nicht den Omega-Point-Ausweis unter dem Nagel ihres rechten Zeigefingers vorgezeigt hatte, eine kleine holografische Zielscheibe, die durch das Keratin flimmerte. »Zum Denkmal fur die Achtzig«, befahl Khouri.

Sylveste stieg von der Leiter und durchquerte die Grube mit den Stufen, bis er den Lichtkreis um die Spitze des Obelisken erreichte. Sluka und einer der anderen Archaologen hatten ihn im Stich gelassen, aber der einzige noch verbliebene Arbeiter hatte — mit Hilfe des Servomaten — die ineinander verschachtelten Stein-Sarkophage Schicht fur Schicht abgetragen und den massiven Obsidian-Block fast einen Meter weit freigelegt. In die Seitenwand waren mit gro?er Kunstfertigkeit amarantinische Schriftzeichen eingraviert. Das meiste war Text: Reihen von Ideogrammen. Die Archaologen hatten die Sprache der Amarantin in ihren Grundzugen entratselt, ohne dass ihnen ein zweiter Stein von Rosette dabei geholfen hatte. Die Amarantin waren die achte ausgestorbene Fremdkultur, die von der Menschheit im Umkreis von funfzig Lichtjahren von der Erde entdeckt worden waren, wobei nichts darauf hinwies, dass eine dieser acht Spezies je mit einer der anderen in Beruhrung gekommen ware. Auch von den Musterschiebern und den Schleierwebern war keine Unterstutzung zu erwarten: beide Arten schienen nicht einmal Ansatze einer Schrift entwickelt zu haben. Das wusste niemand besser als Sylveste, der mit den Schiebern wie mit den Webern — oder zumindest mit deren Technik — in Kontakt gekommen war.

Stattdessen war die Sprache der Amarantin von Computern entschlusselt worden. Es hatte drei?ig Jahre gedauert — und den Vergleich von Millionen von Fundstucken erfordert —, aber dann stand endlich ein in sich stimmiges Modell, mit dem man die Aussage der meisten Inschriften bestimmen konnte. Von Vorteil war dabei, dass die Amarantin wenigstens zum Ende ihres Daseins nur eine Sprache gekannt hatten, die sich zudem nur langsam veranderte. So konnte man mit ein und demselben Modell Inschriften entziffern, die im Abstand von Zehntausenden von Jahren entstanden waren. Bedeutungsnuancen waren naturlich ein ganz anderer Fall. Hier waren das menschliche Einfuhlungsvermogen — und theoretische Grundlagen — gefragt.

Allerdings gab es im menschlichen Erfahrungsbereich nichts, was mit den Schriften der Amarantin vergleichbar gewesen ware. Alle Texte waren stereoskopisch — verschlungene Linien, die im visuellen Kortex des Lesers verschmolzen werden mussten. Die Amarantin stammten von vogelahnlichen Wesen ab — einer Art fliegender Dinosaurier mit der Intelligenz von Lemuren. Auf irgendeiner Stufe ihrer Entwicklung hatten die Augen zu beiden Seiten des Schadels gesessen, was zu einer starken Zweiteilung der Gehirntatigkeit gefuhrt hatte, bei dem sich jede Gehirnhalfte ihr eigenes, mentales Modell der Welt aufbaute. Spater waren sie Jager geworden und hatten begonnen, mit beiden Augen zu sehen, aber die mentalen Vernetzungen waren noch immer von dieser fruheren Entwicklungsphase gepragt. Die meisten Amarantin-Funde spiegelten diese geistige Dualitat mit deutlicher Symmetrie um die vertikale Achse wider.

Der Obelisk war keine Ausnahme.

Sylveste brauchte anders als seine Mitarbeiter keine Spezialbrille, um die Schriftzeichen lesen zu konnen; er brauchte nur einen von Calvins sinnvolleren Algorithmen einzusetzen, um die Verschmelzung der stereoskopischen Bilder mit blo?em Auge durchfuhren zu konnen. Dennoch blieb der Akt des Lesens umstandlich und erforderte angestrengte Konzentration.

»Ich brauche hier mehr Licht«, sagte er. Der Student nahm einen der tragbaren Scheinwerfer vom Pfosten und hielt ihn uber die Seitenwand des Obelisken. Irgendwo hoch oben wetterleuchtete es: zwischen den Staubschichten im Sturm entluden sich elektrische Spannungen.

»Konnen Sie es lesen, Sir?«

»Ich bemuhe mich«, sagte Sylveste. »Es ist nicht ganz einfach. Schon gar nicht, wenn Sie das Licht nicht ruhig halten.«

»Verzeihung, Sir. Ich tue, was ich kann. Aber der Wind wird immer starker.«

Er hatte Recht; selbst in den Tiefen des Schachts bildeten sich bereits Wirbel. Wenn es noch unruhiger wurde, wurde sich der Staub verdichten, bis die Luft zu einer undurchsichtigen, grauen Masse wurde. Unter solchen Bedingungen konnte man nicht lange arbeiten.

