»Du bist aus Fleisch und Blut«, sagte Pascale. »Du warst tot und wurdest wieder zum Leben erweckt. Dein Korper wurde aus den chemischen Elementen rekonstruiert, die in der Au?enkruste der Matrix vorhanden waren, dann wurdest du reanimiert und ins Bewusstsein zuruckgeholt. Der Anzug, den du tragst — auch er stammt aus der Matrix.«

»Hei?t das, jemand in einem Raumanzug kam der Matrix so nahe, dass er von den Gravitationswirbeln getotet wurde?«

»Nein…«, sagte Pascale nachdenklich. »Nein; es gibt noch einen anderen Weg in die Matrix. Einen sehr viel einfacheren Weg — jedenfalls gab es ihn fruher einmal.«

»Ich sollte immer noch tot sein. Auf einem Neutronenstern ist kein Leben moglich. In seinem Innern ebenso wenig.«

»Ich sage dir doch, Hades ist kein Neutronenstern.« Und dann erklarte sie, wie es zu alledem gekommen war. Die Matrix selbst schuf mit ungeheuren Mengen entarteter Materie, die in der Kruste zirkulierten, eine Gravitationsblase, in der Khouri uberleben konnte. Diese Materie mochte ein Nebenprodukt der Rechenvorgange sein, aber das war nicht gesichert. Jedenfalls lenkte der Fluss wie eine Streulinse die Schwerkraft von ihr ab, wahrend zugleich ebenso gewaltige Krafte die Wande stutzten und verhinderten, dass sie mit einer Wucht knapp unter Lichtgeschwindigkeit in sich zusammensturzten.

»Was ist mit dir?«

»Ich bin anders als du«, sagte Pascale. »Mein Korper ist nur ein Korper, ahnlich wie eine Marionette. Er besteht aus der gleichen nuklearen Materie wie die Kruste. Die Neutronen werden von Strange Quarks zusammengehalten, nur deshalb explodiere ich nicht unter meinem eigenen Quantendruck.« Sie fasste sich an die Stirn. »Aber ich denke nicht selbst. Das spielt sich nur um dich herum ab, innerhalb der Matrix. Du musst entschuldigen — ich will dir wirklich nicht zu nahe treten —, aber ich wurde mich zu Tode langweilen, wenn ich nur mit dir sprechen musste, ohne irgendetwas anderes zu tun. Wie gesagt, der Unterschied zwischen unseren Rechengeschwindigkeiten ist enorm. Du nimmst mir die Bemerkung nicht ubel, oder? Sie ist nicht personlich gemeint, das begreifst du hoffentlich.«

»Schon gut«, sagte Khouri. »Mir ginge es sicher genauso.«

Der Gang weitete sich und mundete in ein vollstandig eingerichtetes Buro, das Arbeitszimmer eines Wissenschaftlers. Das Mobiliar war in irgendeinem Stil der letzten funf- bis sechshundert Jahre gehalten. Die vorherrschende Farbe war Braun, Altersbraun: braun waren die Holzregale an den Wanden und die Rucken der antiken Papierbucher, die darin standen, braun war auch der Mahagonischreibtisch, und goldbraun glanzten die uralten wissenschaftlichen Instrumente am Rand der polierten Platte. Wo keine Regale die Wande bedeckten, standen Holzvitrinen mit vergilbten Skeletten; Alien-Skeletten, die man auf den ersten Blick auch fur Fossilien von Flugsauriern oder gro?en, ausgestorbenen Urvogeln halten konnte, falls man nicht zu sehr auf die Gro?e des Schadels achtete, der einst ein sehr viel gro?eres Gehirn beherbergt haben musste.

Auch zeitgema?e Geratschaften waren vorhanden; Scanner, hochmoderne Schneideinstrumente, Stander mit Eidetika und holografischen Speichertafelchen. In einer Ecke stand ein neuerer Servomat, untatig und mit leicht gesenktem Kopf, wie ein treuer Diener, der im Stehen ein Nickerchen hielt.

An einer Wand sah man durch mehrere Sprossenfenster auf eine Wustenlandschaft mit Tafelbergen und bizarren Felsformationen hinaus, durch die der Wind pfiff. Alles lag im rotlichen Schein einer Abendsonne, die bereits im Begriff war, hinter dem bizarren Horizont zu verschwinden.

Am Schreibtisch sa? Sylveste. Bei ihrem Eintreten erhob er sich und sah sie an, als hatten sie ihn aus tiefer Konzentration gerissen.

Khouri sah ihm zum ersten Mal personlich — oder was man hier darunter zu verstehen hatte — in die Augen. Es waren menschliche Augen.

