»Sir«, sagte einer — moglicherweise der Junge, der ihn zuerst vor dem Sturm gewarnt hatte. »Sir; es ist nicht so, dass wir keinen Respekt vor Ihnen hatten. Aber wir mussen auch an uns denken. Verstehen Sie das denn nicht? Was immer hier vergraben liegt, es lohnt sich nicht, dafur ein solches Risiko einzugehen.«

»Da irren Sie sich«, widersprach Sylveste. »Dafur lohnt sich ein noch viel hoheres Risiko, als Sie sich uberhaupt vorstellen konnen. Begreifen Sie denn nicht? Das Ereignis ist den Amarantin nicht widerfahren. Sie haben es ausgelost. Sie haben es selbst herbeigefuhrt.«

Sluka schuttelte bedachtig den Kopf. »Sie sollen ihre Sonne hochgejagt haben? Glauben Sie das wirklich?«

»Mit einem Wort: Ja.«

»Dann sind Sie noch viel verruckter, als ich befurchtet hatte.« Sluka wandte ihm den Rucken zu und befahl ihrer Horde: »Lasst die Schlepper an. Wir fahren.«

»Was ist mit den Geraten?«

»Die konnen meinetwegen hier bleiben und verrotten.« Die Horde zerstreute sich, alle schlenderten auf die massigen Fahrzeuge zu.

»Wartet!«, rief Sylveste. »Hort mich an! Wenn ihr die Gerate zurucklasst, braucht ihr nur einen Schlepper — er bietet Platz genug fur alle.«

Sluka wandte sich wieder ihm zu. »Und was ist mit Ihnen?«

»Ich bleibe hier — ich bringe die Arbeit allein zu Ende, oder will noch jemand bleiben?«

Sie schuttelte den Kopf, riss sich die Maske vom Gesicht und spuckte voller Abscheu auf den Boden. Doch als sie ging, holte sie den Rest ihrer Brigade ein und fuhrte sie zu einem der Schlepper. Damit hatte er den zweiten — mit seiner Kabine — fur sich allein. Slukas Horde bestieg das Fahrzeug. Einige von den Studenten trugen kleinere Gerate oder Kisten mit Fundstucken und Gebeinen aus der Grabungsstatte. Der Instinkt des Wissenschaftlers siegte selbst uber den Zorn des Meuterers. Die Rampen wurden eingeklappt und die Luken geschlossen, dann hob sich der Schlepper auf seine Beine, drehte sich schlurfend um und entfernte sich. Nach kaum einer Minute war er den Blicken entschwunden, und das Tosen des Windes ubertonte den Larm seiner Motoren.

Sylveste drehte sich um und wollte sehen, wer noch geblieben war.

Pascale stand da — aber das war fast unvermeidlich; sie ware ihm wohl bis ins Grab gefolgt, wenn dabei eine gute Geschichte herausgesprungen ware. Eine Hand voll Studenten hatte sich Sluka widersetzt; beschamt stellte er fest, dass er sie nicht einmal mit Namen ansprechen konnte. Vielleicht ein halbes Dutzend war noch im Wheeler-Gitter. Wenn er Gluck hatte.

Er nahm sich zusammen, wandte sich an zwei der Zuruckgebliebenen und schnippte mit den Fingern. »Ihr konnt die Gravitationsscanner abbauen, wir brauchen sie nicht mehr.« Dann nahm er sich das nachste Paar vor. »Ihr beginnt an der Ruckseite des Gitters und sammelt alle Werkzeuge ein, die Slukas Deserteure zuruckgelassen haben, au?erdem die Notizen und alle Kisten mit Fundstucken. Wenn ihr fertig seid, treffen wir uns am Fu? des gro?en Schachts.«

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Pascale. Sie schaltete ihre Kamera ab und lie? sie ins Notepad zuruckfahren.

»Ich dachte, das liegt auf der Hand«, sagte Sylveste. »Ich will mir ansehen, was auf diesem Obelisken steht.«

Chasm City, Yellowstone,

Epsilon Eridani-System

2524

Ana Khouri war beim Zahneputzen, als das Kontrollpult ihrer Suite anschlug. Sie kam mit Schaum vor dem Mund aus dem Bad.

»Morgen, Kiste.«

Der Hermetiker glitt in die Wohnung. Seine Reisesanfte, auch Palankin genannt, war mit kunstvollen Schnitzereien verziert und hatte vorne ein schwarzes Fensterchen. Bei passender Beleuchtung konnte man hinter dem zolldicken, grunen Glas K. C. Ngs totenbleiches Gesicht auf und ab hupfen sehen.

