Leeward ging und kummerte sich um die Auftrage. Das bedeutete das Ende von Norm Pomraths Privatleben. Von jetzt bis zu dem Augenblick, in dem Quellen ihm den Horcher abnehmen lie?, konnte er weder seine Frau umarmen noch sich am Kopf kratzen, ohne da? ein Monitorsystem es aufzeichnete. Scheu?lich. Auch Quellen war das Opfer eines solchen Horchers geworden, und er wu?te, wie hinterhaltig die Methode war. Denn auf diese Weise hatte der schuftige Brogg von der verbotenen Villa Quellens erfahren. Aber Quellen spurte kein eigentliches Bedauern uber das, was er Norm Pomrath antat. Es ging um Helaines Wohl. Sie hatte ihn gebeten, Norm ins Gefangnis zu stecken, oder? Das hatte ihm noch viel weniger zugesagt. So hingegen wurde er von der Verfolgung hochstwahrscheinlich nie erfahren. Und es konnte sein, da? er Quellen an den Ursprung des Zeitreise-Systems brachte. Auf alle Falle wurde es Pomrath schwerfallen, die Gegenwart zu verlassen, solange er uberwacht wurde.

Quellen lie? das Problem Pomrath fur den Augenblick ruhen und wandte sich dringenderen Sachen zu. Die allgemeinen Verbrechensberichte des Tages waren auf seinem Schreibtisch gelandet. So sehr er sich mit dem Zeitreise-Auftrag beschaftigte, er hatte doch noch andere Pflichten. So mu?te er alle Einzelheiten uber Verbrechen nachlesen, die in seinem Bereich in Appalachia verubt wurden. Der Aktensto? war jeden Tag gleich gro?. Und Quellen wu?te, da? auch die Verbrechen im gro?en und ganzen die gleichen sein wurden.

Er blatterte die Aufzeichnungen durch.

Das Schlimmste daran war, da? ihn die Berichte nicht mehr schockierten. Von Jahr zu Jahr wurde er weniger empfindlich. Als er noch neu im Amt war, ein blutiger Anfanger der Klasse Elf, hatte ihn das Ausma? an menschlicher Grausamkeit betaubt. Jetzt sah er nur noch Statistik darin, numerierte Bander, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten.

Die Verbrechen erschienen ohne Motiv. Die Hohe Regierung hatte fast alle Ursachen der fruheren Verbrechen abgeschafft — Hunger, Not, unbefriedigte Triebe. Jeder erhielt sein Geld, ob er Arbeit hatte oder nicht, und es gab genug Nahrung fur alle, gesunde, wenn auch nicht besonders schmackhafte Kost. Niemand wurde zu Raub oder Diebstahl gezwungen, weil seine Familie am Verhungern war. Drogen fur Suchtige waren uberall zu haben. Die Regierung sorgte dafur, da? Bedurfnisse aller Art befriedigt werden konnten. Es hie? da? diese Ma?nahmen ein Zeichen der Reife seien. Dadurch, da? die Hohe Regierung fast alle Dinge genehmigte, mu?te niemand ein Verbrechen begehen. Denn das Verbotene reizt mehr als das Erlaubte.

Sicher. Die Motive fur ein Verbrechen waren zum gro?ten Teil ausgeschaltet. Aber das Verbrechen selbst blieb. Quellen hatte genugend Beweise fur diese dustere Tatsache. Diebstahl, Mord, Vergewaltigungen — jetzt waren sie eine Art Sport. Man brauchte keinen zwingenden Grund mehr. Besonders das hohere Burgertum war voll von heimlichen Verbrechern. Respektierliche Klasse-Sechs-Burger lie?en sich die schrecklichsten Dinge einfallen. Dicke Matronen aus Klasse Funf lauerten Fremden in dunklen Seitenwegen auf. Kinder nahmen an Scheu?lichkeiten teil. Sogar Gesetzesvertreter umgingen das Gesetz. Sie bauten sich heimlich Hauser in Gebieten, die fur Angehorige der Klasse Zwei vorbehalten waren. Aber Quellens Verbrechen tat wenigstens den anderen Menschen nicht weh. Wahrend andere …

Da war ein Bericht uber einen Mann, der an den Hydroponikanlagen arbeitete. Er hatte ein biologisches Verbrechen begangen: Er hatte in den Korper eines anderen Menschen lebende Materie verpflanzt. Es hie?, da? er einen Kollegen betaubt und mittels einer Ultraschall-Sonde eine todliche Dosis einer neuentwickelten asiatischen Fleischfresser-Art eingefuhrt hatte. Diese Pflanze hatte nach und nach das ganze Kreislaufsystem des Opfers zerfressen. Und weshalb hatte der Mann das getan? »Weil ich seine Reaktion sehen wollte«, erklarte er.

Da war ein Klasse-Sechs-Lehrer an einer gro?en Universitat in Appalachia, der ein junges Madchen in sein luxurioses Apartment eingeladen hatte und verfuhren wollte. Als sie sich weigerte, betaubte er ihr Schmerzzentrum und verstummelte sie fur immer. Weshalb? »Eine Sache des mannlichen Stolzes«, erklarte er dem Beamten, der ihn verhaftete.

