Er war naturlich nicht bei ihr — sein Palankin hatte in der Gondel unmoglich Platz gefunden. Die Gondel musste klein sein; so dicht vor dem Abschluss eines Auftrags durfte man keine Aufmerksamkeit erregen. So lange das Gefahrt oben auf dem Dach parkte, hatte es ausgesehen wie ein schwanzloser Helikopter mit teilweise eingerollten Rotoren. Doch an Stelle von Rotorblattern hatte die Gondel schmale Teleskopausleger mit Haken am Ende, die so stark gekrummt waren wie die Klauen eines Faultiers.

Khouri hatte die Gondel bestiegen, die Tur war zugefallen und hatte den Regen und die Dauergerausche der Stadt ausgesperrt. Sie hatte ihr Ziel genannt, das in den Tiefen des Mulch gelegene Denkmal fur die Achtzig, und der Wagen hatte kurz innegehalten, um unter Berucksichtigung der aktuellen Verkehrslage und der immer neuen Varianten in der Seilbahnfuhrung die optimale Route zu berechnen. Das Computergehirn dieser Gondeln war nicht besonders schlau und brauchte dafur seine Zeit.

Dann hatte sich der Schwerpunkt der Gondel leicht verlagert. Durch das obere Fenster der Knickflugeltur konnte Khouri beobachten, wie einer der drei Arme auf mehr als das Doppelte seiner ursprunglichen Lange ausgefahren wurde, bis die Klaue am Ende eines der Kabel uber dem Dach des Gebaudes zu fassen bekam. Ein zweiter Arm hakte sich in ein benachbartes Kabel ein, sie spurte einen jahen Sto?, und dann schwebten sie. Nur wenige Sekunden glitt die Gondel an beiden Kabeln entlang, dann entfernte sich das zweite so weit, dass der Arm es nicht mehr erreichen konnte und mit einem kaum merklichen Ruck loslie?. Bevor er jedoch herunterfallen konnte, schoss der dritte Arm heraus und fing ein neues Kabel ein, das zufallig ihre Richtung kreuzte. Wieder glitten sie eine Sekunde dahin, dann begann das Absacken und wieder Aufsteigen von neuem, bis Khouri ein vertrautes Unbehagen im Magen spurte. Es machte die Sache auch nicht besser, dass die Schaukelei offenbar keinerlei Regeln unterworfen war. Die Gondel schien sich die Route im Fahren zusammenzustellen und zum Gluck immer dann ein Kabel zu finden, wenn sie eins brauchte. Khouri suchte die Ubelkeit mit Atemubungen zu bekampfen und bewegte nervos die Finger in den schwarzen Lederhandschuhen.

»Zugegeben«, sagte Kiste, »ich habe mich den stadtischen Wohlgeruchen schon seit langerem nicht mehr ausgesetzt. Aber du solltest die Luft nicht kritisieren. Sie ist nicht ganz so schmutzig, wie es scheint. Die Filteranlagen gehorten zu den wenigen technischen Geraten, die auch nach der Seuche noch funktionierten.«

Nachdem sich die Gondel an den eng zusammengedrangten Gebauden der unmittelbaren Umgebung vorbei geschaukelt hatte, kam langsam ein gro?erer Bereich von Chasm City in Sicht. Man konnte sich kaum vorstellen, dass dieser Wald aus grotesk verkruppelten Bauwerken einmal die wohlhabendste Stadt in der Geschichte der Menschheit gewesen sein sollte; der Ort, an dem — fast zwei Jahrhunderte lang — der Strom von neuen kunstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften nie versiegt war. Inzwischen gaben sogar die Einheimischen zu, dass ihre Stadt bessere Tage gesehen hatte. Sie nannten sie ›die Stadt, die nie erwacht‹, und das war nicht unbedingt ironisch gemeint. Tausende von ehemals reichen Burgern lagen in Kryo-Krypten, um in der Hoffnung, diese Epoche sei nur ein Irrweg des Schicksals, im Kalteschlaf Jahrhunderte zu uberspringen.