»Ich entschuldige mich«, sagte Sylveste. »Ich bin Ihnen sehr dankbar fur Ihre Hilfe.« Noch nicht zufrieden mit dieser Aussage, fugte er hinzu: »Und ich bin froh, dass Sie bei mir geblieben sind und nicht bei Sluka.«

»Die Entscheidung war nicht schwer, Sir. Nicht jeder von uns steht Ihren Ideen ablehnend gegenuber.«

Sylveste schaute vom Obelisken auf. »Allen meinen Ideen?«

»Wir finden zumindest, dass sie untersucht werden sollten. Immerhin liegt es im Interesse der Kolonie zu begreifen, was damals geschehen ist.«

»Sie meinen das Ereignis?«

Der Student nickte. »Wenn es wirklich von den Amarantin ausgelost wurde… und wenn es tatsachlich mit den Anfangen der Raumfahrt zusammenfiel — dann ware das wohl nicht nur von akademischem Interesse.«

»Ich verabscheue diesen Ausdruck. Er klingt, als ware jede andere Art von Interesse von vorneherein verdienstvoller. Aber Sie haben Recht. Wir mussen es wissen.«

Pascale kam naher. »Was genau mussen wir wissen?«

»Was ihre Sonne dazu brachte, sie zu toten.« Sylveste drehte sich um und starrte Pascale aus seinen kunstlichen Augen mit den ubergro?en Silberfacetten an. »Damit wir am Ende nicht den gleichen Fehler machen.«

»Sie meinen, es war ein Unfall?«

»Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sie es mit Absicht getan haben, Pascale.«

»Das ist mir klar.« Er wusste, wie sie es hasste, wenn er in diesem gonnerhaften Ton mit ihr sprach. Er hasste es ja selbst. »Aber ich wei? auch, dass steinzeitliche Aliens ganz einfach nicht die Mittel haben, um das Verhalten ihres Sterns zu beeinflussen, ob absichtlich oder nicht.«

»Wir wissen, dass sie uber die Steinzeit hinaus waren«, sagte Sylveste. »Sie hatten das Rad und das Schie?pulver erfunden; sie kannten die Grundzuge einer wissenschaftlichen Optik und interessierten sich als Ackerbauern fur Astronomie. Als die Menschheit auf dieser Stufe stand, brauchte sie nicht mehr als funfhundert Jahre bis zur Raumfahrt. Ware es nicht ziemlich anma?end, einer anderen Spezies weniger zuzutrauen?«

»Aber wo sind die Beweise?« Pascale stand auf und schuttelte den Staub ab, der sich in den Falten ihres Wintermantels gesammelt hatte. »Oh, ich wei? schon, was Sie sagen wollen — Produkte der High-Tech-Industrie wurden nicht gefunden, weil sie von Natur aus weniger haltbar waren als Artefakte aus fruheren Zeiten. Aber selbst wenn es Beweise gegeben hatte — was wurde das andern? Nicht einmal die Synthetiker wagen sich an die Sterne heran, und sie sind sehr viel weiter fortgeschritten als der Rest der Menschheit, uns eingeschlossen.«

»Ich wei?. Das ist es ja, was mich beunruhigt.«

»Was besagt denn nun die Inschrift?«

Seufzend wandte sich Sylveste wieder dem Obelisken zu. Er hatte gehofft, die Ablenkung wurde seinem Unterbewusstsein etwas Mu?e verschaffen, um sich mit dem Text zu beschaftigen und ihm eine klare Losung zu prasentieren. Auf diese Weise hatte er damals vor der Expedition zu den Schleierwebern eins der psychologischen Ratsel gelost. Aber diesmal verweigerte sich die Erkenntnis hartnackig; die Schriftzeichen ergaben immer noch keinen Sinn. Vielleicht machte er sich auch falsche Hoffnungen. Er hatte eine gewaltige Offenbarung erwartet, etwas, das seine Vorstellungen in ihrer ganzen Grausamkeit bestatigte.

Aber die Schrift war offenbar nur zum Andenken eingeritzt worden — an eine Begebenheit, die in der Geschichte der Amarantin eine gro?e Rolle gespielt haben mochte, aber — gemessen an seinen Erwartungen — sicher in hochstem Ma?e provinziell war. Um ganz sicher sein zu konnen, ware eine umfassende Computeranalyse erforderlich, und er konnte nur etwa einen Meter Text ganz oben lesen — aber schon spurte er eine lahmende Enttauschung. Wofur der Obelisk auch stand, fur ihn war es nicht mehr von Interesse.

»Es ist ein Bericht«, sagte Sylveste. »Uber eine Schlacht vielleicht oder die Erscheinung eines Gottes. Das ist alles — ein Gedenkstein. Wenn wir ihn ausgraben und das Alter der Kontextschicht bestimmen, wissen wir sicher mehr. Wir konnen auch eine Trapped Electron-Messung vornehmen, das hei?t, den Fund auf die Anzahl gefangener Elektronen untersuchen.«

»Es ist nicht das, wonach Sie suchen, nicht wahr?«

»Eine Weile dachte ich, es ware so.« Sylveste schaute zum untersten Rand der freigelegten Obeliskenflache. Der Text endete wenige Zentimeter uber der obersten Verkleidungsschicht, danach begann ein neuer Abschnitt, der sich weiter fortsetzte, als er sehen konnte. Es war eine Art Diagramm — aber nur die obersten Bogen mehrerer konzentrischer Kreise waren zu erkennen. Was mochte das sein?

Sylveste konnte — wollte — keine Vermutungen anstellen. Der Sturm wurde heftiger. Jetzt waren gar keine

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