»Das wei? ich«, sagte ich. »Geh und hilf ihm.«
»Das ist nicht mein Job«, sagte Percy. »Dieser blode Lulatsch ist mein Job.« Er verabscheute gro?e
Leute. Er war nicht schmachtig wie Harry Terwilliger, aber klein. Ein Zwerghahn, der Typ, der Leute
provoziert, besonders wenn die Chancen alle bei ihm lagen. Und eitel mit seinem Haar. Er konnte
kaum die Hande davon lassen.
»Dann ist dein Job erledigt«, sagte ich. »Geh ruber ins Krankenrevier.«
Er schob trotzig die Unterlippe vor. Bill Dodge und seine Manner transportierten Kartons und
Bettwasche und sogar die Betten; das ganze Krankenrevier zog in ein neues Fachwerkgebaude an der
Westseite des Gefangnisses um. Hei?e Arbeit, schweres Heben. Percy Wetmore wollte sich davor
drucken.
»Die haben genug Leute«, sagte er.
»Dann geh ruber und schau ihnen bei der Arbeit zu«, sagte ich mit erhobener Stimme.
Ich sah, dass Harry zusammenzuckte, und ignorierte es. Wenn der Gouverneur Direktor Moores
anwies, mich zu feuern, weil ich an dem falschen Gefieder gerupft hatte, mit wem wurde Hal Moores
dann meine Stelle besetzen? Mit Percy? Das war ein Witz. »Es ist mir wirklich egal, was du tust, Percy,
solange du fur eine Weile von hier verschwindest«
Einen Augenblick lang dachte ich, er wurde stur sein und wirklich Schwierigkeiten machen, wahrend
Coffey die ganze Zeit dastand wie die gro?te stehen gebliebene Uhr der Welt. Dann rammte Percy
seinen Schlagstock zuruck in sein handgefertigtes Holster - verdammt blodes Ding fur einen eitlen
Fatzke - und stolzierte den Gang hinauf.
Ich erinnere mich nicht, welcher Warter an diesem Tag Dienst am Wachpult hatte - einer der Springer,
nehme ich an -, aber Percy musste seine Miene missfallen haben, denn er grollte, als er vorbeiging:
»Hor mit dem bloden Grinsen auf, oder ich wische dir Schei?er das Grinsen aus dem Gesicht.«
Es rasselten Schlussel, eine Tur ging auf, es fiel fur einen kurzen Moment Sonnenschein vom Hof auf
den Gang, und dann war Percy Wetmore verschwunden, wenigstens fur den Augenblick. Delacroix
Maus flitzte von einer Schulter des kleinen Franzosen zur anderen hin und her, und ihre Barthaare
zuckten.
»Ruhig, Mr. Jingles«, sagte Delacroix, und die Maus verharrte auf seiner linken Schulter, als hatte sie
ihn verstanden. »Sei ganz still und ganz ruhig.« Mit Delacroix' Akzent klang ruhig wie ruhig.
»Du legst dich hin, Del«, sagte ich schroff. »Ruh dich aus. Dies geht auch dich nichts an.«
Er gehorchte. Er hatte eine junge Frau vergewaltigt und getotet und dann ihre Leiche hinter dem
Apartmenthaus abgelegt, in dem sie gewohnt hatte, sie mit Benzin ubergossen und in Brand gesteckt,
um den Beweis seines Verbrechens zu vernichten, wie er es sich in seinem wirren Kopf ausgedacht
hatte. Das Feuer hatte auf das Haus ubergegriffen, es in Brand gesetzt, und sechs weitere Leute
waren bei dem Feuer umgekommen, darunter zwei Kinder.
Es war das einzige Verbrechen, das er begangen hatte, und jetzt war er nur ein sanftmutiger Mann
mit besorgtem Gesicht, einer kahlen Birne und ringsum langem Haar, das bis uber seinen Hemdkragen
fiel.
Er wurde bald auf Old Sparky Platz nehmen, aber was auch immer ihn zu dieser schrecklichen Sache
getrieben hatte, war bereits aus ihm heraus, und jetzt legte er sich auf seine Pritsche und lie? seinen
kleinen Gefahrten fiepend uber seine Hande laufen.
In gewisser Weise war das das Schlimmste: Old Sparky verbrannte nie, was in ihnen war, und das
Gift, das man ihnen heutzutage injiziert, brachte es nicht zum Schlafen. Es entkommt, springt zu
jemand anderem, so dass wir nur Hullen toten, die ohnehin nicht mehr wirklich leben.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Riesen zu.
