verbringen?«
»Was soll ich denn im All?«, fragte Khouri. »Du musstest doch wissen, dass es keine Zuflucht mehr gibt. Das Schiff war gegen uns; der Spinnenraum ist zerstort; Ilia ist tot…«
»Sie hat es geschafft, Khouri. Sie ist nicht umgekommen, als das Shuttle zerstort wurde.«
Sie hatte also einen Raumanzug gefunden — aber was hatte sie davon? Khouri wollte noch weiter fragen, doch dann wurde ihr klar, dass Pascale ihr wahrscheinlich die Wahrheit gesagt hatte, so unglaublich sie sich auch anhorte — so nutzlos sie auch war und so wenig sie noch andern konnte.
»Was habt ihr beiden jetzt vor?«
Sylveste griff nach dem Wodkaglas und nahm einen kleinen Schluck. »Haben Sie das noch nicht erraten? Dieser Raum ist nicht nur Ihretwegen hier. Wir bewohnen ihn auch, allerdings in einer simulierten Version in der Matrix. Dort existiert nicht nur dieses Zimmer, sondern auch der Rest der Forschungsstation. Alles ist so, wie es war — nur dass wir es jetzt ganz fur uns allein haben.«
»Ist das alles?«
»Nein… nicht ganz.«
Pascale trat an seine Seite, er legte ihr den Arm um die Taille, und beide wandten sich dem Sprossenfenster zu, der blutroten, fremden Abendsonne, der leblosen Wustenlandschaft von Resurgam.
Dann trat die Veranderung ein.
Es begann am Horizont: eine riesige Transformationswelle raste schnell wie der anbrechende Tag auf sie zu. Am Himmel turmten sich Wolken so gro? wie Imperien; der Himmel selbst war blauer geworden, obwohl die Sonne immer noch der Abenddammerung entgegensank. Und die Landschaft war nicht mehr wustentrocken, sondern verschwand unter einer Welle von uppig gruner Vegetation. Khouri sah Seen und Baume, fremdartige Baume. Stra?en wanden sich zwischen eiformigen Hausern dahin, die Hauser fanden sich zu Dorfern zusammen und am Horizont scharte sich eine gro?ere Gemeinde um einen einzelnen, schlanken Turm. Sie starrte wie gebannt in die Ferne, das gewaltige Schauspiel verschlug ihr die Sprache. Eine ganze Welt erwachte zum Leben und dann — vielleicht war es Illusion, das sollte sie nie erfahren — glaubte sie zwischen den Hausern Gestalten zu sehen, die sich so flink wie Vogel bewegten, aber nie den Boden verlie?en, sich niemals in die Lufte schwangen.
»Alles oder fast alles, was sie jemals waren«, sagte Pascale, »ist in der Matrix gespeichert. Das ist keine archaologische Rekonstruktion, Khouri. Das
Khouri sah sich um, und dann verstand sie. »Und ihr wollt sie studieren?«
»Nicht nur studieren«, sagte Sylveste und nahm noch einen Schluck Wodka. »Sondern darin leben. Bis sie uns langweilt, was — vermutlich — nicht so bald der Fall sein wird.«
Khouri verlie? das Arbeitszimmer. Die beiden blieben allein zuruck und konnten sich weiter mit den tiefsinnigen, schweren Themen beschaftigen, deren Erorterung sie nur unterbrochen hatten, um sich ihr zu widmen.
Sie stieg die Treppe wieder hinauf und betrat abermals die Hades-Oberflache. Die Kruste war immer noch rot gluhend, immer noch eifrig mit Rechenvorgangen beschaftigt. Khouri war inzwischen lange genug hier, um sich mit ihren Sinnen auf die Umgebung einzustellen. Nun kam ihr zu Bewusstsein, dass die Kruste die ganze Zeit unter ihren Fu?en pulsiert hatte wie ein gewaltiger Motor in einem Keller. Wahrscheinlich war das sogar ein treffender Vergleich. Die Kruste war ja nichts anderes als ein Simulationsmotor.
Sie dachte an Sylveste und Pascale, fur die jetzt ein neuer Tag fur die Erforschung ihrer wunderbaren neuen Welt begann. Seit sie gegangen war, mochten fur die beiden Jahre vergangen sein. Doch das zahlte kaum. Sie hatte den Verdacht, dass sie erst dann den Tod wahlen wurden, wenn nichts anderes sie mehr faszinieren konnte. Und das wurde, wie Sylveste selbst gesagt hatte, wohl nicht so bald der Fall sein.
