zerrissen von den ungeheuer steilen Gravitationsgradienten.

»Ich finde, du solltest es wissen«, sagte Pascale Sylveste. »Ich glaube nicht, dass es schnell gehen wird, was mit uns geschieht. Es sei denn, wir hatten sehr viel Gluck.«

Khouri gab sich alle Muhe, auf den etwas blasierten Ton mit Gelassenheit zu reagieren. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte Pascale durchaus das Recht, sich so aufzuspielen.

»Woher wei?t du das alles? Du bist keine Astrophysikerin.«

»Nein, aber Dan hat mir erzahlt, die Gezeitenkrafte wurden verhindern, dass die Sonden, die er ausschicken wollte, dem Stern zu nahe kamen.«

»Du redest, als ware er schon tot.«

»Aber ich denke nicht so«, sagte Pascale. »Ich halte es sogar fur moglich, dass er uberlebt. Im Gegensatz zu uns. So Leid es mir tut, aber letztlich lauft es auf das Gleiche hinaus.«

»Du liebst den Dreckskerl immer noch, wie?«

»Er hat mich auch geliebt, ob du es glaubst oder nicht. Ich las es aus seinem Verhalten — aus dem, was er tat — er stand so unter Druck, dass es fur einen Au?enstehenden wohl schwer zu erkennen war. Aber er hing an mir. Niemand wird je erfahren, wie sehr.«

»Vielleicht wird man ihn nicht so hart verurteilen, wenn bekannt wird, wie sehr er manipuliert wurde.«

»Wie sollte das denn bekannt werden? Wir sind die Einzigen, die es wissen, Khouri. Fur den Rest des Universums war er nur ein Monomane. Niemand versteht, dass er die Menschen benutzte, weil er keine andere Wahl hatte. Weil er von etwas getrieben wurde, das gro?er war als wir alle.«

Khouri nickte. »Ich wollte ihn einmal toten — aber nur, weil ich eine Moglichkeit sah, dadurch Fazil zuruckzubekommen. Gehasst habe ich ihn nie. Er war mir nicht einmal wirklich unsympathisch. Ich bewundere jeden, der seine Arroganz so vor sich her tragt, als sei das sein gutes Recht. Das gelingt den wenigsten Menschen. Aber er trug sie wie ein Konig. Das war schon keine Arroganz mehr — sondern etwas ganz anderes. Etwas, das man bewundern konnte.«

Pascale au?erte sich nicht dazu, aber Khouri sah ihr an, dass sie die Einschatzung nicht vollig ablehnte. Vielleicht war sie nur noch nicht bereit, laut auszusprechen, dass sie Sylveste geliebt hatte, weil er so ein aufgeblasener Dreckskerl war und daraus etwas Gro?artiges gemacht hatte. Weil er seinen Dunkel wie jemand, der hocherhobenen Hauptes in Sack und Asche ging, mit so viel Bravour zur Schau gestellt hatte, dass er zur Tugend wurde.

»Hor zu«, sagte Khouri nach einer Weile. »Ich habe eine Idee. Mochtest du bei vollem Bewusstsein sein, wenn die Gezeitenkrafte anfangen, nach uns zu schnappen, oder sollten wir lieber mit einer kleinen Starkung an die Sache herangehen?«

»Was meinst du damit?«

»Ilia hat mir erzahlt, man habe den Spinnenraum gebaut, um potenziellen Kunden das Schiff von au?en zeigen zu konnen. Es ging dabei um Kunden, die man beeindrucken musste, um sie bei der Stange zu halten. Deshalb muss es hier irgendwo einen Barschrank geben. Wahrscheinlich gut sortiert, falls er im Lauf der letzten Jahrhunderte nicht irgendwann leer getrunken wurde. Aber es konnte sogar sein, dass er sich selbst wieder auffullt. Verstehst du jetzt, was ich meine?«

Pascale schwieg. Hades und sein Schwerkraftloch krochen naher. Khouri dachte schon, ihre Begleiterin habe den Vorschlag bewusst uberhort. Doch endlich befreite sich Pascale aus ihrem Sitz und strebte nach hinten in bislang unerforschte Plusch- und Messinggefilde.

