mit einer Dosis Klaustrophobie verstarken? Aber die Wande schlossen nicht ganz dicht. Hinter jedem Gedanken lauerte die wurgende Angst davor, dass er jederzeit mit einer unbedachten Bewegung das empfindliche Gleichgewicht storen, eine Katastrophe auslosen und diese unglaublich gewaltige Decke zum Einsturz bringen konnte.
Jede Schicht war ein klein wenig anders. Er passierte immer neue Phasen der amarantinischen Bautechnik und vermutlich auch der amarantinischen Geschichte — aber so einfach war es nicht. Die Ebenen wurden nicht stetig fortschrittlicher oder primitiver, je tiefer er kam, sie waren vielmehr Ausdruck verschiedener Ansatze und unterschiedlicher Gestaltungsprinzipien. Es war, als hatten die ersten Amarantin bei ihrer Ankunft hier etwas gefunden (wobei er noch nicht ahnte, was das gewesen sein konnte) und sich entschlossen, dieses Etwas mit einer kunstlichen Schale zu umgeben, die gepanzert und zur Verteidigung ausgerustet war. Dann musste eine neue Gruppe eingetroffen sein, die diese Schale mit einer weiteren umgeben wollte, vielleicht weil sie ihre eigene Bewehrungstechnik fur sicherer hielt. Die letzte Gruppe hatte das Verfahren noch einen logischen Schritt weiter getrieben und die Befestigungen so getarnt, dass sie nicht mehr kunstlich wirkten. Uber welche Zeitraume sich die Bautatigkeit erstreckt hatte, lie? sich unmoglich schatzen, also verzichtete er darauf. Vielleicht waren die verschiedenen Schalen nahezu gleichzeitig errichtet worden — vielleicht hatten die Arbeiten auch die Jahrtausende zwischen Sonnendiebs Aufbruch mit den Verbannten und seiner Ruckkehr als Gott in Anspruch genommen. Was er in Sajakis Anzug fand, hatte ihm naturlich nicht gerade Mut gemacht.
»Er war nie da«, meldete sich Calvin in seinen Gedanken. »Du dachtest die ganze Zeit, er sei bei dir, aber es war nur ein leerer Raumanzug. Kein Wunder, dass er dich nicht in seine Nahe lie?.«
»Hinterhaltiger Dreckskerl.«
»Das kann man wohl sagen. Nur dass der hinterhaltige Dreckskerl eigentlich nicht Sajaki war, oder?«
Sylveste bemuhte sich verzweifelt, eine andere Erklarung zu finden, doch es wollte ihm nicht gelingen. »Aber wenn nicht Sajaki…« Er verstummte. Ihm war eingefallen, dass er den Triumvir vor Verlassen des Schiffes tatsachlich nicht personlich gesehen hatte. Sajaki hatte ihn aus der Krankenstation angerufen, aber es gab keinen Beweis dafur, dass er das auch wirklich selbst gewesen war.
»Hor zu. Irgendetwas hat diesen Anzug gesteuert, bis er absturzte.« Calvin legte wieder einmal eine in Anbetracht der Umstande geradezu groteske Ruhe an den Tag. Das war eins seiner Lieblingsspiele, aber diesmal war er nicht mit dem Herzen dabei. »Wenn man logisch vorgeht, gibt es nur einen Schuldigen.«
»Sonnendieb.« Sylveste sprach den Namen nur zogernd aus, als wolle er prufen, wie sehr ihn der Gedanke abstie?. Er schmeckte genau so bitter, wie er es sich vorgestellt hatte. »Er war es, nicht wahr? Khouri hatte die ganze Zeit Recht.«
»Sagen wir, es ware an diesem Punkt unverzeihlich toricht, die Hypothese zu verwerfen. Soll ich fortfahren?«
»Nein«, sagte Sylveste. »Etwas spater. Gib mir einen Moment Zeit, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen, dann kannst du mich mit deiner erhabenen Weisheit uberschutten, so viel du willst.«
»Was willst du dir denn jetzt noch durch den Kopf gehen lassen?«
»Liegt das nicht auf der Hand? Ob wir weitergehen oder nicht.«
Es war keine von den einfacheren Entscheidungen seines Lebens. Er wusste jetzt, dass er von Anfang an oder zumindest uber lange Zeit manipuliert worden war. Wie weit war die Manipulation gegangen? Hatte sie auch seine Vernunft in Mitleidenschaft gezogen? Hatte fast sein ganzes Leben lang, seit seiner Ruckkehr von Lascailles Schleier jemand in seinem Bewusstsein gesessen und ihn in diese eine Richtung gelenkt? War er am Ende da drau?en im All gestorben und als willenloser Leichnam nach Yellowstone zuruckgekehrt, ein Automat, der handelte und fuhlte wie sein altes Ich, aber in Wirklichkeit nur auf ein Ziel zugetrieben wurde, das er jetzt fast erreicht hatte? Und war das uberhaupt noch von Bedeutung?
