»Ich sagte…« Sylveste brach ab. »Sonnendieb, horst du mir zu?«

»Wie immer.«

»Ich verstehe nicht, warum du mich hierher gelotst hast. Wenn du Sajakis Anzug steuern konntest — und den meinen die ganze Zeit uber unter Kontrolle hattest — warum musste ich dann uberhaupt mitkommen? Wenn du in diesem Ding etwas zu erledigen hast, wenn du etwas herausholen willst, konntest du das doch auch ohne mich tun.«

»Die Anlage reagiert nur auf organische Lebensformen. Einen leeren Anzug hatte sie als Maschinenbewusstsein gedeutet.«

»Das — Ding — ist eine technische Anlage? Wolltest du das damit sagen?«

»Eine Anlage der Unterdrucker.«

Im ersten Moment waren das nur leere Worte, aber gleich darauf verbanden sie sich — zunachst noch lose — mit gewissen Erinnerungen aus der Zeit im wei?en Licht; dem Portal zur Hades-Matrix. Diese Erinnerungen verknupften sich wiederum mit anderen, bis eine endlose Assoziationskette entstanden war.

Und die verhalf ihm zu einem gewissen Verstandnis.

Mehr denn je war ihm klar, dass er nicht weitergehen sollte; wenn er ins Innerste dieses Edelsteins — der Unterdruckeranlage — vordrang, musste er mit dem Schlimmsten rechnen. Die Vorstellungskraft reichte nicht aus, um sich eine Katastrophe noch gro?eren Ausma?es auszumalen.

»Wir durfen nicht weitergehen«, sagte Calvin. »Ich wei? jetzt, was das ist.«

»Ich auch, aber es ist zu spat.«

Die Anlage war von den Unterdruckern zuruckgelassen worden. Sie hatten sie gleich neben dem flimmernden wei?en Portal, das noch alter war als sie, in eine Umlaufbahn um Hades gebracht. Es storte sie nicht, dass sie nicht ganz verstanden, wozu das Portal diente, und eigentlich auch keine Ahnung hatten, wer es dort aufgestellt hatte, neben dem Neutronenstern, mit dem — es gab da einige verdachtige Hinweise, denen sie nicht weiter nachgegangen waren — nicht alles so war, wie es sein sollte. Abgesehen von seiner ungewissen Herkunft passte es bestens in ihre Plane. Ihre eigenen Anlagen waren so konstruiert, dass sie intelligente Lebewesen anlockten, und wenn man eine dieser Anlagen neben eine noch fremdartigere Entitat stellte, waren Besucher garantiert. Diese Strategie verfolgten sie in der gesamten Galaxis: stets bauten sie ihre Unterdruckeranlagen neben Objekten von astrophysikalischem Interesse oder in der Nahe von Ruinen untergegangener Kulturen auf. An Stellen also, die von sich aus Aufmerksamkeit erregten.

Und die Amarantin waren gekommen, hatten an der Anlage herumgespielt und sich damit bemerkbar gemacht. Die Anlage hatte sie studiert und ihre Schwachen festgestellt.

Und sie hatte sie ausgeloscht — bis auf die kleine Schar von Abkommlingen der Verbannten. Die hatten zwei Wege gefunden, um der gnadenlosen Verfolgung durch die Unterdrucker zu entgehen. Einige hatten sich durch das Portal begeben und in die Krustenmatrix integriert, um dort, konserviert im undurchdringlichen Bernstein nuklearer Masse, die man zur Rechenmaschine versklavt hatte, als Simulationen fortzubestehen.

Von Leben konnte dabei kaum die Rede sein, dachte Sylveste, aber zumindest hatte etwas von ihnen uberdauert.

Und dann gab es die anderen: sie hatten einen zweiten Weg gefunden, den Unterdruckern zu entkommen. Eine nicht weniger drastische, ebenso unwiderrufliche Fluchtmoglichkeit…

»Sie wurden zu den Schleierwebern, nicht wahr?« Jetzt sprach Calvin — oder verlieh nur Sylveste seinen eigenen Gedanken Ausdruck, wie er es manchmal im Eifer des Gefechts zu tun pflegte? Er hatte es nicht sagen konnen, und es interessierte ihn auch nicht weiter. »Das war in den letzten Tagen; Resurgam war bereits zerstort und die meisten Raumfahrer waren aufgespurt und vernichtet worden. Eine Gruppe ging in der Hades-Matrix auf. Eine zweite lernte, wahrscheinlich aus den Transformationen im Umfeld des Portals, bis zu einem gewissen Grad die Raumzeit zu manipulieren. Diese Gruppe fand eine Losung; eine Methode, um sich vor den Waffen der Unterdrucker zu schutzen. Sie wickelten die Raumzeit um sich wie einen Mantel; lie?en sie gerinnen, verfestigten sie zu einer undurchdringlichen Hulle. Und hinter solche Hullen zogen sie sich zuruck und dichteten sie ab fur die Ewigkeit.«

»Es war immerhin besser als der Tod.«

Fur einen Moment sah er ganz klar. Die hinter den Schleiern hatten gewartet und gewartet, hatten vom Universum ringsum kaum Notiz genommen und konnten auch kaum damit in Verbindung treten. Allzu sicher waren die Mauern, mit denen sie sich umschlossen hatten.

