Als sie die Halfte geschafft hatte, schwitzte sie und hatte Ruckenschmerzen. Sie legte eine kurze Pause ein, um sich zu sammeln und sich umzusehen; das Dauerarpeggio in ihrem Kopf bestatigte ihr, dass Taraschi sich nach wie vor in der Nahe befand.

Der obere Teil der Pyramide war dem Andenken an einzelne Angehorige der Achtzig gewidmet. Zu diesem Zweck hatte man Trennwande aus prachtigem schwarzem Marmor aufgestellt, die nicht ganz bis zur Decke des Schwindel erregend hohen Raumes reichten und mit Nischen versehen waren. Jede Nische wurde von Saulen umrahmt, die mit Figuren in anzuglichen Posen geschmuckt waren. Die Wande waren durch offene Rundbogen miteinander verbunden, versperrten aber nach allen Seiten auf etwa zwanzig Meter die Sicht. Durch etliche Locher in der dreieckigen Decke fiel sepiabraunes Licht in den Raum. Breitere Risse lie?en den Regen einstromen. Khouri sah, dass viele Nischen leer waren. Entweder waren die Schreine geplundert worden, oder die Angehorigen der beruhmten Opfer hatten die Andenken rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Nur etwa die Halfte war noch besetzt. Zwei Drittel davon glichen sich auffallend — sie enthielten in konventioneller Anordnung Bilder der Verstorbenen, Biografien und verschiedene Erinnerungsstucke. Es gab auch ausgefallenere Exponate wie Hologramme oder Busten. In einigen der Nischen waren gar die einbalsamierten Leichen der beruhmten Personlichkeiten zur Schau gestellt, ein grausiger Anblick, auch wenn ein geschickter Praparator sicher die schlimmsten Verwustungen durch den Tod beseitigt hatte.

Sie lie? die gepflegten Schreine in Ruhe und plunderte nur die offensichtlich verwahrlosten. Dennoch war ihr nicht wohl bei der Sache. Die Busten waren besonders gut zu gebrauchen — sie konnte sie gerade noch heben, wenn sie beide Hande unter den Fu? schob. Sie machte sich nicht die Muhe, sie an der Treppe ordentlich aufzustapeln, sondern lie? sie einfach fallen. Den meisten hatte man ohnehin schon die Edelsteinaugen herausgebrochen. Die lebensgro?en Statuen waren schwerer zu bewegen, sie konnte nur eine davon wegschieben.

Bald war die Barrikade fertig. Im Wesentlichen war es ein Schutthaufen aus abgeschlagenen Steinhauptern mit wurdevollen Gesichtern, die unberuhrt waren von der erlittenen Schmach. Der Berg war umgeben von Fu?angeln aus kleineren Grabbeigaben: Vasen, Bibeln und treuen Servomaten. Selbst wenn Taraschi versuchen sollte, den Haufen abzutragen, um die Treppe zu erreichen, wurde sie ihn mit Sicherheit horen und ware lange bevor er fertig war zur Stelle. Vielleicht sollte sie ihn sogar auf diesem Schadelhaufen toten, er erinnerte ein wenig an Golgatha.

Sie wartete schon die ganze Zeit darauf, dass irgendwo hinter den schwarzen Trennwanden schwere Schritte zu horen waren.

»Taraschi«, rief sie. »Machen Sie es sich doch nicht so schwer. Es gibt kein Entrinnen mehr.«

Seine Stimme klang unerwartet kraftig und selbstbewusst. »Sie irren sich, Ana. Wir sind schlie?lich hier, um zu entrinnen.«

Verdammt. Woher kannte er ihren Namen?

»Ihr Ausweg ist der Tod, nicht wahr?«

»So ungefahr.« Das klang belustigt.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Opfer noch in letzter Minute auftrumpfte, und sie fand diese Haltung bewundernswert. »Ich soll Sie also suchen. Mochten Sie das?«

»Warum nicht? Nachdem wir schon so weit gekommen sind?«

»Ich verstehe. Sie wollen etwas haben fur Ihr Geld. Ein Kontrakt mit so vielen Klauseln kann nicht billig gewesen sein.«

»Klauseln?« Der Ton in ihrem Kopf veranderte sich und wurde leicht ekstatisch.

»Die Waffe. Die Tatsache, dass wir allein sind.«

»Ach so«, sagte Taraschi. »Ja, das hatte seinen Preis. Aber ich finde, das Ende sollte sich in personlicher Atmosphare abspielen.«

Khouri wurde unruhig. Sie hatte sich noch nie mit einem Zielobjekt unterhalten. Normalerweise hatte die blutrunstige, tobende Menschenmenge, die von einem solchen Ereignis angezogen wurde, jedes Gesprach unmoglich gemacht. Sie brachte das Giftgewehr in Anschlag und ging langsam den Gang zwischen den Wanden entlang. »Warum ohne Zeugen?«, fragte sie. Sie konnte den Kontakt nicht abbrechen.

