Als sie ihm die Schlussel abnahmen, fragte die Hausherrin: ›Wer seid Ihr?‹

Er erwiderte: ›Gezeugt hat mich eine Bauersfrau dieser Gemeinde, der ein Damon in Gestalt ihres eigenen Ehgemahls beischlief.‹

Er nannte den genarrten Mann mit Namen, und es stellte sich heraus, da? er seit einiger Zeit tot war. Die Mutter lebte noch, und als man sie streng befragte, bekannte sie die Tat in einem offentlichen Gestandnis.

Interessant, dachte Quellen. Woher hat Brogg diese Dinge? Es konnte sich bei dem Rothaarigen sehr gut um einen Zeitreisenden handeln, der durch einen Zufall zu weit in die Vergangenheit geraten war. Und es gab noch mehr Zeugnisse von Chronisten aus Klostern. Nach Broggs Zusammenstellung war das zwolfte und dreizehnte Jahrhundert eine wahre Fundgrube fur solche unerklarlichen Falle. Und es waren nicht immer nur Menschen aufgetaucht. Quellen las einen Bericht aus dem Jahre 1171, der im Eulogium Historiarium der Malmesbury-Abtei stand:

In der Weihnacht, der Geburtsstunde des Herrn, vernahm man Donner und Blitz wie noch nie zuvor. Und zu Andover wurde ein Pfaffe um Mitternacht vor versammelter Gemeinde vom Blitz niedergeschlagen, ohne da? er verletzt wurde … und zwischen seinen Fu?en lief ein Wesen hin und her, das wie ein Schwein aussah …

Brogg hatte einen Parallelfall in den Annales Francorum Regium des Monches Bertin gefunden. In einem Eintrag des Jahres 856 stand zu lesen:

Im August las Teotogaudus, Bischof zu Trier, vor Klerikern und Laien das Hochamt, als eine gar schreckliche Wolke, begleitet von Donner und Blitz, die ganze Kirchengemeinde erschreckte und das Gelaute der Glocken ubertonte. Die ganze Kirche wurde so von Dunkelheit erfullt, da? die Menschen kaum ihre Nachbarn sehen konnten. Und plotzlich erschien ein riesiger Hund aus einer Offnung in der Erde und rannte um den Altar herum.

Schweine? Hunde? Ob es die ersten Versuche waren, Lebewesen in die Vergangenheit zu befordern? Er konnte sich vorstellen, da? die Maschine noch neu und unerprobt war und da? man zuerst Tiere in das Feld gebracht hatte. Diese Tiere waren es dann, die die aberglaubischen Menschen des Mittelalters zu Tode erschreckt hatten. Wahrscheinlich waren anfangs Irrtumer in der Berechnung der Zeit noch haufig vorgekommen, denn mit Absicht hatten die Erfinder der Maschine die Tiere und Menschen bestimmt nicht in ein Zeitalter jenseits der Industrierevolution versetzt.

Aber Broggs Material enthielt nicht nur Episoden aus dem Mittelalter. Eine ganze Menge Beispiele stammten aus spateren Zeiten. Quellen studierte den Fall eines jungen Madchens, das an einem Aprilabend im Jahre 1817 vor einer Hutte in Bristol erschienen war und in »einer fremden Sprache« um Essen gebettelt hatte.

Woher wu?te man dann, was sie wollte? Die Spule gab keine Antwort darauf. Quellen erfuhr statt dessen, da? man das unverstandlich redende Madchen vor den Magistrat, einen gewissen Samuel Worral, gebracht hatte, der sie zu sich ins Haus nahm, anstatt sie wegen Landstreicherei zu verhaften. (Verdachtig! fand Quellen.) Er fragte sie grundlich aus. Sie schrieb ihre Antworten in einer unbekannten Schrift, die Symbole wie Kamme, Vogelkafige und Bratpfannen aufwies. Sprachforscher versuchten ihre Worte zu analysieren. Schlie?lich kam ein Mann, den man als »Gentleman aus Westindien« beschrieb. Er befragte sie in malayischer Sprache und bekam verstandliche Antworten.

Sie sei, so erklarte sie, die Prinzessin Caraboo, die von Piraten aus ihrer javanischen Heimat entfuhrt worden war und nach vielen Abenteuern in England an Land fluchten konnte. Durch den »Gentleman aus Westindien« ubermittelte die Prinzessin viele Einzelheiten des Lebens in Java. Dann aber meldete sich eine Frau aus Devonshire, eine gewisse Mrs. Willcocks, die erklarte, bei dem Madchen handle es sich in Wirklichkeit um ihre im Jahre 1791 geborene Tochter Mary. Mary Willcocks gestand ihren Betrug und wanderte nach Amerika aus.

