von Klasse Zwei wohnen. Du willst wohl Klasse Zwei werden, Jojo?«
Der Junge blitzte seine Schwester an. »Vielleicht. Vielleicht sogar Klasse Eins. Was wei?t denn du schon? Du wirst uberhaupt nichts. Ich habe jetzt schon etwas, was du nicht hast.«
Marina schnitt ihm eine Grimasse. Dennoch drehte sie sich um, um ihren noch unentwickelten Korper vor seinen neugierigen Augen zu verstecken. Pomrath sah von dem Morgen-Nachrichtenband auf und knurrte: »Hort auf, ihr beiden! Jojo, zieh dich an. Marina, komm endlich unter der Brause hervor.«
»Ich sagte doch blo?, da? ich nach Afrika mochte«, maulte der Junge.
»Du sollst deinem Vater nicht widersprechen«, sagte Helaine. »Au?erdem ist das Fruhstuck fertig. Zieh dich an.«
Sie seufzte. In ihrem Kopf war ein Gefuhl, als wurde Glas gemahlen. Immer das Gestreit der Kinder. Norm wie ein Gast in der Ecke. Geheimnisvolle Zettel, die bei der Wasche auftauchten. Vier fensterlose Wande, die sie einengten. Nein — es war mehr, als sie ertragen konnte. Sie verstand nicht, da? sie nicht schon langst Schlu? gemacht hatte. Essen, schlafen, baden, lieben — alles in einem winzigen Raum. Tausende von Nachbarn, die in den gleichen Lochern steckten. Einmal im Jahr ein Picknick an einem Ort, der noch nicht ganz verbaut war — Brot und Spiele, macht die Proleten glucklich! Aber es tat weh, einen Baum zu sehen und dann wieder nach Appalachia zuruckzukehren. Helaine fuhlte sich elend. Das hatte sie nicht erwartet, als sie Norman Pomrath heiratete.
Die Kinder a?en und gingen in die Schule. Norm blieb in seiner Ecke und horte immer noch sein Band. Hin und wieder tauschte er eine Neuigkeit mit ihr aus. »Danton will nachste Woche Dienstag ein neues Krankenhaus in Pazifika einweihen. Vollig automatisch, ein gro?er Homeostat und uberhaupt keine technischen Mediziner. Hubsch, was? Die Ausgaben der Regierung werden gesenkt, wenn sie keine Angestellten zu bezahlen braucht. Und hor dir das an: Ab ersten Mai werden die Sauerstoffzuteilungen in allen Geschaftsgebauden um zehn Prozent gesenkt. Sie behaupten, man wolle mit dieser Ma?nahme mehr Sauerstoff an die einzelnen Haushalte liefern. Du wirst sehen, Helaine, im August spatestens kurzen sie auch den Haushaltssauerstoff. So geht es immer …«
»Norm, reg dich nicht auf.«
Er horte nicht auf sie. »Weshalb mu?te uns das alles treffen? Wir haben ein Recht auf ein besseres Leben. Vier Millionen Menschen pro Quadratmeter. Soweit kommt es noch. Bauen wir die Hauser tausend Stock hoch, damit alle Platz bekommen und einen Monat brauchen, bis sie zur nachsten Schnellbootrampe kommen, aber was macht es? Das ist der Fortschritt! Das ist …«
»Glaubst du, du kannst diesen Lanoy ausfindig machen und Arbeit durch ihn bekommen?« fragte sie.
»Was wir brauchen«, fuhr er fort, »ist eine Seuche. Selektiv, naturlich. Sie soll alle treffen, die keine Arbeitsqualifikationen nachweisen konnen. Damit waren die Stempler gleich um ein paar Milliarden weniger. Und das gesparte Geld kann man fur Aufbauprogramme verwenden. Damit die ubrigen Arbeit bekommen. Wenn das nichts nutzt, mu? man eben einen Krieg anfangen. Mit extraterrestrischen Feinden, mit dem Volk aus dem Krebsnebel. Einfach aus Patriotismus. Naturlich einen Krieg, den wir verlieren. Viel Kanonenfutter.«
Er schnappt noch uber, dachte Helaine, als ihr Mann immer weiterredete. Es waren endlose Monologe, ganze Schwalle von Bitterkeit. Sie wollte nicht zuhoren. Da er keinerlei Anstalten traf, die Wohnung zu verlassen, ging sie. Sie knallte das Geschirr in den Abfall und sagte: »Ich besuche die Nachbarn«, gerade als er sich uber die Vorteile eines kontrollierten Nuklearkrieges zur Bevolkerungsverminderung auslie?. Leeres Geschwatz, das war alles, was Norm Pomrath zur Zeit fertigbrachte. Er mu?te sich reden horen, damit er nicht ganz unterging.
Helaine fragte sich, wohin sie gehen sollte.
