6. Februar 1997
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VORWORT: EIN BRIEF
27. Oktober 1995 Liebe treue Leser,
das Leben ist eine launische Sache. Die Geschichte, die in diesem kleinen Buch beginnt, gibt es in dieser Form wegen der zufalligen Bemerkung eines Immobilienmaklers, den ich nie kennen gelernt habe.
Es geschah vor einem Jahr auf Long Island. Ralph Vicinanza, ein alter Freund und Geschaftspartner (er verkauft hauptsachlich die Veroffentlichungsrechte fur Bucher und Kurzgeschichten ins Ausland), hatte dort gerade ein Haus gemietet. Der Immobilienmakler bemerkte, dass das Haus >wie etwas aus einer Geschichte von Charles Dickens< aussah.
Ralph erinnerte sich an die Bemerkung, als er seinen ersten Gast im Haus begru?te, den britischen Verleger Malcolm Edwards. Er erzahlte Edwards davon, und sie plauderten uber Dickens. Edwards erwahnte, dass Dickens viele seiner Romane in Fortsetzungen veroffentlicht hatte, entweder als Beilage in Zeitschriften oder als eigene Ausgaben, so genannte >Chapbooks< (ich wei? nicht, woher diese Bezeichnung fur ein Buch kommt, das kleiner als ein durchschnittliches ist, aber der vertrauliche und freundschaftliche Klang des Wortes hat mir stets gefallen). An einigen der Romane, fugte Edwards hinzu, wurde noch geschrieben und korrigiert, wahrend die ersten Folgen bereits veroffentlicht wurden; Charles Dickens war ein Romanautor, der offenbar keine Angst vor Terminschwierigkeiten hatte.
Dickens' in Fortsetzungen veroffentlichte Romane waren enorm beliebt; sogar so beliebt, dass einer davon eine Tragodie in Baltimore heraufbeschwor. Eine gro?e Gruppe von Dickens-Fans drangte sich im Hafen auf einem Pier und wartete auf die Ankunft eines englischen Schiffes mit Exemplaren der letzten Fortsetzung von The Old Curiosity Shop an Bord. Wie es hei?t, sturzten in dem Gedrange einige der Mochtegern-Leser ins Wasser und ertranken.
Ich bezweifle, dass weder Malcolm noch Ralph jemanden ertrinken sehen wollen, aber sie waren neugierig, was geschehen wurde, wenn heutzutage wieder die Veroffentlichung eines Romans in Fortsetzungen versucht werden wurde. Keinem von beiden war auf Anhieb bewusst, dass es das schon mindestens zweimal gegeben hatte (es gibt wirklich nichts Neues unter der Sonne). Tom Wolfe veroffentlichte die erste Fassung seines Romans Fegefeuer der Eitelkeiten in Fortsetzungen im Rolling Stone Magazine, und Michael McDowell (TheAmulet, Gilded Needles, The Elementhals und das Drehbuch Beetlejuice) veroffentlichte einen Roman mit dem Titel Blackwater in Fortsetzungen im Taschenbuch. Dieser Roman -eine Horrorstory uber eine Sudstaatler-Familie mit der unangenehmen Eigenart, sich in Alligatoren zu verwandeln - war nicht McDowells bester, aber er wurde trotzdem ein guter Erfolg fur Avon Books.
Die beiden Manner spekulierten weiter, was geschehen wurde, wenn ein Autor von Unterhaltungsliteratur heutzutage versuchte, einen Roman in Chapbooks zu veroffentlichen - in kleinen Taschenbuchern, die vielleicht fur ein Pfund oder zwei in Gro?britannien oder fur vielleicht drei Dollar in Amerika verkauft werden wurden (wo die meisten Taschenbucher jetzt 6,99 Dollar oder 7,99 Dollar kosten). Jemand wie Stephen King konnte solch einem Experiment vielleicht einen interessanten Start geben, meinte Malcolm, und dann unterhielten sie sich uber andere Themen. Ralph verga? die Idee mehr oder weniger, aber sie fiel ihm im Herbst 1995 wieder ein, als er von der Frankfurter Buchmesse zuruckkehrte, einer Art internationaler Handels-Show, bei der jeder Tag fur auslandische Agenten wie Ralph ein Showdown ist. Er brachte mir das Thema Fortsetzung/Chapbook zusammen mit einer Reihe von anderen Ideen an, von denen die meisten automatisch abgelehnt wurden.
Die Idee mit dem Chapbook wurde jedoch nicht automatisch abgelehnt; im Gegensatz zum angebotenen Interview in der japanischen Ausgabe des Playboy oder der Tournee durch die baltischen Republiken, fur die alle Spesen vergutet werden sollten, beflugelte sie meine Phantasie. Ich bezweifle, dass ich ein moderner Dickens bin - wenn es so jemanden gibt dann ist das vermutlich John Irving oder Salman Rushdie -, aber ich habe stets Geschichten geliebt die in Episoden erzahlt werden. Es ist eine Form, auf die ich zum ersten mal in der Saturday Evening Post stie?, und sie gefiel mir, weil das Ende jeder Episode Leser und Schriftsteller zu fast gleichen Partnern machte - man konnte eine ganze Woche lang versuchen, die nachste Windung der Schlange herauszufinden. Au?erdem, so kam es mir vor, las und erlebte man diese Geschichten intensiver, weil sie rationiert waren. Man konnte sie nicht verschlingen, selbst wenn man das wollte (und wenn die Story gut war, tat man es dennoch).