Sie schaltete den Anzugkommunikator ein.
»Ilia… kannst du mich horen? Es klingt albern, aber man sagte mir, du warst vielleicht noch am Leben.«
Nichts als statisches Rauschen. Enttauscht sah sie sich auf der gluhenden Ebene um. Was sollte sie jetzt wohl als Nachstes tun?
Doch plotzlich: »Khouri, bist du das? Wie kommst du dazu, noch immer am Leben zu sein?«
Die Stimme horte sich unheimlich an. Sie wechselte standig das Tempo, als ware Ilia betrunken, doch dafur waren die Veranderungen nun wieder zu regelma?ig.
»Das Gleiche konnte ich dich fragen. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass das Shuttle alle viere von sich streckte. Willst du behaupten, du fliegst noch immer da drau?en herum?«
»Viel besser«, sagte Volyova. Ihre Stimme kletterte das ganze Spektrum auf und ab. »Ich bin auf einem Shuttle; horst du das? Ich bin auf einem Shuttle.«
»Wie, zum…«
»Das Schiff hat es geschickt. Die
»Das begreife ich nicht. Eigentlich musste Sonnendieb nach wie vor das Steuer in der Hand haben und versuchen, uns zu erledigen…«
»Nein«, sagte Volyova immer noch mit dieser kindlichen Freude in der Stimme. »Nein, es hat schon alles seine Richtigkeit — immer vorausgesetzt, meine Aktion hat funktioniert, aber das muss wohl der Fall gewesen sein…«
»Was hast du getan, Ilia?«
»Ich… ah… ich habe den Captain erwarmt.«
»Du hast
»Ja; es war eine ziemlich radikale Losung. Aber ich dachte mir, wenn ein Parasit versucht, das Schiff unter seine Kontrolle zu bekommen, bekampft man ihn am wirkungsvollsten mit einem noch starkeren Parasiten.« Volyova hielt inne, als wartete sie darauf, dass Khouri ihr die Logik ihrer Handlungsweise bestatige. Als keine Antwort kam, fuhr sie fort: »Seither ist kaum ein Tag vergangen — wei?t du, was das bedeutet? Die Seuche muss in wenigen Stunden gro?e Teile des Schiffes transformiert haben! Sie muss eine unglaubliche Geschwindigkeit vorgelegt haben; Fortschritte von mehreren Zentimetern pro Sekunde!«
»Hattest du dir das auch gut uberlegt?«
»Khouri, ich habe wahrscheinlich in meinem ganzen Leben noch nie so unuberlegt gehandelt. Aber es hat offenbar gewirkt! Zumindest haben wir einen Gro?enwahnsinnigen gegen einen anderen eingetauscht — und dieser andere scheint nicht ganz so versessen darauf zu sein, uns zu vernichten.«
»Schatze, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wo bist du jetzt? Warst du schon an Bord?«
»Wohl kaum. Nein, ich habe die letzten Stunden damit verbracht, nach dir zu suchen. Wo, zum Teufel, bist du, Khouri? Ich kann dich nicht richtig anpeilen.«
»Ich glaube, das willst du gar nicht wissen.«
»Wir werden ja sehen. Ich mochte dich jedenfalls so bald wie moglich auf diesem Shuttle sehen. Allein kehre ich nicht auf das Lichtschiff zuruck, falls du es ganz genau wissen willst. Ich glaube nicht, dass es dort noch so aussieht, wie wir es in Erinnerung haben. Du… ah… kannst doch zu mir kommen?«
»Ich denke schon.«
Man hatte Khouri gesagt, was sie tun sollte, um die Hades-Oberflache zu verlassen, und das tat sie nun, auch wenn es ihr nicht sehr sinnvoll erschien. Pascale hatte es ihr eindringlich ans Herz gelegt — die Matrix wurde die Botschaft verstehen und die Blase mit schwacher Gravitation ins All projizieren. Sie wurde wie in einer Flasche in Sicherheit gebracht.
Also breitete sie die Arme weit aus, als hatte sie Flugel; als konne sie fliegen.
Und schon blieb der rote Untergrund — immer noch wabernd vor Aktivitat — unter ihr zuruck.
Unendlichkeit