Madchen werden alte Jungfern. Das dritte ertrinkt, als es sich auf zu dunnes Eis wagt. Der eine Sohn ist ein gewohnlicher Arbeiter und hat ein paar Kinder, die es nie zu etwas bringen, und der funfte …«

»Woher wissen Sie, was es bedeutet, wenn man einen einzigen Arbeiter aus der Matrix der Vergangenheit entfernt?« fragte Koll. »Wir konnen nicht einmal einkalkulieren, welche Anderungen durch das Entfernen einer alten Jungfer entstehen. Wollen Sie es riskieren, Spanner? Wollen Sie die Verantwortung ubernehmen?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Wir hatten jetzt schon seit vier Jahren Zeitreisende zuruckhalten konnen, wenn wir die Aufzeichnungen nur durchgesehen hatten. Niemand hat es getan. Niemand hat es bisher vorgeschlagen. Erst unser Freund Quellen kam auf die verruckte Idee.«

»Ich wei? nicht«, meinte Spanner. »Ehrlich gesagt, ich dachte selbst schon daran.«

»Aber Sie sagten nichts.«

»Na schon. Ich hatte noch nicht die Zeit, an die Folgen zu denken. Aber ich bin sicher, da? auch andere, die mit dem Zeitreisenproblem beschaftigt sind, auf den Gedanken kamen. Vielleicht ist es sogar schon durchgefuhrt worden.«

»Gut«, sagte Koll. »Rufen Sie Quellen an und sagen Sie ihm, da? er fur seinen Plan offiziell um Zustimmung nachsuchen soll. Dann unterzeichnen Sie.«

»Nein. Wir werden beide unterzeichnen.«

»Ich lehne es ab, die Verantwortung zu ubernehmen.«

»In diesem Fall mu? ich das gleiche tun.«

Sie lachelten einander kuhl an. Die Schlu?folgerung war klar.

»In diesem Fall«, meinte Koll, »mussen wir den Oberen die Entscheidung uberlassen.«

»Einverstanden. Das ubernehmen Sie.«

»Feigling!« knurrte Koll.

»Weshalb? Quellen hat die Sache Ihnen vorgetragen. Sie haben mit mir daruber gesprochen, und meine Ratschlage haben Ihre eigenen Gefuhle bestatigt. Jetzt liegt der Fall wieder bei Ihnen. Bringen Sie ihn bei den Oberen vor.« Spanner lachelte freundlich. »Sie haben doch keine Angst davor, oder?«

Koll rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Bei seiner Autoritat und Verantwortung hatte er das Recht, sich direkt an die Hohe Regierung zu wenden. Er hatte von dem Recht schon ein paarmal Gebrauch gemacht, aber immer mit Widerwillen. Naturlich sprach er mit den Oberen nicht von Angesicht zu Angesicht. Er kannte ein paar Klasse-Zwei-Leute personlich, aber der Kontakt mit Klasse Eins erfolgte uber den Bildschirm. Einmal hatte Koll mit Danton gesprochen und dreimal mit Kloofman, aber er war keineswegs sicher, ob es sich bei den Gestalten um echte Menschen handelte. Wenn jemand sagte, er sei Kloofman, wenn er mit Kloofmans Stimme sprach und den Bildern von Kloofman ahnlich sah, bedeutete das noch nicht, da? es einen Menschen namens Peter Kloofman uberhaupt gab.

»Ich werde anrufen und sehen, was sich ergibt«, meinte Koll.

Er wollte den Anruf nicht von seinem eigenen Schreibtisch aus machen. Plotzlich verlangte es ihn nach Bewegung. Koll stand auf, etwas zu hastig, und ging hinaus, hinunter in die Halle, wo eine verdunkelte Telefonzelle stand. Der Schirm flackerte hell auf, als er auf die Taste druckte.

Man wagte es naturlich kaum, den Horer aufzunehmen und Kloofman anzurufen. Man hatte dazu eigene Verbindungsleute. Kolls Kontakt zur Spitze erfolgte uber David Giacomin, den Vizekonig fur internationale Verbrechensbekampfung. Giacomin gehorte zur Klasse Zwei und existierte tatsachlich. Koll hatte ihn gesehen, er hatte sogar zwei Stunden in seinem Privatreich in Ostafrika verbracht — eines der denkwurdigsten und qualendsten Ereignisse in Kolls ganzem Leben.

Er wahlte Giacomins Nummer. In weniger als einer Viertelstunde zeigte sich der Vizekonig auf dem Schirm und lachelte auf Koll herab — in der jovialen Art, die sich nur ein Mitglied der Klasse Zwei leisten konnte. Giacomin war ein Mann um die Funfzig mit kurzgeschorenem, eisgrauen Haar, einem schiefen Mund und einer zerfurchten Stirn. Sein linkes Auge mu?te irgendwann in der Vergangenheit zerstort worden sein. Statt dessen trug er einen Empfanger aus Kunststoff, dessen Zuleitungen direkt zum Hirn fuhrten.

»Was gibt es, Koll?« fragte er liebenswurdig.