Ganz Chasm City lag in einem naturlichen Krater mit einem Durchmesser von sechzig Kilometern. Innerhalb des Kraterrandes umschloss die Stadt wie ein Ring eine tiefe Spalte — den ›Abgrund‹, nach dem sie benannt war. Geschutzt wurde sie von achtzehn Kuppeln, die alles von der Kraterwand bis zum Rand des Abgrunds bedeckten. Die an den Randern miteinander verbundenen und hier und dort von Turmchen gestutzten Kuppeln erinnerten frappant an die Tucher, mit denen man nach dem Tod eines Wohnungseigentumers die Mobel abdeckte. In Chasm City hie?en sie das Moskitonetz, aber es gab dafur noch mindestens ein Dutzend weiterer Bezeichnungen in ebenso vielen Sprachen. Die Kuppeln waren lebenswichtig fur die Stadt, Yellowstones Atmosphare — ein eiskaltes Gebrau aus Stickstoff und Methan, mit langen Kohlenstoffketten gewurzt — ware sofort todlich gewesen. Zum Gluck schutzte der Krater die Stadt vor den schlimmsten Sturmen und den Springfluten aus flussigem Methan. Die hei?e Gasbruhe, die der Abgrund ausrulpste, lie? sich mit relativ billigen und einfachen Cracking-Anlagen zur Atmospharetransformation in atembare Luft verwandeln. Au?er Chasm City gab es auf Yellowstone noch eine Hand voll anderer, wesentlich kleinerer Ansiedlungen, doch die hatten allesamt viel mehr Muhe, ihre Biosphare aufrechtzuerhalten.

In der ersten Zeit auf Yellowstone hatte Khouri die Einheimischen immer wieder gefragt, warum man denn einen so unwirtlichen Planeten uberhaupt besiedelt habe. Auf Sky’s Edge mochten unaufhorlich Kriege toben, aber wenigstens konnte man dort ohne Kuppeln leben und brauchte die Atmosphare nicht aufzubereiten. Aber sie hatte bald gelernt, auch dann keine sinnvolle Antwort zu erwarten, wenn die Frage nicht als Unverschamtheit einer aufdringlichen Fremden aufgefasst wurde. Immerhin lag eines auf der Hand: zunachst hatte der Abgrund die Forscher angezogen, dann war ein fester Au?enposten entstanden, und der hatte sich zu einem Siedlerstadtchen entwickelt. Wilde Geruchte uber Reichtumer, die in den Tiefen des Abgrunds schlummern sollten, hatten Scharen von Verruckten, Glucksrittern und Traumern mit leuchtenden Augen angelockt. Einige waren enttauscht wieder abgezogen. Andere waren im hei?en, giftigen Atem des Abgrunds ums Leben gekommen. Doch einige wenige waren geblieben, weil die aufstrebende Stadt an diesem gefahrlichen Ort sie irgendwie fesselte. Ging man im schnellen Vorlauf zweihundert Jahre weiter, dann wurde aus der Hand voll Hutten… eine Gro?stadt.