Beth Wisnack, die durch die Flucht ihres Mannes in die Vergangenheit Witwe geworden war, sah noch eingefallener, grauer und trauriger aus als bei Helaines letztem Besuch. Ihr Mund war vor unterdruckter Wut verkniffen. Unter der Oberflache weiblicher Resignation lauerte der Ha?.
Hoflich bot Beth ihrem Gast eine Alkoholrohre an. Helaine lachelte, nahm das rote Plastikrohrchen und druckte es gegen den Armmuskel. Beth tat das gleiche. Die Ultraschall-Spitzen surrten. Das Anregungsmittel drang in den Blutstrom. Ein gutes Mittel fur die, die die modernen Mixgetranke nicht mochten. Helaine entspannte sich. Sie horchte eine Zeitlang auf Beths gleichformiges Gejammer.
Dann sagte Helaine: »Beth, kennst du einen gewissen Lanoy?«
Beth horchte sofort auf. »Lanoy? Welchen Lanoy? Wo hast du von ihm gehort? Was wei?t du uber ihn?«
»Nicht viel. Deshalb frage ich dich ja.«
»Ich habe den Namen gehort, das stimmt.« Ihre glanzlosen Augen belebten sich. »Bud hat ihn erwahnt. Ich horte ihn mit einem anderen Mann daruber sprechen. Lanoy hin, Lanoy her … Es war in der Woche, bevor er mich verlie?. Lanoy, sagte er. Lanoy wird alles in Ordnung bringen.«
Helaine griff nach einem zweiten Alkoholrohrchen, ohne Beths Aufforderung abzuwarten. In ihrem Innern war plotzlich eisige Kalte.
»Was wird Lanoy in Ordnung bringen?« fragte sie.
Beth Wisnack winkte resigniert ab. »Ich wei? nicht. Bud sprach uber solche Dinge nie mit mir. Aber ich horte ihn uber Lanoy diskutieren. Es war ein dauerndes Gefluster. Kurz bevor er ging, sprach er nur noch von ihm. Ich habe meine Theorie uber Lanoy. Willst du sie horen?«
»Naturlich.«
Lachelnd sagte Beth: »Ich glaube, da? Lanoy der Mann ist, der die Zeitreisen organisiert.«
Helaine hatte auch schon daran gedacht. Aber sie war hergekommen, um das Gegenteil zu erfahren, nicht um ihre schlimmsten Befurchtungen bestatigt zu sehen. Mit zitternden Handen glattete sie ihre Tunika, drehte sich herum und sagte: »Du glaubst wirklich? Hast du irgendeinen Grund dazu?«
»Bud sprach die ganze Woche uber Lanoy. Dann verschwand er. Er hat uber irgend etwas gebrutet, und es hatte mit Lanoy zu tun. Ich wu?te ja nicht, worum es ging. Aber ich habe meine Theorien. Bud traf diesen Lanoy irgendwo. Sie machten ein Geschaft. Und — und …« Wieder brach der Ha? durch. »Und dann verschwand Bud.« Sie sah Helaine an. »Weshalb fragst du?«
»Ich fand einen Zettel in Norms Kleidern«, sagte Helaine. »Eine Art Anzeige.
»Du solltest dich um die Sache kummern, Helaine.«
»Glaubst du, da? es so schlimm ist?«
»Ich glaube, da? es das gleiche wie bei Bud ist. Norm steht in Verbindung mit ihnen. Wahrscheinlich versucht er irgendwo das Geld aufzutreiben. Und dann schicken sie ihn zuruck.
Helaine zwang sich zur Ruhe.
»Hast du diesen Lanoy erwahnt, als dich die Polizei wegen Buds Verschwinden verhorte?« fragte sie.
»Ja, ich habe ihn genannt. Sie wollten wissen, ob Bud vor seinem Verschwinden unbekannte Leute getroffen hatte, und ich sagte, ich wu?te es nicht, aber er habe einige Male den Namen Lanoy erwahnt. Sie schrieben es auf. Ich wei? nicht, was sie damit anfingen. Bud konnen sie mir auf keinen Fall zuruckbringen. Man kann namlich nur in eine Richtung reisen. In die Vergangenheit. Sie haben keine Maschinen, um die Leute wieder hierherzusenden. Wer einmal weg ist, kommt nicht wieder. Wenn Norm also geht …«
»Er geht nicht«, sagte Helaine.
»Aber er trifft sich doch mit diesem Lanoy?« fragte Beth.
»Er hatte nur diesen kleinen Zettel. Es stand nicht mal eine Adresse darauf. Er sagte, er wu?te nicht, wo Lanoy zu finden sei. Und sicher sind wir schlie?lich auch nicht, ob der Mann etwas mit den Zeitreisen zu tun hat.«
Beths Augen blitzten. »Die Lanoy-Leute sind in Kontakt mit ihm. Das hei?t, da? sie ihn jederzeit erreichen konnen. Also kann auch er sie erreichen. Und sie werden ihn in die Vergangenheit schicken. Er macht den Sprung,