»He, du siehst gut aus«, sagte er. Seine Stimme drang krachzend durch das Sprechgitter des Kastens. »Wo kriegt man das, was dich so munter macht?«

»Es nennt sich Kaffee, Kiste. Und ich trinke viel zu viel von dem verdammten Zeug.«

»War nur ein Witz«, sagte Ng. »Du siehst aus wie aufgewarmte Schei?e.«

Sie wischte sich mit der Hand den Schaum vom Mund. »Ich bin eben erst aufgewacht, du Arschloch.«

»Verzeihung.« Das klang so, als sei der Akt des Aufwachens eine physische Schwache von vorgestern, die Ng langst abgelegt hatte. Ahnlich wie ein Blinddarm. Vielleicht stimmte das ja auch: Khouri hatte den Mann im Kasten noch nie genau gesehen. Die Hermetiker gehorten zu den sonderbarsten Gruppierungen, die in den Jahren nach der Seuche entstanden waren. Einerseits wollten sie nicht auf Implantate verzichten, auch wenn sie womoglich von der Seuche verdorben waren, andererseits waren sie uberzeugt, dass selbst die vergleichsweise saubere Welt des Baldachins von Erregern nicht vollig frei war. Also verlie?en sie ihre Sanften nur innerhalb einer hermetisch abgedichteten Umgebung und konnten sich lediglich in einigen wenigen Orbitalkarussellen frei bewegen.

Wieder krachzte die Stimme: »Entschuldige, aber wenn ich mich nicht irre, haben wir heute Morgen einen Auftrag zu erledigen. Erinnerst du dich an diesen Taraschi, hinter dem wir seit zwei Monaten her sind? Kommt dir der Name irgendwie bekannt vor? Es ware nicht ganz unwichtig, denn schlie?lich bist du diejenige, die ihn von seinem Elend erlosen soll.«

»Geh von meinem Nacken runter, Kiste.«

»Selbst wenn ich mich dort niederlassen wollte, liebe Khouri, gabe das anatomische Probleme. Aber im Ernst, wir haben einen Ort und einen Zeitpunkt fur den Abschuss festgelegt, einen geschatzten Todeszeitpunkt. Hast du alle deine Sinne beisammen?«

Khouri schenkte sich einen letzten Schluck Kaffee ein, den Rest lie? sie auf dem Herd stehen. Sie wurde ihn trinken, wenn sie zuruckkam. Kaffee war ihr einziges Laster, seit ihrer Dienstzeit als Soldat auf Sky’s Edge war sie ihm verfallen. Wichtig war, gerade so viel zu trinken, dass man hellwach war, aber sich nicht so aufzuputschen, dass man keine Waffe halten konnte, ohne zu zittern.

»Ich glaube, ich habe den Blutanteil in meinem Koffeinkreislauf auf ein ertragliches Niveau reduziert, wenn du das meinst.«

»Dann konnen wir uns uber die letzten Dinge unterhalten, jedenfalls so weit es Taraschi betrifft.«

Ng feuerte eine Salve von Anweisungen fur die Schlussphase des Abschusses ab. Das meiste stand bereits im Plan, manches konnte sie sich aus ihren Erfahrungen aus fruheren Auftragen auch selbst zusammenreimen. Taraschi war ihr funftes Mordopfer in Folge, so dass sie allmahlich auch die gro?eren Zusammenhange sah. Es war ein Spiel mit eigenen Regeln, auch wenn das nicht auf den ersten Blick erkennbar sein mochte, und diese Regeln kehrten mit leichten Abwandlungen bei der Planung jedes neuen Abschusses wieder. Inzwischen waren sogar die Medien auf sie aufmerksam geworden, ihr Name wurde haufiger genannt, und Kiste war offenbar schon dabei, ihr fur die nachsten Auftrage besonders pikante und renommierte Ziele zuzuschanzen. Sie war auf dem besten Weg, in die Gruppe der hundert fahigsten Meuchelmorder des Planeten aufgenommen zu werden; eine wahrhaft erlesene Gesellschaft.

»Alles klar«, sagte sie. »Unter dem Denkmal, Einkaufszentrum achte Etage, Westflugel, in einer Stunde. Ein Kinderspiel.«

»Hast du nicht etwas vergessen?«

»Richtig. Wo ist die Mordwaffe, Kiste?«

Ngs Schatten nickte hinter dem Fenster. »Wo die Zahnfee sie hingelegt hat, meine Liebe.«

Damit wendete er seinen Palankin und verlie? die Wohnung. Nur ein schwacher Geruch nach Schmierol blieb zuruck. Khouri runzelte die Stirn, dann schob sie langsam die Hand unter das Kissen auf ihrem Bett. Kiste hatte Recht, da war etwas. Als sie sich schlafen legte, hatte noch nichts unter dem Kissen gelegen, aber das konnte sie inzwischen kaum noch erschuttern. Die Firma wandelte gern auf geheimnisvollen Pfaden.

Bald war sie so weit.

Sie versteckte die Mordwaffe unter ihrem Mantel und rief sich eine Seilbahn vom Dach. Die Gondel entdeckte die Waffe und die Implantate in ihrem Kopf sofort und hatte ihr die Beforderung verweigert, wenn sie

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