ist in gewisser Weise ebenfalls für alle typisch, für Menschen und Andere. Ein krankes Kind bittet seine Mutter: »Setz dich zu mir, streich mir über den Bauch!«Die Mutter streichelt es - und der Schmerz verschwindet! Eine Mutter möchte ihrem Kind helfen, und ihre Kraft wirkt zumindest teilweise zielgerichtet. Die so genannten übersinnlichen Menschen - kastrierte Andere, wenn du so willst - können ihre Kraft nicht nur bei ihnen nahe stehenden Menschen einsetzen und nicht nur in einem Zustand psychischer Erregung, sondern auch fremde Menschen heilen oder verfluchen. Die aus ihnen herausströmende Kraft ist bereits stärker geformt. Kein Dampf mehr, aber auch noch kein Eis, sondern Wasser. Drittens: Wir sind die Anderen. Bei uns ist das Gleichgewicht zwischen Abgabe und Aufnahme zugunsten der Absorption verschoben. »
»Was?«, rief ich aus.
»Du hast wohl gedacht, alles sei so einfach wie bei den Vampiren?«Geser lächelte belustigt. »Du glaubst wohl, die Anderen nehmen nur, ohne im Gegenzug etwas zu geben? Nein, wir alle geben die Kraft ab, die wir produzieren. Aber während sich der Prozess von Aufnahme und Abgabe bei einem normalen Menschen in einem dynamischen Gleichgewicht befindet, das nur selten - in Fällen innerer Anspannung - gestört wird, liegen die Dinge bei uns anders. Bei uns ist das Gleichgewicht prinzipiell gestört. Wir schöpfen aus unserer Umwelt mehr, als wir abgeben.«
»Und über die Differenz können wir frei verfügen?«, fragte ich. »Ja?«
»Wir arbeiten mit den Unterschieden zwischen den einzelnen Potenzialen.«Geser drohte mir abermals mit dem Finger. »Es ist nicht wichtig, welche
Geser verstummte kurz, um dann selbstkritisch hinzuzufügen: »Das sind allerdings Einzelfälle, das gebe ich zu. Viel öfter bleiben die Anderen hinter den Menschen zurück, wenn es um die Produktion magischer Kraft geht, sind ihnen dafür bei der Aufnahme von Kraft aber ebenbürtig oder überlegen. Dinge wie eine Durchschnittstemperatur bei Kranken gibt es nicht, Anton. Wir sind keine banalen Vampire. Wir sind eben auch noch Spender.«
»Warum klärt uns darüber niemand auf?«, wollte ich wissen. »Warum nicht?«
»Weil wir, simpel betrachtet, eben doch nur fremde Kraft verbrauchen!«, polterte Geser. »Was kreuzt du hier überhaupt in aller Herrgottsfrühe auf? Warum kommst du mir mit diesen wüsten Beschimpfungen? Hach Gottchen, wir verbrauchen die Kraft, die die Menschen erarbeitet haben! Dabei musstest du sie dir sogar schon mal direkt holen! Sie wie ein richtiger Vampir absaugen! Das war nötig, und damals hat dir das auch keine schlaflosen Nächte bereitet! Du bist losgezogen, die Unschuld selbst, und Traurigkeit stand dir auf die edle Stirn geschrieben! Während hinter dir kleine Kinder geweint haben!«Natürlich hatte er Recht. Teilweise.
Doch ich hatte schon lange genug in der Wache gearbeitet, um zu verstehen: Eine Halbwahrheit ist auch eine Lüge. »Lehrer…«, sagte ich leise, worauf Geser zusammenzuckte.
Ich hatte mich genau an dem Tag geweigert, sein Schüler zu sein, als ich mir von den Menschen Kraft holte.
»Was ist, Schüler?«, erwiderte er, indem er mir in die Augen sah.
»Es kommt doch nicht darauf an, wie viel Kraft wir verbrauchen und wie viel wir abgeben«, meinte ich. »Ist das Ziel der Nachtwache, abzugrenzen und zu schützen, Lehrer?«Geser nickte.
»Abzugrenzen und zu schützen bis zu dem Tag, an dem die Moral der Menschen eine bessere ist und neue Andere sich nur noch dem Licht zuwenden?«Abermals nickte Geser. »Und alle Menschen in Andere zu verwandeln?«
»Quatsch.«Geser schüttelte den Kopf. »Wer hat dir diesen Bären aufgebunden? Gibt es auch nur in einem Dokument der Wachen einen solchen Satz? Oder im Großen Vertrag?«
Ich schloss die Augen, um die gehorsam auflodernden Zeilen zu betrachten.