»Wenn ich dir von Harry diese Ketten abnehmen lasse, wirst du dann artig sein?«
Er nickte. Das Nicken war ruckartig wie sein Kopfschutteln: Kopf runter, Kopf rauf und in die
Ausgangsstellung. Er sah mich mit seinem sonderbaren Blick an. Es lag eine Art Frieden in seinen
Augen, aber kein Frieden, der mir das Gefuhl gab, dass ich ihm trauen konnte. Ich krummte einen
Finger und winkte Harry zu mir, der zu Coffey ging und die Ketten aufschloss. Harry zeigte jetzt keine
Furcht, auch nicht, als er sich zwischen Coffeys baumstammartige Beine kniete, um die Fu?eisen
aufzuschlie?en, und das beruhigte mich etwas. Es war Percy, der Harry nervos gemacht hatte, und ich
vertraute Harrys Instinkten. Ich vertraute den Instinkten all meiner Manner von Block E mit Ausnahme
von Percy.
Ich halte Neuen im Block eine kleine Ansprache, aber bei Coffey zogerte ich, denn er wirkte so
anormal, und nicht nur wegen seiner Gro?e.
Als Harry zurucktrat (Coffey war die ganze Zeit wahrend der Entkettung reglos geblieben, so ruhig wie
ein Percheronpferd), schaute ich zu meinem neuen Schutzbefohlenen auf, tippte mit dem Daumen auf
das Klemmbrett und fragte: »Kannst du reden, gro?er Junge?«
»Jawohl, Sir, Boss, ich kann reden«, sagte er. Seine Stimme war ein tiefes, stilles Grollen. Es erinnerte
mich an einen frisch gestarteten Traktormotor. Er hatte keinen richtigen Sudstaatlerakzent, aber seine
Sprechweise war die eines Sudstaatlers, was ich spater bemerkte. Als ware er vom Suden, nicht aus
dem Suden. Er klang nicht ungebildet, aber auch nicht gebildet. In seiner Sprache wie in so vielen
anderen Dingen war er ein Geheimnis. Vor allem seine Augen beunruhigten mich - es war eine Art
friedliche Abwesenheit darin, als sei er weit, weit fort.
»Dein Name ist John Coffey?«
»Jawohl, Sir, Boss, wie Kaffee, nur anders geschrieben.«
»Du kannst also buchstabieren? Lesen und schreiben?«
»Nur meinen Namen, Boss«, sagte er ernst.
Ich seufzte und gab ihm dann eine Kurzversion meiner einstudierten Ansprache. Ich war bereits zu
dem Schluss gelangt dass er keine Probleme machen wurde. In diesem Punkt hatte ich recht und
unrecht. »Mein Name ist Paul Edgecombe«, sagte ich. »Ich bin der Oberwarter in Block E - der Chef
der Warter. Wenn du etwas von mir willst, nenn meinen Namen und frag nach mir. Wenn ich nicht da
bin, wende dich an diesen anderen Mann - er hei?t Harry Terwilliger. Oder du fragst nach Mr. Stanton
oder Mr. Howell. Hast du das verstanden?«
Coffey nickte.
»Erwarte nur nicht, dass du bekommst, was du willst, es sei denn, wir entscheiden, dass du es
brauchst - dies ist kein Hotel. Kannst du mir immer noch folgen?«
Er nickte abermals.
»Dies ist ein ruhiger Ort, gro?er Junge - nicht wie der Rest des Gefangnisses. Hier sind nur du und
Delacroix dort druben. Du wirst nicht arbeiten; du wirst hauptsachlich herumsitzen. So hast du Zeit,
um uber die Dinge nachzudenken.«
Zuviel Zeit fur die meisten, aber das sagte ich nicht »Abends lassen wir das Radio laufen, wenn alles
in Ordnung ist. Magst du Radio horen?«
Er nickte, jedoch zweifelnd, als sei er sich nicht sicher, was Radio ist. Ich fand spater heraus, dass das
in gewisser Weise stimmte. Coffey wusste Dinge, wenn er damit konfrontiert wurde, doch
zwischendurch verga? er sie. Er kannte die Hauptpersonen von „Unser Sonntagsmadchen“, hatte aber
nur eine au?erst verschwommene Erinnerung an den Inhalt der bisherigen Folgen der Serie.
»Wenn du dich ordentlich auffuhrst und die Mahlzeiten nimmst wie sie dir aufgetischt werden, wirst
du nie die Zelle dort unten am fernen Ende sehen und auch nicht in eine Zwangsjacke gesteckt
werden. Du wirst zwei Stunden am Nachmittag Hofgang haben, von vier bis sechs Uhr, mit Ausnahme
der Samstage, wenn der Rest der Haftlinge die Footballspiele austragt. Besuch kannst du an
Sonntagnachmittagen haben, sofern du jemanden hast, der dich besuchen will. Hast du jemanden,
der dich besucht, Coffey?«
Er schuttelte den Kopf. »Ich habe niemand, Boss«, sagte er.
»Nun, dann dein Anwalt«
»Ich glaube, den sehe ich nie wieder«, sagte er. »Der wurde mir geliehen.«
»Ein Pflichtverteidiger?«
Er nickte.