Ein dichter Wald aus buckligen, ineinander verfilzten Gebauden erstreckte sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte, und verlor sich schlie?lich im Nebel. Die altesten Bauwerke waren noch mehr oder weniger intakt. Den rechteckigen Kasten hatte auch die Seuche nichts anhaben konnen, weil sie keinerlei Systeme zur Autoreparatur oder Umgestaltung besa?en. Dagegen muteten die modernen Bauten wie bizarre, auf den Kopf gestellte Holztrummer oder wie verkrummte alte Baume im letzten Stadium der Faulnis an. Ursprunglich waren es symmetrische Wolkenkratzer gewesen, die senkrecht in den Himmel ragten, doch dann hatte sie die Seuche zu ungezugeltem Wachstum angeregt, sie entwickelten knollenformige Geschwulste und krankhafte Wucherungen, die sich zu einem heillosen Wirrwarr verschlangen. Jetzt waren sie alle tot, in Formen erstarrt, die es geradezu darauf anlegten, Unbehagen zu verbreiten. Ringsum waren Elendsviertel entstanden, die unteren Etagen verschwanden in einem Gewirr von windschiefen Baracken und baufalligen Laden, in denen offene Feuer flackerten. Dazwischen bewegten sich winzige Gestalten. Fu?ganger und Rikschafahrer gingen auf Stra?en, die man willkurlich uber die Ruinen gelegt hatte, ihren zwielichtigen Geschaften nach. Kraftfahrzeuge gab es kaum, und was Khouri an Maschinen sah, wurde offenbar noch mit Dampf betrieben.

Die Slums krochen nie weiter als bis zum zehnten Stockwerk an einem Gebaude hinauf, dann brachen sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Daruber zeigten sich die Mauern der Hochhauser zwei- bis dreihundert Meter weit glatt und vergleichsweise frei von krankhaften Verformungen. In diesem Mittelbereich war die Stadt allem Anschein nach unbewohnt. Erst ganz oben hatten die Menschen wieder ihre Spuren hinterlassen: zwischen knorrigen Gebaudeasten klebten terrassenformige Gebilde wie Storchennester. Erleuchtete Wohnungsfenster und Neonreklamen verkundeten protzig den Reichtum und die Macht der Bewohner. Auf den Dachern montierte Scheinwerfer suchten die Umgebung ab und erfassten hin und wieder winzige Seilbahngondeln auf ihrer Fahrt zwischen den Stadtteilen. Die Gondeln suchten sich ihren Weg durch ein Netz aus feinsten Asten, das die Gebaude wie mit synaptischen Faden umspann. Die Einheimischen hatten auch fur diese Stadt uber der Stadt einen Namen: sie hie? der Baldachin.

Khouri hatte festgestellt, dass es in Chasm City niemals richtig Tag wurde. Die Stadt war in einer ewigen Dammerung gefangen, in der man sich nie richtig wach fuhlte.

»Kiste, wann kratzen sie denn nun endlich den Dreck vom Moskitonetz ab?«

Ng lachte leise, es klang, als wurden Kieselsteine in einem Eimer umgeruhrt. »Wahrscheinlich nie. Es sei denn, jemand hatte eine Idee, wie man den Dreck zu Geld machen konnte.«

»Und wer zieht jetzt uber die Stadt her?«

»Wir konnen uns das leisten. Wenn wir unseren Auftrag hier erledigt haben, kehren wir schleunigst auf die Karusselle mit ihren vielen schonen Menschen zuruck.«

»Die sich in Kasten verkriechen. Tut mir Leid, Kiste, aber diese Party schenke ich mir. Die Aufregung konnte mich toten.« Die Gondel fuhr jetzt dicht am abfallenden Innenrand der ringformigen Kuppel entlang, so dass sie in den Abgrund sehen konnte, ein tiefes Loch im Muttergestein. Die verwitterten Seitenwande wolbten sich zunachst nur kaum merklich abwarts, um dann senkrecht in die Tiefe zu sturzen. Viele Rohre fuhrten in die brodelnde Gaskuche hinab. Dort befand sich die Atmospharetransformationsanlage, die die Stadt mit Warme und Luft versorgte. »Wenn wir schon beim Thema sind… beim Thema Toten, meine ich — was sollte das mit der Waffe?«

»Glaubst du, du kommst damit zurecht?«

»Du zahlst und ich komme zurecht. Aber ich wusste gerne, womit ich es zu tun habe.«

»Wenn du Bedenken hast, solltest du mit Taraschi reden.«

»Er hat das Ding verlangt?«

Вы читаете Unendlichkeit
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату