»Sie hatten Recht«, sagte sie. »Was immer es auch sein mag, es ist riesig. Und es scheint erstaunlich gut erhalten zu sein.«

»Irgendwelche Theorien, Pascale?«

»Das ist doch wohl eher Ihr Gebiet? Ich verfasse nur die Kommentare.« Pascale Dubois war eine junge Journalistin aus Cuvier, die von Anfang an uber die Ausgrabungen berichtet hatte. Sie wuhlte oft Seite an Seite mit den echten Archaologen im Dreck und hatte auch ihr Fachchinesisch gelernt. »Die Leichen sind grausig, finden Sie nicht? Obwohl es Aliens sind, spurt man formlich, wie sie gelitten haben mussen.«

An einer Seite des Schachts hatte man dicht neben den Stufen, die weiter in die Tiefe fuhrten, zwei Grabkammern mit Steinwanden entdeckt. Diese Kammern waren fast unversehrt, obwohl sie — mindestens — neunhunderttausend Jahre lang verschuttet gewesen waren, und die Gebeine lagen immer noch so, dass die Anatomie in groben Zugen erkennbar war. Es waren typisch amarantinische Skelette, aber auf den ersten Blick hatte man sie — wenn man nicht gerade Anthropologe war — auch fur menschliche Uberreste halten konnen. Sie hatten vier Gliedma?en, davon zwei Beine, waren etwa so gro? wie Menschen und zeigten oberflachliche Ahnlichkeiten in der Knochenstruktur. Auch das Schadelvolumen war vergleichbar, und die Sinnes- und Atemorgane sowie die Sprechwerkzeuge befanden sich etwa an den gleichen Stellen wie beim Menschen. Doch die Schadel der beiden Amarantin waren langgestreckt und vogelartig, und zwischen den tiefen Augenhohlen sprang ein Knochenwulst vor, der sich bis zur Spitze des schnabelahnlich ausgebildeten Oberkiefers hinunterzog. Da und dort spannten sich vertrocknete, braunliche Gewebestrange uber die Gebeine und hielten die Korper in einer Hockstellung, die qualvoll anmutete. Es handelte sich nicht um einen Fossilienfund im eigentlichen Sinne: es hatte keine Mineralisierung stattgefunden, und die Grabkammern waren bis auf die Knochen und eine Hand voll technomischer Artefakte, die man mit den Toten begraben hatte, leer.

Sylveste buckte sich und strich uber einen der Schadel. »Vielleicht«, sagte er, »wollte man diesen Eindruck erwecken.«

»Nein«, widersprach Pascale. »Die Knochen wurden durch das trocknende Gewebe verdreht.«

»Es sei denn, sie waren so begraben worden.«

Wahrend er den Schadel betastete — die Handschuhe ubermittelten die taktilen Informationen an seine Fingerspitzen —, sah er sich plotzlich in einen gelben Raum hoch uber Chasm City zuruckversetzt. An den Wanden hingen Aquarelle von Methan-Eis-Landschaften. Livrierte Servomaten mit Naschwerk und Likoren fuhren zwischen den Gasten hindurch; bunte Kreppbahnen hingen von der durchsichtigen Decke; kitschige entoptische Figuren im Stil der Zeit — Seraphim, Cherubim, Kolibris und Feen — schwirrten durch die Luft. Man hatte Gaste: zumeist Freunde der Familie, die er entweder kaum kannte oder verabscheute. Eigene Freunde hatte er nur wenige. Sein Vater kam wie ublich zu spat: die Party neigte sich bereits dem Ende entgegen, als Calvin endlich zu erscheinen geruhte. Das war nicht ungewohnlich; Calvin steckte damals gerade tief in seinem letzten und gro?ten Projekt, und schon dessen Verwirklichung war im Grunde nicht weniger als ein langsames Sterben gewesen. Der Selbstmord bei der Vollendung seines Lebenswerkes war nur die Kronung.

Sylveste erinnerte sich, wie ihm sein Vater eine Schachtel uberreichte, deren Seiten mit verschlungenen Ribonuklein-Strangen verziert waren.

»Mach sie auf«, hatte Calvin gesagt.

Er hatte die Schachtel genommen. Sie war ganz leicht. Als er den Deckel herunterriss, kam ein Nest aus faserigem Packmaterial zum Vorschein. Darin lag ein braunfleckiges, rundes Ding von der gleichen Farbe wie die Schachtel. Der obere Teil eines Schadels, offensichtlich menschlicher Herkunft. Der Unterkiefer fehlte.

Im Raum war es still geworden.

»Ist das alles?«, hatte Sylveste gefragt, gerade so laut, dass alle Anwesenden es horen konnten. »Ein alter Knochen? Vielen Dank, Dad, ich bin tief beschamt.«

»Dazu hast du auch allen Grund«, versetzte Calvin.