Er hatte seinem Stolz Genuge getan. Aber das Madchen wurde nie wieder Freude oder Schmerz empfinden konnen, wenn ihr die Arzte nicht halfen.

Und hier uberflog Quellen den Bericht von einer kultischen Veranstaltung, die in einer Tragodie geendet hatte, statt in mystischer Verklarung. Ein Anhanger des Erbrechens-Kultes hatte in seine Schale drei Kristalle pseudolebenden Glases geworfen, bevor er sie weitergab. Das Glas, das sich in der entsprechenden Umgebung ausdehnte, hatte die inneren Organe der Opfer durchdrungen. »Es war alles ein schrecklicher Irrtum«, erklarte der Verbrecher. »Meine Absicht war es, selbst einen der Kristalle zu schlucken und mit ihnen den Schmerz und die endgultige Loslosung zu teilen.«

Die Geschichte entsetzte Quellen besonders. Die meisten dieser Alptraume lie?en ihn unberuhrt, aber zufallig war Judith eine Anhangerin dieses Kultes, und seit Helaines Besuch spukte Judith dauernd in seinen Gedanken herum. Quellen hatte sie seit seiner letzten Ruckkehr aus Afrika weder gesehen noch gesprochen. Und Judith hatte leicht ein Opfer dieser teuflischen Glaskristalle sein konnen. Vielleicht sogar ich, dachte Quellen entsetzt. Ich mu? Judith bald einmal anrufen. Ich habe sie in letzter Zeit vernachlassigt.

Er blatterte weiter die Berichte durch.

Nicht alle Verbrechen waren so phantasievoll. Da war das ubliche Quantum an Raufereien, Messerstechereien, Lasertoten und ahnlichem. Aber der Bereich, in dem sich die Verbrechen abspielten, war ungeheuer gro?, und besonders ausgepragte Scheu?lichkeiten bildeten ein Charakteristikum der Zeit. Quellen legte ein Blatt nach dem anderen zur Seite, schrieb hier eine Bemerkung und dort eine Empfehlung dazu. Dann schob er das Material weg.

Er hatte bisher noch keine Gelegenheit gehabt, die Spule mit Material B durchzusehen, die Brogg fur die Zeitreise-Untersuchung hergerichtet hatte. Brogg hatte gesagt, sie enthielte Beweise von Zeitreisen au?erhalb der Zeitzone von 1979 bis 2106. Quellen legte die Spule ein und lehnte sich zuruck, um sie zu betrachten.

Brogg hatte gewissenhaft Hunderte von Erzahlungen geheimnisvoller Vorkommnisse und Spukerscheinungen gesammelt, die man als Zeitreisen auslegen konnte. Er hatte sich unendliche Muhe gegeben. »Es liegt der Gedanke nahe«, hatte Brogg geschrieben, »da? die Hauptperiode der Zeitreisen innerhalb der vergangenen funfhundert Jahre liegt, da? es aber Falle gibt, in denen Zeitwanderer in eine sehr viel fruher liegende Periode geschickt wurden.«

Schon moglich, dachte Quellen. Er sah sich die Berichte an.

Material: Zeugnis des Chronisten Giraldus Cambrensis, geboren auf Schlo? Manorbier in Pembrokeshire um 1146 nach Christus. Giraldus berichtete von einem rothaarigen jungen Mann, der unerwartet im Schlo? eines Ritters namens Eliodore de Stakepole in Westwales auftauchte:

Dieser merkwurdige Mann sagte, sein Name sei Simon. Er ubernahm die Schlussel des Seneschalls und auch dessen Stelle. Doch er war ein so kluger und kunstfertiger Bediensteter, da? im Hause nie etwas verlorenging oder fehlte. Und das Anwesen bluhte auf. Wenn der Herr oder die Herrin etwas wunschten, so hatten sie es noch nicht ausgesprochen, als er schon ihre Gedanken las und sich sofort auf den Weg machte, ohne erst den Befehl abzuwarten. Er wu?te, wo sie ihr Gold und ihre Edelsteine verborgen hatten. Und er sprach des ofteren zu ihnen: »Wozu diese kleinliche Horten von Gold und Silber? Ist das Leben nicht kurz? Darum macht es euch schon, gebt euer Gold aus, sonst scheidet ihr hin, ohne das Leben und das Gut genossen zu haben, das ihr so geizig verwahrt.« Er sah darauf, da? es das Gesinde und die Bauern gut hatten, und lie? ihnen ausgewahlte Speisen und Getranke zukommen … Dieser merkwurdige rothaarige Mann setzte keinen Fu? uber eine Kirchenschwelle, er besa? kein Brevier, und er brachte kein katholisches Wort uber die Lippen. Er hegte auch keine religiosen Gefuhle. Er schlief nicht im Herrenhaus. Aber er war doch stets bereit, wenn er irgendwo gebraucht wurde.

Der Chronist berichtet weiter, da? die Stakepole-Kinder auf den geheimnisvollen Simon aufmerksam wurden und ihn heimlich zu beobachten begannen.

Und eines Nachts, als sie hinter einem Hollerbusch hervorlugten, wahrend der fremde Mann in das stille Wasser des Muhlteiches starrte, sahen sie, wie er die Lippen bewegte, als sprache er mit einem Unbekannten.

Das berichteten sie ihrem Vater, und der tugendsame Ritter handelte.

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