»Sir, einer meiner Untergebenen hat eine sehr ungewohnliche Methode vorgeschlagen, mit deren Hilfe man Auskunft uber die Zeitreise-Affare bekommen konnte. Es sind nun einige Zweifel daruber entstanden, ob wir diesen Weg einschlagen sollen oder nicht.«

»Warum erzahlen Sie mir nicht die ganze Geschichte?« fragte Giacomin. Seine Stimme war so sanft und trostend, als wolle er einem Patienten das Geheimnis seiner Neurose entlocken.

* * *

Eine Stunde spater, gegen Ende des Arbeitstages, erfuhr Quellen von Koll, da? man hinsichtlich Mortensen noch nichts erreicht hatte. Koll hatte mit Spanner und dann mit Giacomin gesprochen, und nun wollte Giacomin mit Kloofman sprechen. In ein paar Tagen wurde einer der Oberen das letzte Wort in der Mortensen-Angelegenheit sprechen. Quellen sollte inzwischen nichts unternehmen. Schlie?lich war bis zum vierten Mai noch eine Menge Zeit.

Quellen freute sich keineswegs uber den Wirbel, den er verursachte. Es war ein kluger Gedanke, sich auf Mortensens Spur zu setzen. Aber manchmal war zu viel Klugheit gefahrlich. Quellen wu?te, da? er Koll eingeheizt hatte. Das machte sich nie bezahlt. Und er konnte sich vorstellen, da? auch Koll Giacomin lastig gefallen war und da? nun Giacomin Kloofman verargerte. Das bedeutete, da? Quellens kluger Vorschlag auf dem Weg durch die Instanzen uberall Arger aufwirbelte. Als Quellen junger war und danach strebte, an die Spitze von Klasse Sieben zu gelangen, hatte er sich nichts so sehr gewunscht wie diese Beachtung. Jetzt war er Klasse Sieben, er hatte das kleine Privatapartment, das ihm alles bedeutete, und eine weitere Beforderung konnte ihm wenig einbringen. Au?erdem belastete sein illegales Heim in Afrika sein Gewissen. Er wollte auf keinen Fall, da? ein Mitglied der Hohen Regierung sagte: »Dieser Quellen ist ein schlauer Bursche — finden Sie alles uber ihn heraus, was Sie konnen.« Quellen hatte nur den Wunsch, unbeachtet zu bleiben.

Dennoch hatte er die Idee mit Mortensen nicht unterdrucken konnen. Er hatte seine Pflichten zu erfullen, und sein privater Lebenswandel machte ihn in dienstlichen Dingen nur um so gewissenhafter.

Bevor Quellen an diesem Tag das Buro verlie?, verlangte er nach Stanley Brogg.

Der bullige Assistent sagte sofort: »Wir haben ein weites Netz ausgespannt, Sekretar. Es ist nur noch eine Sache von Tagen oder Stunden, bis wir die Identitat des Kerls kennen.«

»Gut«, sagte Quellen. »Mir ist noch eine weitere Methode eingefallen. Aber wir mussen vorsichtig zu Werk gehen, weil sie offiziell noch nicht genehmigt ist. Da ist ein Mann namens Donald Mortensen, der am vierten Mai den Zeitsprung wagen will. Sie konnen es in den Akten nachprufen, die Sie mir gaben. Ich mochte, da? man ihn aufspurt. Sein Tun und seine Verbindungen sollen genau uberpruft werden. Aber es mu? mit au?erster Feinfuhligkeit geschehen. Das kann ich nicht stark genug betonen, Brogg.«

»Schon. Mortensen hei?t der Mann.«

»Mit au?erster Feinfuhligkeit! Wenn der Mann merkt, da? wir ihn uberwachen, kann es eine peinliche Situation fur uns werden. Degradierung und Schlimmeres. Also, merken Sie sich eines: Der Mann mu? vollig ahnungslos bleiben. Sonst geht es Ihnen schlecht.«

Brogg lachelte verschlagen. »Sie wurden mich um ein paar Stufen strafversetzen, wenn ich einen Fehler mache?«

»Hochstwahrscheinlich.«

»Ich glaube nicht, da? Sie das wagen wurden, Sekretar.«

Quellen erwiderte ruhig den Blick des Dicken. Brogg wurde in letzter Zeit aggressiv. Er geno? die Macht, die er uber Quellen besa?. Seine zufallige Entdeckung der Villa in Afrika war die gro?e Qual in Quellens Leben.

»Verschwinden Sie«, sagte Quellen. »Und denken Sie daran, da? die Sache Mortensen vorsichtig angefa?t werden mu?. Es ist sehr gut moglich, da? die Hohe Regierung die Untersuchung abbrechen la?t, und dann ist keiner von uns zu beneiden.«

»Ich verstehe«, sagte Brogg. Er ging.

Quellen uberlegte, ob er das Richtige getan hatte. Was geschah, wenn uber Giacomin der Befehl kam, Mortensen in Ruhe zu lassen? Nun, Brogg war ziemlich schlau — zu schlau manchmal. Und wenn die Oberen

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