Im ersten Moment schien er verargert uber die Storung, doch dann wurden seine Zuge weicher, und ein leichtes Lacheln spielte uber sein Gesicht. »Wie schon, dass Sie sich die Zeit fur einen Besuch bei uns genommen haben«, sagte er. »Ich hoffe, Pascale hat Ihnen alles erklart, was Sie wissen wollten.«

»Das meiste.« Khouri ging ein paar Schritte weiter. Die Kopie des Arbeitszimmers beeindruckte durch ihre Prazision. Eine Simulation von dieser Qualitat hatte sie noch nie gesehen. Und doch — der Gedanke war ebenso beeindruckend wie beangstigend — bestand jedes einzelne Objekt in diesem Raum aus nuklearer Materie von so hoher Dichte, dass unter normalen Umstanden schon der kleinste Briefbeschwerer auf diesem Schreibtisch uber den halben Raum hinweg einen todlichen Schwerkraftsog hatte ausuben mussen. »Aber nicht alles. Wie kommen Sie hierher?«

»Pascale hat sicher erwahnt, dass es noch einen zweiten Zugang zur Matrix gibt.« Er streckte ihr die flachen Hande entgegen. »Diesen Weg habe ich gefunden. Das ist alles. Und ich bin ihn gegangen.«

»Und was wurde aus Ihrem…«

»Meinem wahren Ich?« Das Lacheln hatte jetzt eine gewisse Selbstironie, als amusiere er sich uber einen Witz, der zu subtil war, um ihn mit jemandem zu teilen. »Es durfte nicht uberlebt haben. Aber das kummert mich wenig, wenn ich ehrlich bin. Mein wahres Ich steht jetzt vor Ihnen. Ein anderes hat es nie gegeben.«

»Was geschah im Innern von Cerberus?«

»Das ist eine sehr lange Geschichte, Khouri.«

Und dann erzahlte er, wie er ins Innere der Welt gelangt war, nur um dort erkennen zu mussen, dass Sajakis Anzug leer war; wie diese Feststellung ihn bestarkt hatte, noch weiter vorzudringen, und was er schlie?lich im letzten Raum erlebt hatte. Wie er in die Matrix eingegangen war — und wie sich seine Erinnerungen von diesem Moment an von denen seines zweiten Ichs getrennt hatten. Doch als er erklarte, dieses zweite Ich sei tot, da klang das so uberzeugt, dass Khouri sich fragte, ob er das nicht auch auf einem anderen Weg feststellen konnte. Waren sie nicht vielleicht doch bis zum Ende durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen?

Khouri spurte, dass auch Sylveste das Geschehen nicht bis ins Letzte begriff. Er war kein Gott geworden — oder hochstens fur jenen kurzen Moment, den er im Portal verbracht hatte. Hatte er sich anschlie?end dagegen entschieden? Eine gute Frage. Wenn er von der Matrix simuliert wurde und die Rechenkapazitat der Matrix theoretisch unbegrenzt war… wie konnte er dann an Grenzen sto?en, fur die er sich nicht bewusst entschieden hatte?

Noch etwas erfuhr sie: Carine Lefevre war von einem Teil des Schleiers am Leben erhalten worden und das war kein Zufall gewesen.

»Es gab offenbar zwei Parteien.« Sylveste spielte mit einem der Messingmikroskope auf seinem Schreibtisch. Er drehte den kleinen Spiegel hin und her, als wolle er die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einfangen. »Die eine wollte mich einsetzen, um herauszufinden, ob die Unterdrucker noch aktiv waren und fur die Schleierweber nach wie vor eine Gefahr darstellten. Der zweiten Partei lag, denke ich, nicht mehr an der Menschheit als der ersten. Aber sie war vorsichtiger. Sie suchte nach einem besseren Verfahren. Sie wollte der Unterdrucker-Anlage nicht einfach einen Koder schicken, um zu sehen, ob sie noch reagierte.«

»Aber was wird jetzt aus uns? Wer hat eigentlich gesiegt? Sonnendieb oder die Mademoiselle?«

»Keiner«, sagte Sylveste und stellte das Mikroskop zuruck. Es gab einen dumpfen Ton, als der samtuberzogene Fu? den Schreibtisch beruhrte. »Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich habe. Ich glaube, dass wir — dass ich — kurz davor standen, die Anlage zu aktivieren, ihr den Stimulus zu geben, den sie brauchte, um die anderen Anlagen zu wecken und den Krieg gegen die Menschheit zu beginnen.« Er lachte. »Wobei das Wort Krieg unterstellt, dass es zwei Seiten hatte geben konnen. Aber daran glaube ich nicht.«

»Und Sie meinen, es ware nicht so weit gekommen?«

»Ich kann nur hoffen und beten.« Er zuckte die Achseln. »Naturlich konnte ich mich auch irren. Fruher sagte ich immer, ich wurde mich niemals irren, aber diese Lektion habe ich inzwischen gelernt.«

»Und was ist mit den Amarantin, den Schleierwebern?«

»Das wird man abwarten mussen.«

»Mehr konnen Sie dazu nicht sagen?«

»Ich habe nicht auf alles eine Antwort, Khouri.« Er sah sich um, musterte die Bande auf den Regalen, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch da seien. »Nicht einmal hier.«

»Du musst jetzt gehen«, sagte Pascale. Sie stand plotzlich mit einem Glas mit einer klaren Flussigkeit — Wodka vielleicht — an der Seite ihres Mannes. Nun stellte sie das Glas neben einen blanken pergamentfarbenen Schadel auf den Schreibtisch.

»Wohin?«

»Ins All zuruck, Khouri. Das wolltest du doch? Oder willst du etwa den Rest der Ewigkeit hier

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