Denn wie er es auch drehte und wendete, wie falsch das Gefuhl, wie irrational die Logik auch sein mochten, dies war der Ort, nach dem er sich immer gesehnt hatte.
Er konnte nicht zuruck; noch nicht.
Nicht, bevor er alles wusste.
Drei?ig Sekunden nachdem der Alarm des taktischen Displays zu schrillen begonnen hatte, traf der erste Graser-Schuss die Nase des Shuttle; die Zeit reichte kaum aus, um eine Wolke Abriebmaterial abzusto?en und damit die Initialenergie der auftreffenden Gamma-Photonen zu zerstreuen. Kurz bevor sich die Fenster des Flugdecks verdunkelten, bemerkte Volyova einen silbernen Blitz. Ein Stuck geopferter Rumpfpanzerung wurde von einem Schwall angeregter Metall-Ionen verschlungen. Der Rumpf erzitterte wie unter einer Sprengung. Weitere Alarmsirenen stimmten ihr Klagegeheul an, ein gro?er Teil des taktischen Displays schaltete auf Offensivbetrieb um und zeigte grafisch die Einsatzbereitschaft der Bordgeschutze an.
Vergeblich, alles vergeblich. Die Waffen der
Cerberus fullte, ein riesiger, grauer Schatten, aus der Sicht des Shuttle ein Drittel des Himmelsraumes aus. Sie hatten jetzt abbremsen mussen, aber sie waren vollauf damit beschaftigt, sich braten zu lassen. So vergingen wertvolle Sekunden. Selbst wenn sie den Angriff abwehren konnten, waren sie gefahrlich schnell…
Weitere Rumpfteile verdampften.
Volyova lie? ihre Finger sprechen und tippte eine vorprogrammierte Ausweichroute ein. Sie konnte das Shuttle sicher aus dem unmittelbaren Zielbereich des Graser-Angriffs bringen. Die Schwierigkeit war nur, dass dafur ein Schub von zehn Ge erforderlich war.
Sie gab den Befehl zum Ausfuhren des Programms und verlor prompt das Bewusstsein.
Die letzte Schale war hohl, aber nicht leer.
Sylveste schatzte sie auf dreihundert Kilometer Durchmesser, aber das war reine Vermutung. Sein Anzugradar weigerte sich hartnackig, vernunftige Werte fur den Durchmesser des Raums zu liefern, wie oft er sie auch abfragte. Der Anzug kam offensichtlich mit dem Objekt in der Mitte nicht zurecht. Das konnte Sylveste verstehen. Auch er hatte Schwierigkeiten damit, auch wenn sie vielleicht anderer Art waren. Ihm verursachte es Kopfschmerzen.
Eigentlich waren es zwei Objekte, und Sylveste hatte nicht sagen konnen, welches fremdartiger war. Sie waren in Bewegung, genauer gesagt kreiste das eine auf einer festen Bahn um das andere. Der Trabant sah aus wie ein Edelstein, aber seine Struktur war so komplex und in standigem Wandel begriffen, so dass man von einem Moment zum anderen nicht mehr sagen konnte, welche Form oder Farbe er hatte oder ob er glanzte. Fest stand nur, dass er gro? war — zwanzig, vielleicht drei?ig Kilometer im Durchmesser —, doch als Sylveste von seinem Anzug eine Bestatigung dieser Werte verlangte, kam dabei so viel Unsinn heraus, als hatte er das Ding gebeten, ihm ein in freier Form gehaltenes Haiku zu interpretieren.
Als er den Edelstein mit der Zoomfunktion seiner Augen vergro?ern wollte, widersetzte er sich und wurde allenfalls kleiner. Das Ding war fahig, die Raumzeit in seiner unmittelbaren Umgebung gravierend zu verandern.
Als Nachstes versuchte er es mit der Schnappschussfunktion, aber auch das scheiterte. Auf dem Bild war das Objekt paradoxerweise verschwommener als in Echtzeit, so als wurde es sich in kleineren Zeiteinheiten schneller — und grundlegender — verandern als im Sekundenbereich oder daruber. Er bemuhte sich, diesen Eindruck festzuhalten, und glaubte schon, eine Erklarung gefunden zu haben, aber das stellte sich sofort als Illusion heraus.
Und das zweite…
Das zweite, das feste Objekt… war womoglich noch schlimmer.
Es war wie ein Loch in der Realitat, ein klaffender Riss, aus dem das wei?e Licht der Unendlichkeit hervorbrach. Ein starkes Licht, so hell und rein, wie er es nie gesehen, nie ertraumt hatte — wie das Licht aus dem Jenseits, von dem sich Sterbende nach eigenen Aussagen angezogen fuhlten. Auch er spurte diese Anziehung. Das Licht war so hell, dass es ihn hatte blenden mussen. Doch je langer er in die strahlenden Tiefen schaute, desto