Das Beste von allem: Bei mir zu Hause lasen wir Geschichten oft laut vor - an einem Abend mein Bruder David, am nachsten ich, am ubernachsten meine Mutter, dann wieder mein Bruder. Es war eine seltene Moglichkeit, ein geschriebenes Werk zu genie?en wie die Filme und Fernsehprogramme (Rawhide, Bonanza, Route 66), die wir uns gemeinsam ansahen; sie waren ein Familienereignis.
Erst Jahre spater wurde mir klar, dass Dickens' Romane in seiner Zeit auf sehr ahnliche Art und Weise erfreut hatten. Der Unterschied war nur, dass sie uber Jahre hinweg am Kamin bei dem Schicksal von Pip und Oliver und David Copperfield mit leiden mussten oder sich freuen konnten - nicht nur ein paar Monate lang (selbst die langsten Serien in der Post hatten selten mehr als acht Fortsetzungen). Es gefiel mir noch etwas anderes an der Idee, ein Aspekt, den wohl nur der Verfasser von Spannungsromanen und Gruselgeschichten voll zu schatzen wei?: Bei einer Geschichte, die in Fortsetzungen veroffentlicht wird, gewinnt der Schriftsteller eine Uberlegenheit uber den Leser, die er sonst nicht genie?en kann: Einfach gesagt, treue Leser, Sie konnen nicht vorausblattern und sehen, wie die Sache ausgeht.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal in unser Wohnzimmer spazierte, als ich zwolf war, und meine Mutter in ihrem geliebten Schaukelstuhl sa?. Verstohlen blinzelte sie auf das Ende eines Agatha Christie Taschenbuchs, wahrend ihr Finger das Buch erst bis Seite funfzig oder so aufgeschlagen hielt. Ich war entsetzt, und das sagte ich ihr (ich war zwolf Jahre alt, wohlgemerkt, ein Alter, in dem Jungs verschwommen zu erkennen beginnen, dass sie alles wissen). Ich erklarte ihr, wenn man das Ende eines Krimis liest, bevor man tatsachlich dort anlangt, ist das so, als esse man die Marmelade eines Berliners und werfe dann den Berliner selbst weg. Sie lachte ihr wundervolles ungeniertes Lachen und sagte, das moge vielleicht so sein, aber manchmal konne sie einfach nicht der Versuchung widerstehen. Der Versuchung erliegen, das war eine Sache, die ich verstehen konnte: das passierte mir auch oft, sogar mit zwolf. Aber jetzt gibt es endlich ein amusantes Mittel gegen die Versuchung. Bis die letzte Episode im Buchhandel eintrifft, wei? keiner, wie The Green Mae ausgeht, und das schlie?t mich vielleicht ein. Ralph Vicinanza konnte es unmoglich wissen, aber er erwahnte die Idee, einen Roman in Fortsetzungen zu veroffentlichen, bei mir in einem psychologisch perfekten Augenblick. Ich hatte mit einer Romanidee gespielt, mit einem Thema, bei dem mir klar war, dass ich es fruher oder spater anpacken musste: der elektrische Stuhl. >Old Sparky< hat mich fasziniert, seit ich meinen ersten James-Cagney-Film sah, und die ersten Geschichten uber Todeszellen, die ich las (in einem Buch von Warden Lewis E. Lawes mit dem Titel Twenty Thousand Years in Sing Sing), regten die dunklere Seite meiner Phantasie an. Ich fragte mich, wie es sein mag, wenn man diese letzten vierzig Yards zum elektrischen Stuhl geht und wei?, dass man dort stirbt. Und, was das anbetrifft, wie mag es sein, wenn man der Mann ist, der den zum Tode Verurteilten festschnallt oder den Hebel betatigt? Was wurde solch ein Job einem nehmen? Oder, noch gruseliger, was wurde er einem vielleicht geben?
Ich hatte diese Grundideen im Laufe der vergangenen zwanzig oder drei?ig Jahre bei einer Reihe verschiedener Rahmenhandlungen versucht, stets tastend, versuchsweise. Ich hatte einen erfolgreichen Roman geschrieben, der im Gefangnis spielt (Rita Hayword and Shawshank Redemptiori), und war zu dem Schluss gelangt, dass dieses Thema vermutlich ideal fur mich war, als diese Idee zur Sprache kam. Es gab vieles, was mir daran gefiel, aber vor allem faszinierte mich die Stimme des Erzahlers: leise, ehrlich, vielleicht ein bisschen naiv - er ist ein Stephen King-Erzahler, wie ich mir keinen besseren vorstellen kann. So machte ich mich an die Arbeit, aber auf vorsichtige Weise und mit Unterbrechungen. Das meiste des zweiten Kapitels wurde wahrend eines durch Regen bedingten unfreiwilligen Aufenthaltes im Fenway Park geschrieben!
Als Ralph anrief, hatte ich ein gefulltes Notizbuch mit gekritzelten Seiten von The Green Mile, und ich erkannte, dass ich einen Roman aufbaute, wahrend ich meine Zeit mit dem Uberarbeiten eines bereits fertigen Buchs (Desperation - Sie werden es bald sehen, treue Leser) hatte verbringen sollen. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit The Green Mile so weit, dass ich nur die Wahl hatte, es wegzulegen (und vermutlich nie wieder aufzunehmen) oder auf alles andere zu verzichten und weiterzumachen. Ralph schlug eine mogliche dritte Alternative vor, eine Geschichte, die auf die gleiche Art und Weise geschrieben werden konnte, wie sie gelesen wurde - in Fortsetzungen. Und mir gefiel auch der riskante Aspekt: verknall dich in den Job, schaffe es nicht, ihn