Brogg hatte einen Zettel beigelegt, auf dem er zu folgendem Schlu? kam:

»Wegen der Behorden mu?te hier ein komplizierter Betrug stattfinden. Ein Madchen erschien auf geheimnisvolle Weise. Ein Mann meldete sich und behauptete, ihre Sprache zu verstehen. Eine altere Frau erklarte alles als Schwindel. Aber die Berichte stimmen nicht. Das Madchen konnte eine Besucherin aus der Zukunft gewesen sein und der ›Gentleman aus Westindien‹ ein weiterer Zeitwanderer, der versuchte, ihre Herkunft zu verschleiern, indem er sie als Prinzessin von Java ausgab. Als die Sache allmahlich gefahrlich wurde, trat eine dritte Zeitreisende auf, die retten wollte, was noch zu retten war. Wie viele Zeitreisende gab es wohl im Jahre 1817?«

Quellen hatte das Gefuhl, da? Brogg eine etwas zu rege Phantasie besa?. Er sah sich den nachsten Fall an.

Cagliostro: Er erschien in London, spater in Paris und sprach mit einem unbekannten Akzent. Uberirdische Krafte. Aggressiv, begabt, unkonventionell. Man beschuldigte ihn, da? er in Wirklichkeit Joseph Balsamo, ein sizilianischer Bandit sei. Man konnte es jedoch nie beweisen. Er verdiente sich im Europa des achtzehnten Jahrhunderts einen schonen Batzen Geld, indem er mit alchimistischen Pulverchen, Liebestranken, Jugendelixieren und anderen Mitteln handelte. Er wurde leichtsinnig, kam 1785 in die Bastille, floh, besuchte andere Lander, wurde wieder verhaftet und starb 1795 im Gefangnis. Ein Betruger? Ein Quacksalber? Ein Zeitreisender? Alles war moglich. Alles, dachte Quellen traurig, sobald man sich einmal naher mit diesen Vorfallen befa?te.

Kaspar Hauser: Er schwankte an einem Mainachmittag des Jahres 1828 durch die Stra?en von Nurnberg. Offensichtlich sechzehn bis siebzehn Jahre alt. (Etwas jung fur einen Zeitreisenden, dachte Quellen. Vielleicht tauschte die Erscheinung.) Er konnte nur zwei Satze in deutscher Sprache sagen. Als man ihm einen Bleistift und Papier gab, schrieb er: »Kaspar Hauser«. Man nahm an, da? dies sein Name sei. Er kannte die einfachsten Gegenstande nicht und war mit dem Alltagsleben nicht im geringsten vertraut. Zweifellos durch einen Irrtum der Zeitmaschine in der falschen Epoche gelandet.

Aber er lernte schnell. Eine Zeitlang behielt man ihn wegen Landstreicherei im Gefangnis, dann ubergab man ihn einem Lehrer, Professor Daumer. Er lernte ausgezeichnet Deutsch und schrieb einen autobiographischen Bericht, in dem er erklarte, er sei in einer kleinen dunklen Zelle aufgewachsen und habe von Brot und Wasser gelebt. Aber der Polizist, der ihn gefunden hatte, erklarte: »Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Er erschien weder bla? noch schwach wie jemand, der langere Zeit eingesperrt gewesen war.«

Viele Widerspruche. Ganz Europa horchte auf. Jeder hatte seine eigene Version uber die geheimnisvolle Herkunft des Kaspar Hauser. Einige sagten, er sei der Kronprinz von Baden, den die morganatische Frau des Gro?herzogs hatte entfuhren lassen. Das wurde geleugnet. Schlie?lich erbrachte man sogar einen Gegenbeweis. Andere behaupteten, er sei ein Schlafwandler oder Verruckter. Oktober 1829: Kaspar Hauser wird mit einer Wunde an der Stirn aufgefunden, die ihm angeblich ein Mann in einer schwarzen Maske beigebracht hat. Polizisten bewachen ihn. Verschiedene weitere Attentate. 14. Dezember 1833: Kaspar Hauser wird sterbend in einem Park gefunden. Er hat eine tiefe Stichwunde in der linken Brust. Behauptet, ein Fremder habe ihn angegriffen. Im Park wird nicht die Spur einer Waffe gefunden. Auch Fu?abdrucke sind nicht zu sehen. Man vermutet, da? er sich die Wunde selbst beigebracht hat. Ein paar Tage spater stirbt er mit den Worten: »Mein Gott! Da? ich so in Schmach und Schande sterben mu?!«

Quellen spannte die Spule aus. Schweine, Hunde, Prinzessin Caraboo, Kaspar Hauser — es war ganz unterhaltend. Man konnte zu der Uberzeugung kommen, da? in der ganzen menschlichen Geschichte Zeitreisende herumirrten — nicht nur in einer Periode zwischen 1979 und 2106. Schon. Aber diese Tatsachen trugen wenig dazu bei, Quellens unmittelbare Probleme zu losen.

Er wahlte Judiths Nummer. Ihr Gesicht erschien auf dem Bildschirm, bla?, nuchtern, ernst. Man konnte Judith keineswegs hubsch nennen. Ihr Nasenansatz war zu hoch, die Stirn etwas vorgewolbt, die Lippen wirkten schmal, und das Kinn war zu lang. Ihre Augen standen sehr weit auseinander. Aber dennoch war sie sehr

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