie Timur nicht schon früher gefunden haben. Schließlich ist er der Sohn von Ihnen und Olga! Und Sie sollen ihn nicht gespürt haben? Selbst wenn Sie räumlich getrennt gewesen sind?«

In dem Moment knickte Geser überraschend ein. Auf seinem Gesicht spiegelten sich zugleich ein Schuldgefühl und Verzweiflung wider.

»Anton, ich mag ja ein alter Intrigant sein…«Er verstummte. »Aber du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich meinen Sohn in einem Waisenhaus hätte aufwachsen lassen? In Armut und Leid? Glaubst du etwa, ich würde nicht auch gern ein bisschen Wärme und Zärtlichkeit genießen? Mich als Mensch fühlen? Mein Baby wiegen, mit meinem kleinen Sohn zum Fußball gehen, meinem heranwachsenden Jungen das Rasieren beibringen und den jungen Mann in die Wache aufnehmen? Nenn mir nur einen Grund, warum ich hätte zulassen sollen, dass mein Sohn allein in der Fremde lebt und alt wird? Bin ich ein schlechter Vater? Ein herzloser Kerl? Vielleicht. Aber warum hätte ich dann einen Anderen aus ihm machen sollen? Warum hätte ich mir diese Probleme aufhalsen sollen?«

»Aber warum haben Sie ihn nicht früher gefunden?«, konterte ich.

»Weil er bei seiner Geburt ein stinknormaler Junge war! Ohne die geringsten Anlagen zum Anderen! »

»Das könnte sein«, sagte ich unsicher.

»Du kannst dir das nicht vorstellen?«, fragte Geser. »Siehst du, ich auch nicht… Andererseits hätte

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