viele Bereiche, die nicht uberwacht werden konnten, weil die Sensoren ausgefallen waren. Wenn sich jemand gezielt versteckte, ware er noch schwerer zu finden.
»Sie werden ihn suchen mussen«, sagte der Captain endlich. »Wenn Sajaki und die anderen aufwachen, darf er nicht mehr frei herumlaufen.«
»Und wenn ich ihn finde?«
»Dann mussen Sie ihn wahrscheinlich toten. Wenn Sie sauber arbeiten, konnen Sie die Leiche in den Kalteschlaftank zurucklegen und eine Panne arrangieren.«
»Ich soll also einen Unfall vortauschen?«
»Ja.« Der Teil des Gesichts, den sie durch das Helmfenster sehen konnte, war wie immer vollig ausdruckslos. Die Zuge des Captains waren starr wie bei einer Statue.
Der Rat war gut — sie hatte auch selbst darauf kommen konnen, aber das Problem hatte sie vollig in Anspruch genommen. Bis jetzt war sie jeder Konfrontation mit Nagorny aus dem Weg gegangen, aus Angst, in eine Situation zu kommen, in der sie ihn toten musste. Das hatte sie fur untragbar gehalten — aber ob eine Losung tragbar war oder nicht, hing immer davon ab, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtete.
»Danke, Captain«, sagte Volyova. »Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Sie gestatten, werde ich Sie jetzt wieder herunterkuhlen.«
»Sie kommen doch wieder, Ilia? Unsere kleinen Unterhaltungen bedeuten mir sehr viel.«
»Auch ich mochte nicht mehr darauf verzichten«, sagte sie. Dann befahl sie ihrem Armband, seine Hirntemperatur um funfzig Millikelvin abzusenken; das genugte fur einen tiefen, traumlosen Schlaf. Hoffentlich.
Volyova rauchte schweigend ihre Zigarette zu Ende, dann wandte sie sich ab und schaute den langen, schwarzen Korridor entlang. Irgendwo da drau?en — in irgendeinem Teil des Schiffes — lauerte Nagorny. Sie wusste, dass er einen tiefen Groll auf sie hegte. Auch er war jetzt krank; krank im Kopf.
Wie ein Hund, den man einschlafern musste.
»Ich glaube, ich wei?, was das ist«, sagte Sylveste, als der letzte Stein der Sarkophagverkleidung entfernt war und die oberen zwei Meter des Obelisken frei lagen.
»Namlich?«
»Eine Karte des Pavonis-Systems.«
»Wie komme ich nur darauf, dass Sie das schon vorher erraten hatten?«, fragte Pascale und schielte durch ihre Schutzbrille auf das komplizierte Motiv, zwei leicht gegeneinander verschobene Scharen konzentrischer Kreise. Stereoskopisch verschmolzen, fielen sie zu einer Schar zusammen, die in einigem Abstand uber dem Obsidian schwebte. Kein Zweifel, es waren Planetenbahnen. Im Zentrum befand sich die Sonne Delta Pavonis, erkennbar an der entsprechenden Amarantin-Glyphe — einem funfzackigen Stern, der stark an das menschliche Sternensymbol erinnerte. Dann folgten ma?stabsgetreu die funf Bahnen aller gro?eren Himmelskorper im System, wobei Resurgam mit dem Amarantin-Symbol fur ›Welt‹ bezeichnet war. Auch die Monde der gro?eren Planeten waren prazise eingetragen, und damit war zweifelsfrei erwiesen, dass es sich nicht um eine zufallig entstandene Figur handelte.
»Ich hatte einen Verdacht«, sagte Sylveste. Er war erschopft, aber die durchwachte Nacht — und das Risiko — hatten sich gelohnt. Sie hatten viel langer gebraucht, um den zweiten Meter des Obelisken freizulegen, und manchmal hatte der Sturm geheult wie ein ganzes Hexengeschwader vor dem todlichen Angriff. Aber — nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal — er hatte nicht ganz die Starke erreicht, die Cuvier vorhergesagt hatte. Jetzt war das Schlimmste uberstanden. Zwar wehten immer noch schwarze Staubwolken uber den Himmel, aber das erste Morgenrot vertrieb die Finsternis. Sie waren wohl doch mit dem Leben davongekommen.
»Aber das andert nichts«, sagte Pascale. »Wir wussten immer, dass sie etwas von Astronomie verstanden; das Diagramm beweist nur, dass sie irgendwann das heliozentrische Universum entdeckt hatten.«
»Es beweist noch mehr«, widersprach Sylveste vorsichtig. »Nicht alle von diesen Planeten sind mit blo?em Auge erkennbar, selbst wenn man die Physiologie der Amarantin berucksichtigt.«
»Dann haben sie eben Teleskope verwendet.«
»Vor kurzem haben Sie noch von steinzeitlichen Aliens gesprochen. Und jetzt trauen Sie ihnen zu, dass sie Teleskope herstellen konnten?«
Er glaubte, sie lacheln zu sehen, obwohl die Atemmaske ihr Gesicht verdeckte. Doch dann schaute sie zum Himmel auf. Unterhalb der Staubschicht war eine helle Raute uber die Walle geglitten.