»Nein, darüber steht nirgends ein Wort«, gab ich zu. »Aber unsere gesamte Ausbildung, all unsere Handlungen… sind so aufgebaut, dass genau dieser Eindruck entsteht. »
»Ein falscher Eindruck. »
»Aber dieser Selbstbetrug ist doch gewollt!«
Geser seufzte schwer. Sah mir in die Augen. »Jeder braucht einen Sinn im Leben, Anton«, sagte er. »Einen höheren Sinn. Sowohl die Menschen als auch die Anderen. Selbst wenn dieser Sinn eine Lüge ist.«
»Aber das ist eine Sackgasse…«, flüsterte ich. »Das ist eine Sackgasse, Lehrer. Wenn wir die Dunklen besiegen…«
»Dann besiegen wir das Böse. Egoismus, Selbstherrlichkeit, Gleichgültigkeit.«
»Aber unsere Existenz an sich, die ist ebenfalls Egoismus und Selbstherrlichkeit. »
»Was hast du für Vorschläge?«, wollte Geser wissen.
Ich schwieg.
»Hast du gegen die operative Arbeit der Wachen etwas einzuwenden? Dagegen, dass wir die Dunklen kontrollieren? Oder den Menschen helfen? Versuchen, das Gesellschaftssystem zu verbessern?«Hier sah ich eine Gelegenheit zur Revanche.
»Was genau haben Sie Arina 1931 übergeben, Lehrer? Als Sie sich mit ihr im Hippodrom getroffen haben?«
»Ein Stück chinesischer Seide«, antwortete Geser gelassen. »Schließlich ist und bleibt sie eine Frau, die gern schöne Kleider trägt… Und die Jahre damals waren schwer. Ein Bekannter aus der Mandschurei hatte mir den Stoff geschickt, und was sollte ich schon damit anfangen… Verurteilst du mich dafür?«Ich nickte.
»Ich bin von Anfang an gegen dieses globale Experiment an Menschen gewesen, Anton«, sagte Geser mit offenem Ekel. »Eine idiotische Idee, die bereits im 19. Jahrhundert ausgeheckt worden ist. Die Dunklen hatten schon ihre Gründe, als sie dem Experiment zugestimmt haben. Es hätte keine positiven Ergebnisse gebracht. Nur Blut, Kriege, Hunger, Repressionen…«
Er verstummte und öffnete polternd eine Schublade seines Schreibtischs. Holte eine Zigarre heraus.
»Aber Russland wäre jetzt ein glückliches Land…«, setzte ich an.
»Bla, bla, bla…«, murmelte Geser. »Nicht Russland, sondern die Eurasische Union. Ein satter sozialdemokratischer Staat. Der gegen die Asiatische Union mit China an der Spitze und die Konföderation englischsprachiger Länder mit den USA vorneweg kämpft. Fünf, sechs lokal begrenzte atomare Konflikte pro Jahr… in Ländern der Dritten Welt. Ein Kampf um Ressourcen, ein Wettrüsten, die schlimmer wären als heute…«
Ich war geschlagen und vernichtet. Am Boden zerstört. Zappelte aber noch. »Arina hat gesagt… eine Stadt auf dem Mond…«
»Ja, sicher«, meinte Geser nickend. »Städte auf dem Mond hätten wir jetzt. Um Basen mit Atomraketen herum. Liest du hin und wieder Science Fiction?«
Ich zuckte mit den Schultern und schielte zu dem Buch im Mülleimer hinüber.
»Das, was die amerikanischen Schriftsteller in den fünfziger Jahren geschrieben haben, das wäre passiert«, erklärte Geser. »Ja, Raumschiffe mit Atomantrieb… militärische. Du musst wissen, Anton, für den Kommunismus in Russland gab es drei Wege. Erstens: Es konnte eine wunderbare, herrliche Gesellschaft entstehen. Doch das widerspricht der Natur der Menschen. Zweitens: Er konnte verkommen und untergehen. Das ist dann ja auch passiert. Drittens: Er konnte die Form einer sozialdemokratischen Gesellschaft skandinavischen Typs annehmen und sich einen großen Teil Europas und Nordafrikas unterwerfen. Leider hätte dieser letzte Weg auch eine Aufteilung der Welt in drei Blöcke bedeutet, die einander gegenüberstehen würden und früher oder später einen Weltkrieg angezettelt hätten. Doch zuvor hätten die Menschen noch von unserer Existenz erfahren und die Anderen