»Eine Frage der Wurde. Ich habe das Spiel gespielt, aber das ist kein Grund, in Schande zu sterben.«

»Sie sind sehr nahe«, sagte Khouri.

»Das ist richtig.«

»Und Sie haben keine Angst?«

»Naturlich habe ich Angst. Aber vor dem Leben, nicht vor dem Sterben. Ich habe Monate gebraucht, um so weit zu kommen.« Die Schritte verstummten. »Wie gefallt Ihnen dieser Ort, Ana?«

»Er konnte etwas mehr Pflege vertragen.«

»Aber ich habe eine gute Wahl getroffen, das mussen Sie zugeben.«

Sie bog um die Ecke. Ihr Zielobjekt stand neben einem der Schreine. Er wirkte unnaturlich ruhig, ruhiger beinahe als die Statue, die die Szene beobachtete. Sein prachtiger, burgunderroter Anzug — neueste Baldachin-Mode — hatte dunkle Flecken vom Innenregen, und das Haar hing ihm in unvorteilhaft nassen Strahnen in die Stirn. Er sah junger aus als ihre fruheren Opfer, entweder weil er wirklich junger war, oder weil er genugend Geld hatte, um sich die besten Langlebigkeitstherapien leisten zu konnen. Sie ahnte jedoch, dass die erste Erklarung die richtige war. »Wissen Sie noch, wozu wir hier sind?«, fragte er.

»Das schon, aber ich wei? nicht, ob es mir gefallt.«

»Tun Sie es trotzdem.«

Wie von Zauberhand bewegt, erfasste ihn einer der Lichtstreifen, die von der Decke fielen. Es war nur ein Moment, aber es genugte. Sie hob das Gewehr.

Und schoss.

»Gut gemacht«, sagte Taraschi. Sie horte keinen Schmerz in seiner Stimme. Er streckte eine Hand aus und stutzte sich an der Wand ab. Mit der anderen fasste er den Schwertfisch in seiner Brust und zog ihn heraus, als zupfe er sich eine Klette aus den Kleidern. Das Projektil fiel zu Boden, an seiner Spitze hing ein glitzernder Serumtropfen. Khouri wollte das Giftgewehr noch einmal heben, aber Taraschi wehrte mit blutiger Hand ab. »Nicht ubertreiben«, sagte er. »Ein Schuss sollte genugen.«

Khouri war ubel.

»Mussten Sie jetzt nicht tot sein?«

»Das dauert noch ein wenig. Einige Monate, um genau zu sein. Das Gift wirkt nur sehr langsam. Es lasst mir Zeit, daruber nachzudenken.«

»Woruber nachzudenken?«

Taraschi fuhr sich durch das nasse Haar und wischte sich die staubigen, blutverschmierten Hande an den Hosen ab.

»Ob ich ihr folgen will.«

Der Ton in Khouris Kopf riss so plotzlich ab, dass ihr schwindlig wurde und sie halb ohnmachtig zu Boden sank. Der Kontrakt war erfullt. Sie hatte gewonnen — wieder einmal. Aber Taraschi war noch am Leben.

»Das war meine Mutter.« Taraschi wies auf den nachsten Schrein, einen der wenigen, die sorgsam gepflegt waren. Die Frauenbuste aus Alabaster war vollig staubfrei, so als habe Taraschi sie kurz vor dem Treffen noch eigenhandig gesaubert. Die Haut war unversehrt, die Juwelenaugen waren noch vorhanden, kein Fleck, keine Schramme entstellte die aristokratischen Zuge. »Nadine Wengda Silva Taraschi.«

»Was ist mit ihr geschehen?«

»Sie hat das Scannen nicht uberlebt, das liegt doch auf der Hand. Die Zerstorung durch das Mapping war so rasant, dass die eine Halfte ihres Gehirns in Stucke gerissen wurde, wahrend die andere noch normal weiterarbeitete.«

»Das tut mir Leid — obwohl ich wei?, dass sie sich freiwillig gemeldet hat.«

»Keine Ursache. Sie hatte sogar noch Gluck. Kennen Sie die Geschichte, Ana?«

»Ich bin nicht von hier.«

»Nein; das habe ich gehort — Sie waren fruher Soldat, und dann ist Ihnen etwas Schreckliches zugesto?en. Nun, ich will nur so viel sagen. Das Scannen war in jedem Fall erfolgreich. Das Problem lag bei der Software, die die gescannten Informationen ubertragen sollte; damit sich das Zeit- und Erlebnisbewusstsein der Alphas, ihre Emotionen, ihr Erinnerungsvermogen — eben alles, was uns zu Menschen macht — weiterentwickeln konnte. Alles lief so weit gut, bis die letzten von den Achtzig gescannt worden waren — ein Jahr nach Beginn des Experiments.

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