Es war nicht einfach gewesen — ihre Stimme ging fast unter im Rauschen der Luft, als sie die entsprechenden Anweisungen in das Armband schrie. Erst nach qualenden Augenblicken der Unsicherheit hatte das Schiff endlich Notiz von ihr genommen.
Doch dann hatte es — wie es sich gehorte — ihren Befehl befolgt.
Spater hatte sie Nagorny gefunden. Eine Sekunde bei zehn Ge ware unter normalen Umstanden nicht todlich gewesen. Aber Volyova hatte ihre eigene Geschwindigkeit nicht sofort auf Null reduziert. Sie hatte mehrere Versuche dazu gebraucht und Nagorny war mit jeder Schubumkehr zwischen Boden und Decke hin und her geschleudert worden.
Auch sie selbst hatte einiges abbekommen; beim Sturz war sie mehrfach gegen die Schachtwand geprallt und hatte sich ein Bein gebrochen, aber das war jetzt verheilt und sie hatte nur noch eine schwache Erinnerung an den Schmerz.
Sie hatte sogar daran gedacht, Nagornys Kopf mit der Laserkurette abzutrennen. Sie musste ihm den Schadel offnen, um die hochspezialisierten Implantate aus seinem Gehirn entfernen zu konnen. Die Implantate waren sehr empfindlich. Sie hatte sie mit komplizierten molekularen Interventionsverfahren selbst gezuchtet und wollte moglichst vermeiden, sie kopieren zu mussen.
Jetzt war es an der Zeit, mit der Operation zu beginnen.
Sie nahm den Kopf aus dem Helm und legte ihn in ein Bad aus flussigem Stickstoff. Dann fuhr sie in zwei motorisierte Handschuhe, die in einer Halterung uber der Werkbank schwebten. Blanke chirurgische Instrumente in Miniaturausfuhrung erwachten mit leisem Schwirren zum Leben und senkten sich herab, um Teile aus der Schadeldecke zu schneiden, die sich hinterher mit absoluter Prazision wieder einpassen lie?en. Doch bevor Volyova den Kopf wieder zusammensetzte, wollte sie Ersatzimplantate einpflanzen, damit sich — sollte er jemals untersucht werden — nicht sofort feststellen lie?e, dass sie etwas herausgenommen hatte. Sie musste ihn auch wieder am Korper befestigen — aber das war wohl kein allzu gro?es Problem. Wenn die anderen erfuhren, was mit Nagorny geschehen war — wenn sie ihnen ihre Version der Geschichte glaubhaft machen konnte — wurden sie wohl nicht auf einer allzu grundlichen Untersuchung bestehen. Nur Sudjic konnte Schwierigkeiten machen — sie und Nagorny waren ein Liebespaar gewesen, bevor Nagorny den Verstand verlor.
Doch diese Brucke wollte Ilia Volyova erst uberschreiten, wenn die Zeit dafur gekommen war — so hatte sie es immer gehalten.
Wahrend sie tief in Nagornys Gehirn eindrang, um sich zuruckzuholen, was ihr gehorte, machte sie sich erstmals Gedanken daruber, wer ihn ersetzen sollte.
Sicher niemand aus der derzeitigen Mannschaft.
Aber vielleicht fand sich vor Yellowstone ein geeigneter Kandidat.
»Kiste, wird es allmahlich hei??«
Die Stimme drang schrill und verzerrt von oben durch die Gebaudemassen. »So hei?, dass wir uns gleich die Finger verbrennen, liebes Kind. Halt durch und gib Acht, dass du keine Giftpfeile verschwendest.«
»Kiste, daruber wollte ich noch…«
Khouri sprang zur Seite, als drei Neue Komuso-Monche mit korbahnlichen Weidenhelmen auf dem Kopf an ihr vorbeimarschierten und ihre Bambusfloten — Shakuhachi genannt — so zackig schwangen wie die Majoretten ihre Taktstocke. Eine Horde Kapuzineraffchen stob auseinander und verschwand in den Schatten. »Ich meine«, fuhr sie fort, »wenn ich nun einen unbeteiligten Zuschauer treffe?«
»Ausgeschlossen«, sagte Ng. »Das Gift ist genau auf Taraschis Biochemie abgestimmt. Wenn du einen anderen Menschen auf diesem Planeten triffst, hat er hinterher nur eine hassliche Stichwunde.«
»Gilt das auch fur Taraschis Klon?«
»Haltst du fur moglich, dass er einen hat?«
»Ich frage ja nur.« Kiste war heute ungewohnlich nervos.
