Helaine. Du kannst es mir glauben.«

* * *

Ein Schnellboot brachte sie zu dem prachtvollen Gebaude, in dem sich das Kriminalsekretariat befand. Durch ihre Hartnackigkeit in den unteren Buros erfuhr Helaine, da? sich ihr Bruder heute im Dienst befand. Schlie?lich teilte man ihr mit, da? er sie sprechen wurde, wenn sie sich ein Weilchen gedulden konnte. Die Maschine verlangte ihren Daumenabdruck, und sie gab ihn ab, und dann sa? sie in einem nuchternen Vorraum mit purpurfarbenen Mobeln.

Helaine war die Welt der Geschaftsraume und Roboter nicht gewohnt. Sie blieb in der Nahe ihres Hauses und besorgte die meisten Einkaufe per Fernbedienung. »Die Stadt« — die Welt am Ende der Schnellbootrampen — jagte ihr Angst ein. Sie zwang sich, kuhl zu bleiben. Bei einer so ernsten Angelegenheit mu?te sie ihrem Bruder ruhig gegenubersitzen.

»Der Kriminalsekretar mochte Sie sprechen«, verkundete eine ruhige, unpersonliche Stimme.

Sie wurde vor ihren Bruder gebracht. Quellen erhob sich, warf ihr ein kurzes, verlegenes Lacheln zu und bot ihr einen Sessel an. Der Sessel nahm sie auf und begann ihre Ruckenmuskeln zu massieren. Helaine zuckte bei dem Gefuhl zusammen und rutschte angstvoll nach vorne, als sich die unsichtbaren Hande an ihren Huften zu schaffen machten. Die fein abgestimmten Sensoren spurten ihre Ablehnung und zogen sich zuruck.

Sie sah ihren Bruder unsicher an. Quellen schien vor ihr die gleiche Scheu zu haben wie sie vor ihm. Er zupfte sich am Ohr, pre?te die Lippen zusammen, knackte mit den Fingerknocheln. Sie waren sich praktisch fremd. Bei Familienfeiern traf man sich hin und wieder, aber sie hatten sich seit langer Zeit nicht mehr richtig unterhalten. Er war ein paar Jahre alter als sie. Fruher waren sie einander sehr nahe gestanden. Sie hatten sich gebalgt und gezankt wie jetzt Marina und Joseph. Helaine konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie als Junge immer neugierig angesehen hatte. Unvermeidlich in der Enge eines Raumes. Er hatte sie an den Haaren gezogen und ihr bei den Hausaufgaben geholfen. Dann hatte seine Ausbildung fur den Regierungsdienst begonnen, und er war ihrer Welt fremd geworden. Und nun war sie eine nervose Hausfrau und er ein geschaftiger Beamter, und sie hatte ein wenig Angst vor ihm.

Ein paar Minuten lang drehte sich das Gesprach um familiare Dinge. Helaine sprach von den Kindern, von ihrem Leben, von ihren Interessen. Quellen sagte nur wenig. Er war Junggeselle, was die Kluft zwischen ihnen noch vertiefte. Helaine wu?te, da? ihr Bruder eine Freundin namens Judith hatte, aber er sprach nur selten von ihr und schien auch nicht sehr oft an sie zu denken. Manchmal hegte Helaine den Verdacht, da? es diese Judith gar nicht gab, da? sie nur eine Tarnung fur irgendein heimliches Laster war — homosexuelle Beziehungen vielleicht.

Sie brachte das Geplauder zu einem Ende, indem sie direkt nach Judith fragte. »Wie geht es ihr? Du wolltest uns doch einmal mit ihr besuchen, Joe.«

Quellen sah sie bei der Erwahnung ebenso unbehaglich an wie Norm, als sie ihn wegen des Zettels gefragt hatte. Er antwortete ausweichend. »Ich habe es ihr vorgeschlagen. Sie mochte dich und Norm gern einmal kennenlernen, aber im Augenblick ist es ungunstig. Judith ist mit Kindern etwas nervos. Aber ich bin sicher, da? wir uns noch einmal treffen.« Wieder dieses unsichere, hohle Lacheln. Dann lie? er das heikle Thema fallen und kam zur Sache. »Du hast doch nicht einfach so vorbeigesehen, Helaine?«

»Nein. Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Die Nachrichtenbander sagen, da? du die Nachforschungen uber die Zeitreisen leitest.«

»Ja. Das stimmt.«

»Norm will den Sprung machen.«

Quellen richtete sich steif auf. Seine linke Schulter schien etwas hoher als die rechte. »Wie kommst du auf die Idee? Hat er dir das selbst gesagt?«

»Nein, naturlich nicht. Aber ich vermute es. Er ist in letzter Zeit so deprimiert, weil er keine Arbeit findet.«

