Frackhemd und elegante Karohosen, die in Seerauberstiefeln steckten. An seinen Handen blitzten Gold und Edelsteine. Der makellos gestutzte, rostrote Bart betonte dezent die Kieferlinie. Kleine entoptische Figuren umschwebten den Sitzenden, Symbole aus der Booleschen und der dreiwertigen Logik und lange Binarzahlenketten. Mit einer Hand betastete er die Bartstoppeln unter seinem Kinn, wahrend die andere mit den verschnorkelten Schnitzereien am Ende der Armlehne spielte.
Eine Animationswelle glitt uber die Projektion, und in die fahlen Augen trat ein wacher Glanz.
Calvin hob trage die Finger zum Gru?. »Aha…«, sagte er. »Die Schei?e hat sich also wieder einmal auf den Weg zum Ventilator gemacht.«
»Du unterstellst eine ganze Menge.«
»Das habe ich gar nicht notig, mein lieber Junge. Ich bin nur eben ins Netz gegangen und habe mir die letzten paar tausend Nachrichten angesehen.« Er reckte den Kopf und sah sich um. »Nicht schlecht, die Bude«, lobte er. »Wie geht’s ubrigens deinen Augen?«
»Wie zu erwarten. Sie funktionieren.«
Calvin nickte. »Die Auflosung ist nicht besonders, aber mehr war mit den Mitteln, die mir zur Verfugung standen, nicht zu erreichen. Wahrscheinlich konnte ich allenfalls vierzig Prozent deiner Sehnervkanale anschlie?en, bessere Kameras einzusetzen ware also zwecklos gewesen. Wenn auf diesem Planeten halbwegs anstandige chirurgische Instrumente zu bekommen waren, lie?e sich vielleicht einiges noch etwas verbessern. Aber man kann Michelangelo keine Zahnburste in die Hand drucken und dann die Sixtinische Kapelle erwarten.«
»Nur immer schon Salz in die Wunden streuen.«
»Das fiele mir doch im Traum nicht ein!« Calvin spielte die gekrankte Unschuld. »Ich finde nur, wenn du Alicia schon die
Sylvestes Frau hatte zwanzig Jahre zuvor die Meuterei gegen ihn angefuhrt, und das lie? ihn Calvin niemals vergessen.
»Ich habe mich also sozusagen selbst geopfert.« Sylveste brachte die Projektion mit einer Armbewegung zum Schweigen. »Entschuldige, Cal, aber ich habe dich nicht gerufen, um wieder einmal gemutlich mit dir zu plaudern.«
»Kannst du nicht Vater zu mir sagen?« Sylveste stellte sich taub. »Wei?t du, wo wir sind?«
»An einer Ausgrabung, nehme ich an.« Calvin schloss kurz die Augen und legte die Finger an die Schlafen, wie um seine Konzentration zu demonstrieren. »Hm. Mal sehen. Zwei Expeditions-Schlepper von Mantell, nicht weit von der Ptero-Steppe… ein Wheeler-Gitter… wie altmodisch! Aber fur diesen Zweck vermutlich ausreichend. Und was ist das? Hochauflosende Gravitationsscanner… Seismogramme… du hast tatsachlich etwas gefunden, nicht wahr?«
In diesem Augenblick warf das Schreibpult eine Status-Fee aus, die einen Anruf aus Mantell meldete. Sylveste bat Calvin mit erhobener Hand um Schweigen und rang mit sich, ob er das Gesprach annehmen sollte. Der Anrufer war der Ornithologe Henry Janequin, einer seiner wenigen treuen Verbundeten. Janequin hatte den echten Calvin gekannt, aber Sylveste war ziemlich sicher, dass er das Beta-Sim nie gesehen hatte… schon gar nicht in einer Situation, in der es ganz offensichtlich von seinem Sohn um Rat gefragt wurde. Das Eingestandnis, dass er Cals Beistand brauchte — dass er auch nur daran gedacht hatte, das Sim zu Hilfe zu rufen —, konnte als kritisches Zeichen von Schwache gedeutet werden.
»Worauf wartest du noch?«, fragte Cal. »Stell ihn durch.«
»Er wei? nichts von dir… von uns.«
Calvin schuttelte den Kopf, und plotzlich stand Janequin im Raum. Ein Schock! Sylveste rang um Fassung, aber er wusste nur zu gut, was geschehen war. Calvin hatte einen Weg gefunden, auf die abgesicherten Funktionen des Schreibpults zuzugreifen.
Er war schon immer ein Schuft gewesen, mit allen Wassern gewaschen. Doch letzten Endes, dachte Sylveste, war er ihm nur deshalb nach wie vor von Nutzen.
Janequins Vollprojektion war nicht ganz so scharf wie die von Calvin, denn sie wurde uber das — gelinde gesagt luckenhafte — Satellitennetz von Mantell ubertragen. Auch die Aufnahmekameras hatten wahrscheinlich schon bessere Tage gesehen, dachte Sylveste — wie so vieles auf Resurgam.