»Selbst wenn Taraschi einen Klon hatte und wir ihn versehentlich toteten, ware das immer noch Taraschis und nicht unser Problem. Das steht alles im Kleingedruckten. Solltest du mal lesen.«
»Bevor ich vor Langeweile umkomme«, sagte Khouri, »mache ich das vielleicht.«
Dann erstarrte sie, denn mit einem Schlag hatte sich alles verandert. Ng war verstummt, und statt seiner Stimme horte sie einen klaren, pulsierenden Ton, leise und unheimlich wie das Impulsecho bei der Anpeilung eines gro?en Raubtiers. Sie hatte diesen Ton in den letzten sechs Monaten ein Dutzend Mal gehort, jedes Mal hatte er sie darauf hingewiesen, dass sie sich in unmittelbarer Nahe ihres Zielobjekts befand. Das bedeutete, dass Taraschi nicht mehr als funfhundert Meter entfernt war. Sie durfte also getrost davon ausgehen, dass er sie im Innern des Denkmals erwartete.
Bei den letzten Zugen des Spiels war die Offentlichkeit zugelassen. Das wusste sicher auch Taraschi, denn ein identisches Implantat — eingesetzt in einer geheimen Klinik des
Die Tone beschleunigten sich nur ma?ig, als sie auf der Promenade unter dem Denkmal weiterging. Taraschi war wohl genau uber ihr — im Innern des Denkmals so dass sich die relative Entfernung zwischen ihnen nur langsam veranderte.
Die Promenade zeigte tiefe Risse. Sie lag gefahrlich dicht am Abgrund und der Untergrund hatte sich gesenkt. Ursprunglich hatte sich darunter ein Einkaufszentrum befunden, aber das hatte der Mulch erobert. Die untersten Etagen waren uberschwemmt. Aus dem karamellbraunen Wasser ragten stellenweise noch die Gehwege hervor. Das tetraederformige Denkmal stand hoch uber der Promenade und dem uberfluteten Einkaufszentrum auf einer kleineren, auf die Spitze gestellten Pyramide, die tief im Felsboden verankert war. Es gab nur einen Eingang. Das bedeutete, Taraschi war schon so gut wie tot, wenn sie ihn im Innern erwischte. Doch um zum Eingang zu kommen, musste sie eine Brucke uber das Einkaufszentrum uberqueren, und dabei konnte er sie von innen beobachten. Welche Urgefuhle mochten ihn in diesem Moment bewegen? Khouri traumte oft davon, wie sie von einem unerbittlichen Verfolger durch eine halb verlassene Stadt gejagt wurde, doch fur Taraschi war dieser Albtraum Wirklichkeit. Der Verfolger in ihren Traumen brauchte sich nie zu beeilen, fiel ihr plotzlich ein. Nicht zuletzt deshalb waren sie so unheimlich. Sie rannte aus Leibeskraften, die Luft war zah wie Gummi, und ihre Beine waren schwer wie Blei, aber der Verfolger bewegte sich mit einer Ruhe, die von unendlicher Geduld und Weisheit zeugte.
Die Tone wurden schneller, als sie die Brucke uberquerte. Der Boden war nass und rau. Manchmal verlangsamte sich das Signal und beschleunigte wieder, ein Zeichen dafur, dass Taraschi im Innern des Gebaudes umherging. An Flucht brauchte er jetzt freilich nicht mehr zu denken. Er konnte es vielleicht einrichten, dass sie auf dem Dach des Denkmals zusammentrafen, aber ein Flugzeug durfte er nicht benutzen, wollte er nicht gegen die Bedingungen des Kontrakts versto?en. Und mit dieser Schande in die Salons des
Sie betrat das Atrium im Innern der Stutzpyramide. Drinnen war es dunkel, und sie wartete, bis ihre Augen sich darauf eingestellt hatten. Dann zog sie das Giftgewehr aus dem Mantel und warf einen prufenden Blick zum Ausgang, fur den Fall, dass Taraschi auf die Idee kame, sich davonzustehlen. Sie war nicht uberrascht, dass er nicht da war. Das Atrium war fast leer, Plunderer hatten hier gehaust. Der Regen trommelte auf Metall. Sie blickte auf. Eine Schar rostiger, verbogener Skulpturen hing an Kupferdrahten von der Decke. Einige waren auf den Zementboden gefallen. Metallene Vogelflugel waren darin stecken geblieben. Sie waren mit wei?em Staub uberpudert, die Deckfedern wie mit Mortel verklebt.
Sie schaute nach oben.
»Taraschi?«, rief sie. »Horen Sie mich schon? Ich komme.«
Sie wunderte sich, dass die Leute vom Fernsehen noch nicht eingetroffen waren. So kurz vor einem Abschuss standen sie sonst unweigerlich mit Scharen von anderen Zuschauern dicht gedrangt um sie herum und klafften wie die Bluthunde.
Er hatte nicht geantwortet. Aber sie wusste, dass er sich irgendwo uber dieser Decke befand. Sie durchquerte das Atrium und stieg rasch die Wendeltreppe hinauf, die nach oben fuhrte. Dann sah sie sich nach Gegenstanden um, die sich noch bewegen lie?en, aber gro? genug waren, um Taraschi den Fluchtweg zu versperren. An beschadigten Exponaten und Mobeln herrschte kein Mangel. Sie begann, vor der Treppe einen Trummerberg aufzuschichten. Er wurde Taraschi den Ausgang zwar nicht vollig versperren, aber er ware ein Hindernis und das genugte.