Neununddrei?ig

Im Inneren von Cerberus,

letzter Raum

2567

Der Edelstein erstrahlte jetzt in einem eindeutig blaulichen Licht, als halte ihn Sylvestes Nahe von seinen Wanderungen durch das Spektrum ab und zwinge ihn zu einer Phase der Ruhe. Sylveste hielt es immer noch fur gefahrlich, sich ihm zu nahern, aber jetzt trieb ihn seine Neugier weiter — und das Gefuhl, sein Schicksal erfullen zu mussen. Das Gefuhl mochte den tiefsten Schichten seines Gehirns entspringen. Der gleiche Instinkt, sich einer Gefahr stellen zu mussen, um sie zu zahmen, hatte wohl einst die Menschen bewogen, zum ersten Mal ins Feuer zu greifen, vor Schmerz zuruckzuzucken und daraus zu lernen.

Vor ihm entfaltete sich der Edelstein und durchlief geometrische Transformationen, denen er nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken wagte, aus Angst, sie zu verstehen und damit an ahnlichen Schwachstellen seines Bewusstseins Risse zu erzeugen.

»Haltst du das wirklich fur klug?«, fragte Calvin. Seine Kommentare waren mehr denn je Bestandteil von Sylvestes innerem Dialog geworden.

»Fur eine Umkehr ist es jetzt zu spat«, sagte eine Stimme.

Sie gehorte weder Calvin noch Sylveste, aber sie klang so vertraut, als sei sie seit langem ein wenn auch stummer Teil von ihnen.

»Du bist Sonnendieb, nicht wahr?«

»Er ist schon die ganze Zeit bei uns«, sagte Calvin. »Nicht wahr?«

»Langer, als du denkst. Seit du von Lascailles Schleier zuruckgekehrt bist, Dan.«

»Dann hatte Khouri vollkommen Recht«, sagte Sylveste, obwohl er das langst erkannt hatte. Wenn Sajakis leerer Anzug als Bestatigung noch nicht genugt hatte, dann hatten die Erkenntnisse, die ihm im wei?en Licht zuteil geworden waren, seine letzten Zweifel ausgeraumt.

»Was willst du von mir?«

»Nur, dass du den — Edelstein — betrittst, wie du ihn nennst.« Die Stimme des Wesens — und Sylveste horte jetzt nichts anderes mehr — war ein drohendes Zischen. »Du hast nichts zu befurchten. Er wird dir nicht schaden, und nichts wird dich hindern, diese Welt zu verlassen.«

»Das wurdest du immer sagen, nicht wahr?«

»Es ist die Wahrheit.«

»Was ist mit dem Bruckenkopf?«

»Die Anlage ist noch in Funktion. Und so wird es bleiben, bis du Cerberus verlassen hast.«

»Man kann nie wissen«, bemerkte Calvin. »Jedes Wort von ihm konnte eine Luge sein. Er hat uns auf Schritt und Tritt getauscht und manipuliert, nur um dich hierher zu locken. Warum sollte er ausgerechnet jetzt anfangen, die Wahrheit zu sagen?«

»Weil es keine Rolle mehr spielt«, sagte Sonnendieb. »Nachdem ihr so weit gekommen seid, sind eure eigenen Wunsche ohne Belang.«

Sylveste spurte, wie der Anzug mit einem Satz in den geoffneten Edelstein hineinsprang. Ein flimmernder Korridor mit vielen Facetten fuhrte in die Tiefen des Objekts.

»Was…?«, begann Calvin.

»Ich tue gar nichts«, sagte Sylveste. »Der Dreckskerl kontrolliert wahrscheinlich meinen Anzug.«

»Logisch. Er konnte schlie?lich auch Sajakis Anzug steuern. Wahrscheinlich hat sich der Faulpelz bisher nur zuruckgelehnt und dir die Arbeit uberlassen.«

»Ich glaube nicht«, sagte Sylveste, »dass du mit Beleidigungen jetzt noch viel ausrichten kannst.«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Im Grunde genommen…«

Er befand sich tief in einem leuchtenden luftrohrenahnlichen Tunnel mit so vielen Windungen und Kehren, dass man kaum glaubte, sich noch im Innern des Edelsteins zu befinden. Aber schlie?lich hatte er dessen wahre Gro?e nie mit Sicherheit festgestellt — sein Durchmesser konnte irgendwo zwischen ein paar hundert Metern und drei?ig bis vierzig Kilometern liegen. Die wechselnde Form machte eine genaue Messung unmoglich, vielleicht gab es auch keine sinnvolle Losung. Auch das Volumen eines fraktalen Festkorpers konnte man schlie?lich nicht bestimmen.

»Ah… was sagtest du?«

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