Es verstand sich von selbst, dass die Biografie nicht Sylvestes Idee gewesen war. Die Anregung war vielmehr von einem Mann gekommen, von dem Sylveste das am allerwenigsten erwartet hatte. Es war vor sechs Monaten gewesen, bei einer der au?erst seltenen personlichen Begegnungen mit seinem Feind. Nils Girardieu hatte das Thema ganz beilaufig angeschnitten und sich uberrascht gezeigt, dass noch niemand daran gedacht habe, ein solches Werk zu verfassen. Funfzig Jahre auf Resurgam seien schlie?lich fast ein zweites Leben, und selbst wenn dieses Leben nicht gerade ruhmlich ende, so rucke es doch die Jahre auf Yellowstone in eine neue Perspektive. »Das Problem war«, sagte Girardieu, »dass Ihre fruheren Biografen zu wenig Distanz zum Geschehen hatten — sie waren zu sehr eingebunden in das gesellschaftliche Umfeld, das sie zu analysieren versuchten. Alle Welt war entweder von Cal oder Ihnen fasziniert, und die drangvolle Enge in der Kolonie machte es unmoglich, auf Abstand zu gehen und die gro?eren Zusammenhange zu sehen.«

»Wollen Sie behaupten, auf Resurgam ware es weniger eng?«

»Das naturlich nicht — aber wir haben zumindest den notigen Abstand, raumlich wie zeitlich.« Girardieu war ein untersetzter, kraftiger Mann mit wirrem, rotem Haar. »Sagen Sie selbst, Dan — wenn Sie an Yellowstone zuruckdenken, kommt es Ihnen da nicht manchmal vor, als habe das alles ein anderer erlebt, in einem langst vergangenen Jahrhundert?«

Sylveste blieb das spottische Lachen im Halse stecken, denn er war — ausnahmsweise — ganz einer Meinung mit Girardieu. Die Erkenntnis erschutterte ihn tief, sie verletzte sozusagen ein Naturgesetz.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie ein solches Projekt unterstutzen sollten«, sagte Sylveste und wies mit dem Kinn zu dem Warter hin, der das Gesprach uberwachte. »Es sei denn, Sie hoffen, irgendwie davon profitieren zu konnen?«

Girardieu hatte genickt. »Zum Teil — vielleicht ist das sogar mein starkstes Motiv, wenn Sie es genau wissen wollen. Es durfte Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, dass sie fur die Bevolkerung nach wie vor eine faszinierende Personlichkeit sind.«

»Auch wenn die meisten es besonders faszinierend fanden, mich hangen zu sehen.«

»Das ist zwar richtig, aber wahrscheinlich wurden sie Ihnen vorher die Hand schutteln wollen — um Ihnen dann auf den Galgen zu helfen.«

»Und diese Sensationslust wollen Sie ausschlachten?«

Girardieu hatte die Achseln gezuckt. »Naturlich entscheidet die neue Regierung, wer mit Ihnen sprechen darf — au?erdem befinden sich alle Ihre Aufzeichnungen und das Archivmaterial in unseren Handen. Das gibt uns einen gewissen Vorteil. Wir haben Zugriff auf Dokumente aus den Yellowstone-Jahren, von denen au?er Ihren nachsten Angehorigen niemand wei?, dass sie uberhaupt existieren. Wir wurden naturlich nur sehr vorsichtig Gebrauch davon machen — aber es ware doch toricht, sie zu ignorieren.«

»Ich verstehe«, sagte Sylveste, dem die Sache plotzlich sonnenklar war. »In Wirklichkeit wollen Sie mich mit dieser Biografie nur in Verruf bringen.«

»Wenn die Tatsachen ein so schlechtes Licht auf Sie werfen…« Girardieu vollendete den Satz nicht.

»Sie haben mich abgesetzt… reicht Ihnen das noch nicht?«

»Das ist neun Jahre her.«

»Was hei?t das?«

»Das hei?t, es ist so lange her, dass die Leute alles vergessen haben. Eine kleine Erinnerung ware durchaus angebracht.«

»Besonders, weil sich neue Unzufriedenheit breit macht?«

Girardieu zuckte zusammen wie unter einer unerhorten Taktlosigkeit. »Den Wahren Weg konnen Sie vergessen — glauben Sie ja nicht, er sei Ihre Rettung. Diese Leute hatten sich nicht damit begnugt, Sie einzusperren.«

»Na schon«, sagte Sylveste, den das Thema bereits langweilte. »Was springt dabei fur mich heraus?«

»Sie setzen einfach voraus, dass ich ein Angebot in der Tasche habe?«

»Normalerweise ja. Warum hatten Sie mir sonst davon erzahlt?«

»Vielleicht liegt es ja in Ihrem Interesse, uns zu unterstutzen. Naturlich konnten wir auch mit dem Material arbeiten, das wir an uns gebracht haben — aber Ihre Sicht der Dinge ware von Interesse. Besonders bei den weniger gesicherten Episoden.«

»Damit wir uns recht verstehen. Sie wollen, dass ich meiner eigenen Hinrichtung zustimme? Sie wollen zu Ihrem Rufmord nicht nur meinen Segen, ich soll auch noch Beihilfe leisten?«