»Ich glaube, da kommt jemand«, sagte sie.
Rasch kletterten sie die Leiter hinauf und kamen atemlos oben an. Der Wind wehte zwar nicht mehr mit Spitzengeschwindigkeiten wie vor einigen Stunden, aber auf der Oberflache war immer noch jeder Schritt eine Strapaze. Die Ausgrabungsstatte war verwustet, Scheinwerfer und Gravitationsscanner waren umgefallen, uberall lagen Instrumente verstreut.
Uber ihnen zog das Flugzeug seine Bahnen und suchte nach einem Landeplatz. Sylveste sah sofort, dass es aus Cuvier kommen musste; Mantell hatte keine Maschinen dieser Gro?e. Flugzeuge waren auf Resurgam Mangelware, denn nur mit ihnen konnte man Entfernungen uber mehrere hundert Kilometer zurucklegen. Alle noch im Einsatz befindlichen Flugzeuge waren in den ersten Tagen nach Grundung der Kolonie von Servomaten aus heimischen Materialien hergestellt worden. Aber bei der Meuterei waren die Produktionsmaschinen zerstort oder gestohlen worden, folglich war alles, was sie hinterlassen hatten, fur die Kolonie unersetzlich. Kleinere Unfallschaden konnten die Flugzeuge selbst regenerieren, und sie brauchten auch keine Wartung — aber durch Sabotage oder Unvorsichtigkeit konnten sie dennoch zerstort werden. Im Lauf der Jahre war der Bestand der Kolonie immer weiter geschrumpft.
Wenn Sylveste die Raute ansah, taten ihm die Augen weh. Die Unterseite der Flugel war mit Tausenden von wei?gluhenden Heizelementen besetzt, die mit ihrer Warme fur Auftrieb sorgten. Der Kontrast uberforderte Calvins Algorithmen.
»Wer ist das?«, fragte einer der Studenten.
»Wenn ich das wusste«, sagte Sylveste. Doch die Erkenntnis, dass die Maschine aus Cuvier stammte, war keineswegs ermutigend. Er sah, wie sie tiefer ging und schwarze Schatten auf den Boden warf, dann erlosch der Schein der Heizelemente, und sie setzte auf ihren Kufen auf. Eine Rampe wurde ausgefahren, und eine Reihe von Gestalten kam aus der Luke. Calvins Augen schalteten auf Infrarot — jetzt konnte Sylveste die Gestalten auch dann noch deutlich sehen, als sie sich vom Flugzeug entfernten und auf ihn zukamen. Sie waren dunkel gekleidet, trugen Atemmasken und Helme und hatten Harnische mit dem blitzblanken Emblem der Regierung umgeschnallt: eine richtige Miliz, jedenfalls fur die Verhaltnisse der Kolonie. Die Soldaten kamen nicht mit leeren Handen — die langen Gewehre mit den Doppelgriffen und der Taschenlampe unter dem Lauf sahen bedrohlich aus.
»Das gefallt mir gar nicht«, bemerkte Pascale sehr treffend.
Der Trupp hielt wenige Meter vor ihnen an. »Dr. Sylveste?«, lie? sich eine schwache Stimme durch den immer noch heftigen Wind vernehmen. »Wir haben leider schlechte Nachrichten fur Sie.«
Er hatte nichts anderes erwartet. »Worum geht es?«
»Der andere Schlepper, Sir — der schon am Abend abfuhr…«
»Was ist damit?«
»Er hat Mantell nicht erreicht, Sir. Wir haben ihn gefunden. Er wurde unter einem Erdrutsch begraben — auf dem Hohenzug hatten sich gro?e Staubmengen angesammelt. Die Leute hatten keine Chance, Sir.«
»Sluka?«
»Sie sind alle tot, Sir.« Der Regierungsvertreter sah mit seiner schweren Atemmaske wie ein Elefantengott aus. »Es tut mir sehr Leid. Ein Gluck, dass Sie nicht alle gleichzeitig losgefahren sind.«
»Das war nicht nur Gluck«, sagte Sylveste.
»Sir? Da ist noch etwas.« Der Soldat fasste sein Gewehr fester, mehr, um seine Autoritat zu demonstrieren, als um Sylveste damit zu bedrohen. »Ich stelle Sie hiermit unter Arrest, Sir.«
K. C. Ngs Stimme krachzte durch das Cockpit der Seilbahngondel wie das Summen einer gefangenen Wespe. »Findest du schon allmahlich Geschmack daran? An unserer schonen Stadt, meine ich.«
»Was verstehst du schon davon?«, fragte Khouri. »Ich meine, wann hast du zum letzten Mal einen Fu? aus diesem verdammten Kasten gesetzt, Kiste? Wahrscheinlich kannst du dich selbst nicht mehr daran erinnern.«