»Das ist nichts Neues bei ihm.«

»Es ist aber schlimmer als zuvor. Du solltest mal seine Gesprache horen. Er ist so verbittert, Joe. Er bringt nur noch Unsinn vor, einfach zusammenhanglose, bose Worte. Ich wollte, du konntest es dir anhoren. Uber kurz oder lang kommt es bei ihm zum Zusammenbruch. Ich spure, wie sich sein Arger staut.« Sie zuckte zusammen. Der Stuhl begann sie wieder zu massieren. »Er hat jetzt seit Monaten keine Arbeit mehr, Joe.«

»Ich wei?«, sagte Quellen. »Die Hohe Regierung arbeitet einen Plan aus, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.«

»Schon und gut. Aber inzwischen hat Norm nichts zu tun, und ich glaube nicht, da? er es noch lange aushalt. Er ist mit den Zeitreise-Agenten in Kontakt, und er wird den Sprung machen. Vielleicht steigt er sogar in diesem Augenblick in die Maschine.«

Ihre Stimme war schrill geworden. Sie konnte das Echo horen. Sie hatte das Gefuhl, da? ihre Nerven jeden Augenblick durch die Haut dringen wurden.

Quellens Miene hatte sich verandert. Er holte Luft, um sich zu entspannen und beugte sich freundlich vor. Seine Miene war die eines Psychiaters. Helaine erwartete, da? er sagen wurde: »Wollen wir nun versuchen, dieser Wahnvorstellung auf den Grund zu gehen?« Statt dessen sagte er sanft: »Vielleicht regst du dich unnotig auf, Helaine. Wie kommst du auf den Gedanken, da? er mit den Verbrechern zusammenarbeiten konnte?«

Sie erzahlte ihm von dem Zettel und Norms merkwurdiger Reaktion auf ihre Frage. Als sie den Inhalt zitierte, bemerkte Helaine zu ihrer Uberraschung, da? Joes freundlicher Blick einen Augenblick angstvoll wurde. Dann hatte er sich wieder gefangen. Aber es war zu spat. Helaine war eine scharfe Beobachterin menschlicher Reaktionen.

»Du kennst diesen Lanoy?« fragte sie.

»Zufallig habe ich einen der Zettel gesehen, Helaine. Sie sind weit verbreitet. Man geht auf eine Schnellbootrampe, und plotzlich kommt jemand auf einen zu und druckt einem so ein Ding in die Hand. Sicher hat Norm es auf die gleiche Weise bekommen.«

»Und es ist eine Anzeige der Zeitreise-Agenten, nicht wahr?«

»Ich habe keinen Grund, das anzunehmen«, sagte er gedehnt. Man sah ihm an, da? er log.

»Aber du stellst doch Nachforschungen uber Lanoy an? Ich meine, wenn er sich wirklich verdachtig macht …«

»Ja, wir uberprufen ihn. Und ich wiederhole, Helaine, da? wir bis jetzt noch keinen Grund zu der Annahme haben, Lanoy konnte mit den Zeitreisen zu tun haben.«

»Aber Beth Wisnack sagte, da? ihr Mann vor seinem Verschwinden dauernd von Lanoy sprach.«

»Wer?«

»Wisnack. Einer, der erst kurzlich den Sprung machte. Beth sagte mir rundheraus, da? Lanoy fur Buds Verschwinden verantwortlich sei. Sie sagte auch, da? Norm bestimmt gehen wurde.« Erregt rutschte Helaine auf dem Sessel hin und her. Das Gehirn des Stuhles nahm die Bewegung auf und begann sie wieder zu massieren.

»Wir konnen sehr leicht nachprufen, ob Norm unter die Zeitreisenden gehen will«, meinte Quellen. Er drehte sich herum und hielt ihr eine Spule hin. »Hier ist eine komplette Aufzeichnung aller Zeitreisenden, die in der Vergangenheit registriert wurden. Die Liste wurde erst kurzlich fur mich angefertigt, und ich hatte naturlich noch keine Zeit, sie vollstandig durchzugehen. Sie enthalt Hunderttausende von Namen. Aber wenn Norm den Sprung machte, werden wir es hier sehen.«

Er schaltete die Spule ein und begann sie durchzusehen. Halblaut murmelte er die alphabetisch geordneten Namen vor sich hin. Helaine sa? steif da, wahrend Quellen dem Buchstaben P immer naher kam. Ob er ihn fand?

Wenn Norm verschwunden war, mu?te sich sein Name hier befinden. Sein Schicksal mu?te hier zu lesen sein — sein Geschick und das ihre. Auf einer Kunststoffrolle. Sie wurde erfahren, da? ihre Ehe dreihundert Jahre, bevor sie endete, zum Scheitern verurteilt war. Sie wurde erfahren, da? der Name ihres Mannes vor Jahrhunderten eingetragen worden war — als der Name eines Fluchtlings aus dieser Zeit. Weshalb hatte man die Listen nicht der Offentlichkeit zuganglich gemacht? Sie wu?te es. Weil die Erkenntnis auf den Betroffenen lasten wurde, weil sie unter dem Schatten dieses Wissens aufwachsen mu?ten.

»Siehst du?« sagte Quellen triumphierend. »Er steht nicht auf der Liste.«

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