»Es konnte sich fur Sie auszahlen.« Girardieu sah sich in der engen Zelle um und nickte. »Denken Sie an Janequin, dem ich gestattet habe, sich weiter mit seinen Pfauen zu beschaftigen. Auch bei Ihnen konnte ich mich flexibel zeigen, Dan. Zugang zu neuem Material uber die Amarantin; Verbindung zu Ihren Kollegen; Erfahrungsaustausch — vielleicht sogar hin und wieder ein Ausflug.«

»Feldstudien?«

»Das musste ich mir noch uberlegen. Etwas in diesem Rahmen…« Sylveste spurte plotzlich ganz deutlich, dass Girardieu ihm etwas vorspielte. »Gute Fuhrung ware zu empfehlen. Die Biografie ist bereits in Arbeit, aber Sie wurden erst in einigen Monaten gebraucht. In einem halben Jahr vielleicht. Ich schlage vor, wir warten so lange, bis Sie uns die Informationen geben, die wir brauchen. Sie werden naturlich mit der Autorin in Verbindung stehen, und wenn die Zusammenarbeit fruchtbar ist — was sie zu beurteilen hatte —, dann konnte man vielleicht daruber diskutieren, ob man Ihnen in begrenztem Rahmen auch Feldarbeit ermoglichen konnte. Wohlgemerkt, man konnte daruber diskutieren — das ist keine Zusage.«

»Ich kann meine Begeisterung kaum noch zugeln.«

»Nun, Sie werden wieder von mir horen. Noch irgendwelche Fragen, bevor ich gehe?«

»Nur eine. Sie sprachen von einem weiblichen Autor. Durfte ich fragen, um wen es sich handelt?«

»Um eine Verehrerin, deren Illusionen nur darauf warten durften, zerstort zu werden.«

Volyova arbeitete in der Nahe des Geschutzparks und dachte nur an Waffen, als ihr eine Pfortnerratte auf die Schulter sprang und ihr etwas ins Ohr flusterte.

»Besuch«, sagte die Ratte.

Die Ratten waren eine Spezialitat der Sehnsucht nach Unendlichkeit, etwas, das es moglicherweise auf keinem anderen Lichtschiff gab. Sie waren nur eine Spur intelligenter als ihre wilden Vorfahren, aber sie waren biochemisch mit der Befehlsmatrix des Schiffes verbunden, und das machte die einstigen Schadlinge zu brauchbaren Schiffsgenossen. Jede Ratte besa? spezielle Pheromonrezeptoren und - transmitter, uber die sie, in komplexen Molekulverbindungen verschlusselt, Befehle vom Schiff empfangen und Informationen ubertragen konnte. Sie ernahrten sich von Abfallen und fra?en buchstablich alles, was organisch und nicht niet- und nagelfest war oder noch atmete. Wenn die Nahrung in den Eingeweiden grob vorverdaut war, suchten sie bestimmte Schiffszonen auf und fuhrten ihre Ausscheidungen in Pillenform den gro?eren Wiederaufbereitungssystemen zu. Einige waren sogar mit einer Voicebox und einem kleinen Lexikon mit den wichtigsten Wendungen ausgerustet, so dass sie unter bestimmten biochemisch programmierten Bedingungen durch externe Stimuli zum Sprechen angeregt werden konnten.

Volyova hatte die Ratten so programmiert, dass sie ihr mitteilten, wenn sie menschliche Ruckstande wie abgestorbene Hautzellen und dergleichen verdauten, die nicht von ihr stammten. Auf diese Weise erfuhr sie sofort, wenn die anderen Besatzungsmitglieder aufwachten, auch wenn sie sich in einer ganz anderen Schiffszone aufhielt.

»Besuch«, quiekte die Ratte wieder.

»Schon gut. Ich habe verstanden.« Sie setzte den kleinen Nager auf das Deck und fluchte in allen Sprachen, deren sie machtig war.

Die Verteidigungsdrohne, die Pascale begleitet hatte, fing die Stress-Schwingungen in Sylvestes Stimme auf und kam surrend naher. »Sie wollen etwas uber die Achtzig erfahren? Das konnen Sie haben. Ich empfinde fur diese Menschen keine Spur von Bedauern. Sie wussten alle, worauf sie sich einlie?en. Au?erdem waren es nur neunundsiebzig Freiwillige, nicht achtzig. Die Leute vergessen bequemerweise, dass der achtzigste mein Vater war.«

»Das konnen Sie ihnen kaum verdenken.«

»Wenn Dummheit erblich ist, dann wohl nicht.« Sylveste versuchte sich zu entspannen. Es fiel ihm schwer. Irgendwann im Lauf des Gesprachs hatte die Miliz angefangen, Angstgas in den Luftraum unter der Kuppel einzuleiten. Nun war das Morgenrot mit schwarzlichen Flecken durchsetzt. »Horen Sie«, sagte Sylveste ruhig. »Die Regierung hat Calvin beschlagnahmt, als ich verhaftet wurde. Er kann sich fur seine Handlungen durchaus selbst

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