Calvin hatte leider Recht, Sylveste begriff es im nachsten Moment. Der Schadel war unglaublich wertvoll; zweihunderttausend Jahre alt — eine Frau aus Atapuerca, Spanien, wie er wenig spater erfuhr. Der Zeitpunkt ihres Todes war schon aus dem Kontext des Fundorts offensichtlich, aber die Archaologen hatten die Schatzung mit den modernsten Verfahren ihrer Zeit noch verfeinert: Kalium-Argon-Bestimmung der Felsen ihrer Begrabnishohle, Uran-System-Untersuchung der Travertin-Ablagerungen an den Wanden, Fission- Track-Analyse der Vulkanglaspartikel und Thermolumineszenz-Datierung von verbrannten Feuersteinfragmenten. Alles Techniken, die — mit einigen Verbesserungen, was die Genauigkeit und die Bedienerfreundlichkeit anging — auch von den Grabungsteams auf Resurgam noch eingesetzt wurden. Die Physik lieferte nur eine begrenzte Zahl von Methoden zur Altersbestimmung. Eigentlich hatte Sylveste sofort begreifen und den Schadel richtig einordnen mussen: er war das alteste Relikt der Menschheit auf Yellowstone, vor Jahrhunderten ins Epsilon-Eridani-System gebracht und beim Kolonialaufstand verloren gegangen. Dass Calvin ihn wiedergefunden hatte, war an sich schon ein kleines Wunder.

Sylveste wurde rot, allerdings weniger vor Scham uber seine Undankbarkeit, als weil er seine Unwissenheit so offen kundgetan hatte, obwohl es doch so einfach gewesen ware, sie zu kaschieren. Eine solche Schwache sollte ihm niemals wieder unterlaufen, gelobte er sich. Jahre spater hatte er den Schadel als dauerhafte Mahnung an diesen Vorsatz mit nach Resurgam genommen.

Er durfte jetzt nicht scheitern.

»Wenn Ihre Vermutung richtig ist«, sagte Pascale, »dann muss es fur diese Art der Beisetzung einen Grund geben.«

»Vielleicht sollte es eine Warnung sein«, sagte Sylveste und stieg zu den drei Studenten hinunter.

»So etwas hatte ich schon befurchtet«, sagte Pascale und folgte ihm. »Und worauf sollte sich eine so schreckliche Warnung bezogen haben?«

Die Frage war wohl eher rhetorisch, dachte Sylveste. Sie kannte seine Ansichten uber die Amarantin nur zu gut, und es bereitete ihr offenbar ein diebisches Vergnugen, ihn damit zu necken. Als wollte sie ihn so lange zwingen, seine Theorien zu wiederholen, bis irgendwann ein logischer Fehler auftauchte; ein Fehler, von dem sogar er selbst zugeben musste, dass er seine ganze Argumentation ins Wanken brachte.

»Auf das Ereignis«, sagte Sylveste und fuhr die feine schwarze Linie hinter dem nachsten Caisson nach.

»Das Ereignis ist uber die Amarantin hereingebrochen«, wandte Pascale ein. »Sie hatten dabei nichts mitzureden. Und es ging sehr schnell. Sie hatten keine Zeit gehabt, mit der Beisetzung ihrer Leichen finstere Drohungen auszusto?en, immer vorausgesetzt, sie hatten uberhaupt geahnt, was ihnen bevorstand.«

»Sie hatten die Gotter erzurnt«, sagte Sylveste.

»Ja«, nickte Pascale. »Wir sind uns wohl alle insoweit einig, dass sie das Ereignis aus ihren rigiden Glaubensvorstellungen heraus als Zeichen gottlichen Missfallens gedeutet hatten — aber sie hatten keine Zeit gehabt, dieser Uberzeugung vor ihrem Tod noch in irgendeiner Form dauerhaft Ausdruck zu verleihen oder gar bei der Beisetzung ihrer Toten Rucksicht auf kunftige Archaologen einer anderen Spezies zu nehmen.« Sie zog sich die Kapuze uber den Kopf und band sie zu — feine Staubschleier kamen in die Grube herabgeschwebt, und die Luft war nicht mehr so unbewegt wie noch vor wenigen Minuten. »Aber Sie sind da anderer Ansicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, luftete sie ihre Stirnfransen und zog sich eine riesige Schutzbrille uber die Augen. Dann schaute sie auf das Objekt hinab, das nun allmahlich zum Vorschein kam.

Pascale sah durch ihre Schutzbrille die Daten der Gravitationsscanner, die um das Wheeler-Gitter herum postiert waren, und darunter im Normalmodus eine stereoskopische Ansicht vergrabener Massen. Sylveste brauchte nur seinen Augen einen entsprechenden Befehl zu geben, und der Boden, auf dem sie standen, wurde glasig und verlor an Substanz. In der truben Matrix wurde ein riesiges Objekt sichtbar, ein Obelisk — ein behauener Felsblock von mehr als zwanzig Metern Hohe, der von mehreren Steinsarkophagen umgeben war. Bislang hatte man nur wenige Zentimeter der Oberseite freigelegt. An einer Seite war eine Inschrift in den ublichen Schriftzeichen der spaten Amarantin-Phase zu erkennen. Aber die Auflosung der Gravitationsscanner reichte nicht aus, um den Text lesbar zu machen. Solange sie den Obelisken nicht vollends ausgegraben hatten, wurden sie nicht mehr erfahren.

Sylveste schaltete seine Augen auf Normalbetrieb zuruck. »Beeilt euch«, ermahnte er seine Studenten. »Kleinere Beschadigungen der Oberflache kummern mich nicht.

Aber ich mochte, dass bis heute Abend mindestens ein Meter von dem Ding zu sehen ist.«

Einer der jungen Leute drehte sich zu ihm um, ohne sich von den Knien zu erheben. »Sir, wir haben gehort,

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