Sie hatten geduldig gewartet.

Schon als sie sich in die Klausur begaben, hatten sie gewusst, dass die Anlagen der Unterdrucker allmahlich versagten und zusehends unfahiger wurden, Intelligenz zu unterdrucken. Fur sie selbst kam die Entwicklung spat — doch nachdem sie eine Million Jahre in ihrer Raumzeitblase gesessen hatten, tauchte die Frage auf, ob die Gefahr womoglich voruber sei.

Sie konnten die Schleier nicht einfach offnen und hinausschauen — das ware zu riskant gewesen, denn die Geduld der Unterdrucker-Maschinen war schier unerschopflich. Ihre scheinbare Passivitat konnte eine Falle sein, ein Spiel, um die Amarantin — die Schleierweber — aus ihrem Versteck auf das Schlachtfeld des offenen Weltalls zu locken, wo sie mit Leichtigkeit zu zerstoren waren. Damit ware nach einer Million Jahre die Sauberungsaktion beendet und diese Spezies vollends ausgerottet gewesen.

Doch nach und nach tauchten andere auf.

Vielleicht hatte dieser Abschnitt der Galaxis etwas an sich, das die Evolution von Wirbeltieren begunstigte, vielleicht war es auch nur Zufall, doch die Schleierweber sahen in den Menschen, die soeben die Raumfahrt entdeckt hatten, einen Abglanz dessen, was sie einst gewesen waren. Auch ihre psychischen Schwachen fanden sie wieder: den Drang nach Einsamkeit und den Wunsch nach Kameradschaft; die Sehnsucht nach den Trostungen einer Gesellschaft und nach den leeren Weiten des Alls; die innere Zerrissenheit, die sie immer weiter nach drau?en trieb.

Philip Lascaille war als Erster zu ihnen gekommen, vor dem Schleier, der jetzt seinen Namen trug.

Die Verwerfungen der Raumzeit im Umkreis des Schleiers hatten sein Bewusstsein aufgerissen, alles durcheinander geworfen und neu zusammengesetzt. Entstanden war ein sabberndes Zerrbild des einstigen Lascaille. Aber dieses Zerrbild zeigte Zuge von Genialitat. Die Schleierweber hatten ihm etwas eingepflanzt: das notige Wissen, um jemand anderen sehr viel naher heranzuholen… und die Luge, um diesem anderen das Abenteuer schmackhaft zu machen.

Kurz vor seinem Tod hatte sich Lascaille dem jungen Dan Sylveste anvertraut.

Gehen Sie zu den Schiebern, hatte er gesagt.

Denn auch die Amarantin hatten einst die Schieber aufgesucht und dem Schieber-Ozean ihre Neuralstrukturen aufgepragt. Mit diesen Strukturen lie? sich die Raumzeit um den Schleier stabilisieren; sie ermoglichten es, in die immer dichter werdenden Falten vorzudringen, ohne von den Spannungen zerrissen zu werden. Nachdem Sylveste das Schieber-Transform in sich aufgenommen hatte, konnte er auf den Sturmen in die Tiefen des Schleiers reiten.

Und konnte ihn lebend wieder verlassen.

Aber er war verandert.

Er hatte etwas mitgebracht, ein Etwas, das sich Sonnendieb nannte, aber das war nur ein mythischer Name. Was seither in ihm lebte, war eher eine Kollage; eine kunstliche Personlichkeit, untrennbar mit dem Schleier verwoben, eingepflanzt von Wesen, die Sylveste als Abgesandten benutzten und durch ihn Einfluss auf den Raum au?erhalb des undurchdringlichen Raumzeitvorhangs zu gewinnen suchten.

Was sie von ihm wollten, war im Ruckblick ganz einfach zu erklaren.

Er sollte nach Resurgam reisen, wo die Gebeine ihrer leiblichen Vorfahren begraben waren.

Er sollte die Anlage der Unterdrucker finden.

Er sollte sich ihr so weit nahern, dass die Anlage, falls sie noch funktionierte, zum Leben erwachte und ihn als Angehorigen einer neu erstandenen, intelligenten Spezies identifizierte.

Wenn die Unterdrucker noch aktiv waren, hatten sie damit ein neues Opfer fur ihren Vernichtungsfeldzug gefunden: die Menschheit.

Wenn nicht, konnten sich die Schleierweber gefahrlos nach drau?en wagen.

Das blauliche Licht, das ihn umgab, wirkte jetzt bose auf ihn; unbeschreiblich bose. Womoglich war er einfach dadurch, dass er diesen Planeten betrat, schon zu weit gegangen; hatte zu viel Intelligenz gezeigt und die

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