»Da bist du ja«, sagte Janequin. Er hatte zunachst nur Sylveste bemerkt. »Ich versuche dich schon seit einer Stunde zu erreichen. Kannst du dich in deiner Grube nicht anpiepsen lassen, wenn ein Anruf kommt?«
»Schon«, sagte Sylveste, »aber ich habe den Alarm abgeschaltet. Er war mir lastig.«
»Ach so«, sagte Janequin mit einem kaum horbaren gereizten Unterton. »Sehr sinnvoll. Besonders fur jemanden in deiner Lage. Du wei?t naturlich, wovon ich spreche. Es gibt Arger, Dan, mehr vielleicht, als du…« Jetzt hatte er offenbar auch Cal bemerkt. Er betrachtete die Gestalt im Lehnstuhl eine Weile, dann sagte er: »Du meine Gute. Sie sind es wirklich, nicht wahr?«
Cal nickte stumm.
»Es ist seine Beta-Simulation«, sagte Sylveste. Das musste geklart werden, bevor das Gesprach fortgesetzt wurde; Alphas und Betas waren grundlegend verschieden, und bei den Stonern legte man gro?en Wert darauf, die beiden sauber zu trennen. Janequin in dem Glauben zu lassen, es handle sich um die langst verloren gegangene Alpha-Aufzeichnung, ware ein schwerer Fauxpas gewesen.
»Ich wollte mich gerade mit ihm… beraten«, sagte Sylveste.
Calvin schnitt eine Grimasse.
»Woruber?«, fragte Janequin. Er war ein alter Mann — der alteste Mensch auf Resurgam — und sein Aussehen kam dem Idealbild eines Affen von Jahr zu Jahr naher. Ein rosiges Gesichtchen, umrahmt von wei?em Haar, wei?em Schnurrbart und wei?em Bart wie bei einem der seltenen Krallenaffchen. Auf Yellowstone hatte es abgesehen von den Meistermischern keinen begnadeteren Genetiker gegeben, ja, in gewissen Kreisen schatzte man Janequin sogar hoher als alle Angehorigen dieser Sekte, obwohl an seiner Genialitat nichts Spektakulares war. Er bestach nicht durch brillante Geistesblitze, sondern hatte sich sein Konnen in jahrelanger stiller, aber ausgezeichneter Arbeit erworben. Inzwischen stand er weit im vierten Lebensjahrhundert, und die Wirkung der Langlebigkeitsbehandlungen brockelte sichtbar ab. Sylveste vermutete, dass der Genetiker schon bald als erster Mensch auf Resurgam an Altersschwache sterben wurde. Der Gedanke machte ihn traurig. Er war zwar in vielen Dingen anderer Meinung als Janequin, aber in wichtigen Fragen hatten sie immer den gleichen Standpunkt vertreten.
»Er hat etwas gefunden«, sagte Cal.
Janequins Augen leuchteten auf, die Begeisterung des Wissenschaftlers nahm ihm die Last vieler Jahre von den Schultern. »Tatsachlich?«
»Ja, ich…« Wieder trat eine seltsame Veranderung ein. Der Raum verschwand. Die drei standen auf einem Balkon hoch uber einer Stadt, die Sylveste sofort als Chasm City erkannte. Auch diesmal hatte Calvin die Hand im Spiel. Das Schreibpult war ihm gefolgt wie ein Hundchen. Wenn Cal auf seine abgesicherten Funktionen zugreifen konnte, dachte Sylveste, dann war er auch imstande, eine der Standardszenerien abzurufen. Die Simulation war ausgezeichnet: sogar der Wind blies Sylveste ins Gesicht, und er spurte den kaum wahrnehmbaren Geruch der Stadt, der schwer zu beschreiben war, aber bei billigeren Projektionen sofort vermisst wurde.
Es war die Stadt seiner Kindheit: auf dem Hohepunkt der Belle Epoque. In der Ferne zogen goldene Maschinen wie kunstliche Wolken uber den Himmel. Es herrschte lebhafter Flugverkehr. Darunter zog eine schwindelerregende Aussicht den Blick auf sich: Park- und Gartenterrassen, die kilometerweit in die Tiefe fuhrten und in einem uppigen, hell erleuchteten Pflanzenmeer verschwanden.
»Ist es nicht schon, die alte Heimat wiederzusehen?«, fragte Cal. »Wenn man bedenkt, dass sie fast schon uns gehorte; unser Clan brauchte nur zuzugreifen… wer wei?, wie alles gekommen ware, wenn wir die Zugel gefuhrt hatten?«
Janequin hielt sich am Gelander fest. »Sehr hubsch, Calvin, aber ich bin nicht als Tourist gekommen. Dan, was wolltest du mir sagen, bevor wir so…«
»Rude unterbrochen wurden?«, erganzte Sylveste. »Ich wollte Cal bitten, die Daten der Gravitationsscanner aus dem Schreibpult abzurufen, nachdem er offenbar ohne weiteres auf meine privaten Dateien zugreifen kann.«
»Das ist fur jemanden in meiner Position nun wirklich ein Kinderspiel«, sagte Cal. Es dauerte einen Moment, bis er die truben Bilder des vergrabenen Artefakts gefunden hatte, doch dann schwebte der Obelisk in Lebensgro?e vor dem Balkon.